Auf dem Philosophenweg schlendere ich durch den Küstenwald und werde von geistigen Erwägungen durchdrungen: Bin ich richtig vorbereitet? Wird mein angeschlagenes Schienbein halten? Der Respekt vor dem Marathon ist nachhaltig da, obwohl ich die Strecke doch schon einige Male geschafft habe.
Der Küstenwald verbindet als grüne Lungen die Ortsteile Müritz und Graal. Beide Orte fanden im Mittelalter als Fischer- und Büdnereiorte ihren Ursprung und wurden 1938/39 zusammengelegt. Im 19. Jahrhundert hatte der Badebetrieb eingesetzt, seit dem 20. Jahrhundert siedelten sich Erholungsheime und Kliniken an und bis heute Hotels, Pensionen, Ferienwohnungen.
In der Tat hat das rund 4 000 Einwohner zählende Ostseeheilbad vieles zu bieten was der Erholung suchende Patient oder Gast wünscht. Die Mischung von See- und Waldluft ist ideal. Denn Graal Müritz liegt nicht nur an der strandsandigen Ostseeküste, sondern wird auch noch von großflächigen Wald- und Moorgebieten eingerahmt. Attraktiv ist dabei die geographische Nähe zur Hansestadt Rostock und zum Fischland Darß.
Graal Müritz bedeutet Ort des Gral am Meer gelegen. Das lässt etwas Heiliges und Pompöses vermuten. Wir waren aber positiv überrascht, denn im Vergleich mit einigen anderen Ostseebädern kommt Graal Müritz weniger zugebaut und aufgesetzt daher, sondern eher gemütlich, normal und recht weitläufig. Als touristischer Anlaufpunkt mag in erster Linie die seit 1993 bestehende und 350 Meter ins Meer ragende Seebrücke gelten. Drum herum ein paar Cafés und Buden, an der Straße Zur Seebrücke einige Geschäfte.
Ich bin im Ortsteil Graal angelangt und gehe durch eines der Tore in den Rhododendron-Park. Der Park wurde 1955 – 1960 angelegt und ist heute das Zentrum für den fünften Dünenläufer. Vor rund sieben Jahren setzte die Tourismus- und Kur GmbH um ihren damaligen Direktor Dr. Bernd Kuntze die Idee um und schuf mit einer Laufveranstaltung eine zusätzliche Attraktion für den Ort. Die Veranstaltung wird als drei Tageevent beworben und begann am gestrigen Freitag mit der Startnummernausgabe und Nachmeldemöglichkeit im Pavillon des Rhododendronparks. Samstag ist Lauftag und Sonntag werden ein Cool-Down-Lauf an der Küste und eine geführte Wanderung durch die Rostocker Heide angeboten.
Am Freitagabend fand zudem im Haus des Gastes die Pastaparty statt. Neben ein paar offiziellen Worten wurden der Streckenverlauf und die Besonderheiten der Veranstaltung moderiert. Als Clou laden die Graal Müritzer zu jedem Dünenläufer eine besondere Läuferpersönlichkeit ein, die sich nach dem Essen präsentiert. Der erfolgreiche Ultraläufer Florian Reus steht seit drei Jahren in den Startlöchern. Nach zwei Corona bedingten Ausfällen der Veranstaltung ist der Würzburger nun an die Ostsee gekommen, um einen Vortrag zu halten, eine Weinprobe anzubieten und den Marathon mitzulaufen. Beindruckend sein Leistungsvermögen und seine Erfolge schon als junger Läufer: u.a. mehrfacher Deutscher Meister im 24 Stundenlauf, Sieger des legendären Spartathlon (246 km von Athen nach Sparta).
Eine von Florians Säulen zum Erfolg ist die Demut. Ach ja, Demut spüre ich jetzt vor dem Marathonstart auch. Doch angesichts der Mitläufer und der lockeren Moderation im Rhododendron-Park wird sie von der Vorfreude auf das Ereignis verdrängt. Dabei sind nicht mal 30 Marathonläufer am Start. Die meisten Läufer ziehen die 24 Kilometer vor. Einige Teilnehmer nutzen auch den Paarlauf, bei dem sich zwei Läufer den Marathon teilen. Gestartet werden die drei Läufe gemeinsam um 10:00 Uhr. Später starten noch ein 9 Kilometer langer Erlebnislauf und der 5 mal 3,5 Kilometer lange Dünenläufer Staffellauf.
