Ein letztes Foto von Mirco und Silvio, die gerade noch rechtzeitig eintreffen. Dann fegt es auch schon die Müsliriegel und Kuchenstücke von den Papptellern. Flucht ins Innere, der Regen prasselt gegen die winzigen, hilflosen Fenster, Fensterladen schlagen krachend gegen die Hüttenwand. Der Wirt schlurft mürrisch die Stufen hinauf und bringt warmes Bier. Ich warte auf die Pistenkontrolle, die Bergrettung, auf ein Zeichen von oben oder von der Rennleitung, auf irgendwas! Völker der Welt! Merkt ihr nichts? Die Welt geht unter!
Drei weitere Läufer treffen ein, aufgelöst wie eine abgeleckte Briefmarke. Manfred ist fertig. Doch unglaublich, in 10,5 Stunden wird er mich von meinem momentanen 21ten Platz auf 22 verdrängt haben.
Eine Stunde später, es tröpfelt noch. Ich laufe als Erster los, gegen den Widerstand des Hüttenwirtes. Will den Platz halten. 19 Uhr, im Wald ist es schon dunkel, ab jetzt immer den Leuchtstäben nach.
300 Hm hinab nach Gscheid (= Grenze) einem Gebirgspass. An einem Wildgatter wecke ich Andrew, den Engländer aus Warschau. Er hat das Unwetter hier verbracht, ist fertig, nass, unterkühlt, unterzuckert. Schwierig zu beurteilen, was ich mit ihm machen soll. Er schafft es über den hohen Wildgatterzaun, doch wenig später im dunklen Aufstieg ist er verschwunden. Schlechtes Gewissen, wir sind alle an der persönlichen Grenze. Soll ich zurückgehen, braucht er Hilfe? Ich denke, hier ist gleich der CP! Ich entscheide mich für den alleinigen Aufstieg zum Hohenstein ( km 75, CP7). Was mache ich? Ignoriere ich die Leiden eines Hilfsbedürftigen, weil ich am Ende bin und nur mein eigenes Überleben sichern will?
Auf dem Singletrail mit nassen Kalksteinen reißt es mich zu Boden. Dort bleibe ich dann auch. Sanfte Regentropfen rinnen wie Tränen über mein Gesicht. Durch abgerissene Himbeersträucher schaue ich in die dunklen, wilden Wolken, dann fallen mir die Augen zu. Ende? Krachend reißt mich Donar aus dem Halbschlaf. Wie lange war ich weg?
Das Otto Kandler- Haus ist brechend voll. Als wäre ich ein Außerirdischer, so glotzen mich die Leute an, wie ich meine heiße Graupensuppe futtere. Ich bin der erste, und werde der einzige sein, der hier reinkommt. Das Klimpern der Gitarre übertönt das Pfeifen des Sturmes.
Sehr viel später erkenne ich, dass Mirco und Silvio vor der Hütte stehen. Ich muss los, meinen Platz verteidigen. Andrew ist da, will aufgeben. Aber er muss noch 800 hm hinab nach Schrambach (km 83, CP 8) von hier oben gibt es keinen Rücktransport. Warum macht er keine Pause, warum isst er nichts? Wir müssen doch alle überleben! Drohendes Wetterleuchten weit hinten am Firmament, dumpfes, drohendes Grollen.
Eisen- und Steinkohlebergwerke (bis 1963) flankieren den 8 km langen Abstieg. Silvio holt mich ein. Blitze zucken über unsere Köpfe. Eine Schlange bewegt sich über den Fuß des entsetzten Silvio. Bei jeder Wurzel und jedem Ast erkenne ich nun fiese Schlangen, die im fahlen Schein der Stirnlampe nach meine Füssen beißen. Dann bin ich allein. Warum? Was ist passiert? Wo ist Silvio? Ich weiß nicht mehr. Er ist weg.
Ein wunderschöner Fuchs mit weißer Schwanzspitze begleitet mich seit einiger Zeit. Ich habe mich verliebt und Angst, dass er Tollwut hat. Mir ist kalt am Rücken, aber er streunt sehr lieb um mich rum. Seine wundervolle Fellzeichnung leuchtet im nassen Wald. Joe, der mit dem Fuchs tanzt!