Zum Einstieg laufen wir auf einer Ehrenrunde durch den Park hinter der Rhododendron-Königin Annemarie 2. her. Erst danach der scharfe Start. Wir preschen förmlich durch das Tor und aus dem Park hinaus. Nach ein paar Haken laufen wir über das Ostseecamp Rostocker Heide, ein schöner Campingplatz unter den Bäumen direkt vor den Dünen und der Ostsee gelegen. Danach empfängt uns schon ein Farnumsäumter Trail und wir tauchen ein in die Rostocker Heide. Diese ist das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet an der deutschen Ostseeküste. Zahlreiche Wege laden zum Lauftraining ein. Doch Vorsicht, man kann sich ordentlich verlaufen. Es ist ratsam den ausgeschilderten Wegen zu folgen oder auf eigene Navigation zu setzen. Heute ist das kein Problem. Wir müssen nur den roten Flatterbändern an den Bäumen und den roten Pfeilen auf dem Boden folgen.
Die Waldwege sind meist recht gut zu belaufen. Hin und wieder ein paar Wurzeln, Pfützen und Senken, Pferde- und auch Wildschweinkuhlen. Und eine angenehme windgeschützte Landschaft. Pilzsammler kommen zu dieser Jahreszeit voll auf ihre Kosten. Für uns Läufer ergibt sich der ein oder andere Plausch. Für Agate aus Lübeck ist der 24 Kilometerlauf die nächst höhere Hürde nach dem Halbmarathon auf dem Darß im Frühjahr. Vielleicht folgt dann auch mal der ganze Marathon!?
Nach 12 Kilometern laufen wir über einem Schilf umsäumten Weg und kommen nach Markgrafenheide. In dem vor den Toren Rostocks gelegenen Ort drehen wir eine Runde durch eine Ferienhaussiedlung. Unsere Laufrichtung ändert sich dabei von Südwest auf Nordost. Jetzt kommen uns nicht mehr die schnelleren, sondern die langsameren Läufer entgegen. Bald brechen wir auf anderen und weiter östlich gelegenen Wegen in die Rostocker Heide ein, werden aber sicher nach Graal Müritz zurückgeführt.
Nach gut 24 Kilometern sind wir wieder im Rhododendron-Park und die Dünenläufer 1/2 sind im Ziel. Wir anderen drehen eine Runde durch den Park, die Paarläufer wechseln einander ab und es läuft wieder durch das Tor hinaus.
Jetzt ein paar Kilometer auf der gepflasterten und insgesamt 6 Kilometer langen Strandpromenade weiter Kurs Nordost. Und um mich herum wird es einsam. Aber im Kopfkino spule ich die Kilometer ab, es werden ja weniger. Und zur linken grüßen und beruhigen die leise brandenden Ostseewellen, ja, es grüßen und applaudieren auch einige Passanten. Bald läuft es auf befestigtem Naturweg unter Bäumen weiter parallel zur Ostsee nach Neuhaus bei Dierhagen. Ich biege rechts ab, laufe im einsetzenden Regen über eine Wiese und komme im Naturschutzgebiet Großes Ribnitzer Moor an.
Das Hochmoor ist etwa 6 000 Jahre alt und ein wahres Biotop. Hier leben Pflanzen und Tiere, die es an anderen Orten längst nicht mehr gibt. Das ausgeschilderte Wegenetz sollte man nicht nur aus Naturschutzgründen nicht verlassen, sonst kommt man vielleicht nicht mehr aus dem Moor heraus. Auch das Moor ist dicht bewaldet und so einige Trails zwingen mich das Lauftempo zu drosseln. Jetzt, nach über 30 Kilometern, wo der Marathon ohnehin anfängt wehzutun, sind der gefurchte Reitweg und die Sandpassage hier und da eine Herausforderung. Ja, der Dünenläufer hat trotz der wenigen Höhenmeter das Merkmal Anspruch verdient.
Das Streckenposten- und Helfernetz ist beim Dünenläufer zudem echt lobenswert. An bald jeder Abzweigung steht mindestens ein freundlicher und anfeuernder Posten, was vor allem auf dem letzten Drittel der Strecke guttut. Genau wie die Verpflegung. Die ist zwar nicht so üppig wie beim Rennsteig, aber mit Wasser, Cola, Limonade und Iso-Getränk, mit Äpfeln, Bananen, mit Butterkeksen und Salzstangen kommt der Marathoni über die Runden. Eine Empfehlung: vielleicht sollten die veganen Energieriegel, die es im Zielgebiet gab, künftig schon auf den letzten 20 Kilometern der Marathonstrecke angeboten werden.
Nach 39 Kilometern bin ich aus dem Moor heraus und beim letzten Verpflegungspunkt wieder auf der Strandpromenade angelangt. Es läuft zurück nach Graal-Müritz. Der Regen hat sich verzogen, die Sonne scheint und die leichte Brise schräg von vorn ist angenehm. Aber jetzt sind es nicht mehr nur 3, sondern noch 4,5 Kilometer bis ins Ziel. Denn auch auf diesem Anspruch legen die Organisatoren wert; eben ein Stück länger als 42,195 Kilometer zu sein. Immerhin wird an der Marathonmarke auf Höhe der Seebrücke die Zwischenzeit genommen.
Die letzten 1,5 Kilometer schafft der gestandene Marathoni auch noch. Nach dem Zieleinlauf im Rhododendronpark darf dann auch ich mit dem Tau die Schiffsglocke zum Läuten bringen und mich Dünenläufer nennen. Als Zielverpflegung gibt es neben Schmalz- auch vegane Humusstullen. Nach dem Imbiss und einigen Smalltalks geht die Siegerehrung pünktlich los. Die Laufzeiten der drei Erstplatzierten können sich hören und ihre Präsente können sich sehen lassen. Das Siegerpodest besteht aus drei originellen Baumstümpfen. Namen und Zeiten der Sieger werden auf einer Tafel neben dem Pavillon für immer verewigt.
Wer Landschaftsläufe mag, sollte den Dünenläufer ruhig einmal ausprobieren. Ein paar Stammläufer auch aus weiterer Entfernung hat er schon. Mit gesamt gut 200 Teilnehmern gehört die Veranstaltung zu den kleineren. Die Hauptläufe sind aber bewusst auf maximal nur 500 Teilnehmer limitiert. Vor allem der Marathon kann mehr Starter vertragen. Hier gibt es ein sportliches Zeitlimit von 5h.30min. Das dürfte den ein oder anderen langsameren Marathoni abschrecken, zumal die Strecke etwas länger ist.
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Es fehlte, zumindest in diesem Jahr, eine Passage am Strand, wobei man ja auch die Düne zweimal rauf und runter laufen müsste. Ich denke, das dürften die meisten Teilnehmer hier erwarten. Das Onlineportal des Dünenläufers ist sehr ansprechend, die Zeitnahme erfolgt elektronisch, Starterbeutel und Medaille sind sehr nett, ein Finishershirt kann erstanden werden, Duschmöglichkeit und Gepäckaufbewahrung sind vorhanden.
Der Dünenläufer ist eine rundum gute und liebevoll organisierte Veranstaltung. Graal Müritz ist eine Mehrtagesreise wert. Wir haben es genossen, wobei der Dünenläufer schuld daran war, dass wir unseren Urlaub hier verbrachten.
Zuletzt ein Tipp für Ausgleichssport und zur Regeneration: Das „Aquadrom“ in der Nähe der Seebrücke bietet unter anderem Schwimmmöglichkeiten auf 25 Meter Bahnen in 25 Grad warmen Meerwasser und heiße Saunagänge an.