Kilometerweit begleitet er mich, mal ist er links, mal rechts, mal vor oder hinter mir. Irgendwie verbindet uns beide etwas, eine Freundschaft. Wir sind Streuner, Jäger und Gejagte. Sekundenlang halten zwei schöne Wesen die Luft an und starren sich gegenseitig in glühendem Augen an. Dann zeigt er mir die kalte Schulter und seine farbenfrohe Zeichnung verschwindet aus der Reichweite meines Scheinwerfers. Trauriger Verlust eines Freundes aus einer anderen Welt, vielleicht besser so.
Er wird von anderen glühenden Augen abgelöst. Marderartige ducken sich schnell, erscheinen wie Puppen popartig an anderer Stelle des Wiesenvorhanges. Katzen bleiben glotzend stehen, Rehe verschwinden geräuschvoll, Böcke blöcken laut, schlagen mit ihren Hörnern angeberisch gegen Bäume. Fledermäuse jagen Flattermänner in meinem Lichtkegel, eine Eule fliegt einen Scheinangriff. Mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Wäre ich nicht trainierter Nachtläufer, so wären die Hosen jetzt nicht nur schweißnass.
Überall die glühenden Augen, doch wann sah ich den letzten Leuchtstab? Andrew? “A N D RE W !” brülle ich dem einäugigen Stirnlampengeist hinterher, der völlig weg ist von dieser Welt, wortlos, still und aufgelöst wie der fliegende Holländer an mir verbeischwebt und fröstelt im ewigen Wald verschwindet.
“W I L S O N !” so brüllte Tom Hanks dem Volleyball bei “Cast Away” hinterher.
“A N D R E W ! “Komm zurück! Lass mich nicht allein! Komm zurüüück!”
War das der weiße Reiter, von dem die Leute hier erzählen, er würde um Mitternacht nach Menschenfleisch suchen? Bin nicht gut drauf. Anruf bei der Leitstelle: “Wo bin ich? Wilson ist weg!” Entweder der Sturm oder irgendwelche Witzbolde haben die Markierungen und Andrew und Wilson entfernt! Holt mich ab, es ist stockdunkel!
CP 8 erreicht. Andrew lebt. Trockene Klamotten aus meinem Dropbag. Mirko und Silvio sind auch da. Hab die Schnauze voll, will jetzt schnell, alleine und einsam diesen Kampf beenden. Bei Bauernhöfen gibt es kreisrunde Jauchebehältnisse. Aus so einem leeren Ding kommen grausige, schlagende Geräusche. Wenn du so einsam
durch das Land läufst, dann wird dir schon anders, wenn du sowas hörst. Ein Blick in die schwarze Grube, da wird mir grottenschlecht: Ein Rehbock, der gegen die Betonarena anrennt. Es ist Brunftzeit und er ist der Loser. “W I L S O N !” der Hof ist menschenleer, beschissenes Gefühl, ich muss weiter, will nicht selbst Opfer werden.
CP 9 wird angekündigt: “111 m bis zur Labestelle”
“Siehst du dort oben die Knicklichter? Ja! Dort oben!” Kaiserkogl, im Weltkrieg schwer umkämpfter, direkter Frontverlauf. Ein grausiger Ort. Hunde heulen in der Ferne. Wenn hier jemand die Leuchtstäbe entfernt, dann hilft nur “114”, die Bergwacht, oder “112” die europaweite Notrufnummer. Aber was ist, wenn der Akku leer ist? Keine Panik, es gibt eh keinen Empfang hier.
Die Kaiserkoglhütte ist geschlossen, wird von “Attila” geführt. “Eiserner Adler” so wird die Mariazellerbahn (1896) genannt. Die imposanteste Stelle der Streckenführung sind “Die Zinken”, mit den bizarren Abgründen. 1420, 1474 und 1532 machten die Türken Mariazell platt. 1679 besuchte Kaiser Leopold die Gnadenmutter, in seinem Gefolge ein pestinfizierter Kammerdiener, danach waren alle Einwohner tot.