Paris und Trail scheinen ziemlich unvereinbar zu sein. Egal mit wem man redet, alle sehen in der Stadt an der Seine ausschließlich die Metropole. Wenn man ihnen erzählt, dass man auf Wurzelwegen und schmalen Pfaden in die Hauptstadt laufen kann, sind die Leute baff erstaunt.
Denen empfehle ich dann immer einen Blick auf eine Landkarte, erwähne das Schloss Versailles mit seinen großzügigen, ehemals königlichen Jagdwäldern im Umfeld und weise darauf hin, dass es in dieser Gegend noch mehr prachtvolle Schlösser, Parks und Freizeitwälder gibt und schon sind die Zweifler überzeugt. Ein weiterer Knackpunkt sind dann die 1.500 Höhenmeter. Nun – Höhenmeter kann man mit wenigen, sehr langen Anstiegen machen, oder, wie in Paris, mit vielen kurzen (27, ich habe sie gezählt), von denen die meisten dazu noch ziemlich knackig sind.
Zum fünften Mal stehe ich am Samstagvormittag mit Angelika in der RER-Station „Champ de Mars Tour Eiffel“ und warte auf den Zug, der uns nach Saint-Quentin-en-Yvelines bringt. Dort übernehmen dann Pendelbusse den Transport zum Startgelände auf dem Pferdepark außerhalb der Stadt. Alles funktioniert wie immer, nur habe ich den Eindruck, dass diesmal weniger Läufer am Start stehen. So kann man sich täuschen! Rekordteilnehmerzahlen entnehme ich der Ergebnisliste und finde 2.087 Starter, beinahe 200 mehr als im Rekordjahr 2011, mit damals 1.894 Teilnehmern.
Wie immer Gedränge am Verpflegungsstand, jeder will noch ein paar Stücke Kuchen ergattern und einen Kaffee oder Saft. Dann noch schnell die Wechselkleidung abgegeben, den Reden zugehört – natürlich ohne ein Wort zu verstehen - und Punkt 12.15 Uhr geht es los.
Der Trail in Paris ist ein sogenannter „teilautonomer Lauf“, was schlicht bedeutet, dass man Getränke und Verpflegung mit dabei haben muss, denn es gibt lediglich drei Verpflegungsstationen bei Kilometer 23, 58 und 70 und bei Kilometer 46 eine Wasserstelle. Als ich 2014 das letzte Mal hier gelaufen bin, bei bestem Wetter und mit viel Sonne, wurde mir die Bedeutung des Wassers schmerzhaft bewusst. Meine damals zwei Flaschen mit 1,2 Liter Wasser haben nicht ausgereicht und ich kam an jeder Station durstig an; das kann böse ins Auge gehen.
Diesmal habe ich größere Flaschen dabei. Es hat durchgängig 11-12 Grad, auch noch um Mitternacht. Es ist bewölkt und lediglich der stellenweise böige Wind stört immer wieder. War ich die Woche zuvor beim Marathon in Kandel noch saft- und kraftlos, fühle ich mich heute zum „Bäume ausreißen“. Es läuft richtig gut, auch wenn ich gleich zu Beginn (Fotopausen) niemanden mehr hinter mir habe. Das aber wird sich geben und einige Kilometer später bin ich tatsächlich auch mitten zwischen Läuferinnen und Läufern.
Mein Plan ist klar: Die erste Etappe bis zur Verpflegungsstation in Buc (km 23) will ich schnell laufen. Es ist auf den ersten 10 Kilometern recht eben, erst danach kommen vier An- und Abstiege, aber moderat, wie ich aus der Erinnerung heraus wusste. Auf diesem Streckenabschnitt kann man ein Zeitpuffer herauslaufen. Das Zeitlimit bis hierhin sind 3h30. Geplant habe ich 3 Stunden, geschafft habe ich dann 2h50 und das trotz des 4-Minuten-Staus vor der Brücke in Saint-Quentin-en-Yvelines! Prima, ich bin zufrieden. Flaschen auffüllen, etwas trinken, noch eine Hand voll Nüsse und Rosinen essen, ein paar Schokoladerippchen und sieben Minuten später sind wir wieder unterwegs.
Man glaubt es kaum, aber an diesem VP beenden 101 Läufer das Rennen, wir liegen jetzt auf Position 2045!
Dieser erste Abschnitt ist sozusagen der leichte Einstieg, die nächsten 23 Kilometer werden schwer, insgesamt 13 Anstiege sind zu bewältigen, insgesamt etwa 600 Höhenmeter. Wir sind gefühlt immer mitten im Feld, jede Menge Läuferinnen und Läufer vor, hinter und neben uns. Das gibt Sicherheit. Vor allem werden wir nicht „durchgereicht nach hinten“, sondern es sind eigentlich immer dieselben Läufer in Sichtweite, manchmal überholen wir den einen oder anderen. Das Wetter ist bestens, das Tempo stimmt, die Steigungen nehmen wir im Gehschritt mit Hilfe der Hände auf den Oberschenkeln, flache Abschnitte und Gefälle werden gelaufen. Der Untergrund ist recht moderat. Aber wie es so ist, unaufmerksam darf man nicht werden - zack, liege ich auf dem Boden. Zuvor bin ich schon x-mal über eine Wurzel oder einen Stein gestolpert, diesmal kann ich mich nicht abfangen. Zum Glück ist der Waldboden weich und ich habe keinerlei Blessuren zu beklagen.
Bei unserer ersten Teilnahme in 2011 liefen wir sozusagen den ganzen Trail „blind“, man findet nicht eine einzige Kilometerangabe unterwegs. Meinen Garmin hatte ich auch nicht dabei und war daher ziemlich orientierungslos, was die Entfernungen betraf. Dabei sind doch eindeutige Zeitlimits für die vier Stationen vorgegeben. Nun ja, es ging gerade noch gut aus, die Stationen schafften wir jeweils ganz knapp in der Zeit und trotz der sechs Minuten Verspätung oben auf dem Eiffelturm, wurden wir noch gewertet. Das passiert mir heute nicht, dank GPS sind wir stets bestens informiert und auch das zuvor berechnete Tempo halten wir ein. Tatsächlich kommen wir sogar 12 Minuten vor der geplanten Zeit an der Wasserstelle beim Schloss Meudon (km46) an. So kann es weiter gehen!
Hier steigen weitere 88 Teilnehmer aus dem Rennen, wir haben uns um 160 Positionen auf Platz 1885 vorgearbeitet.
Also nur kurz trinken, Wasserflaschen auffüllen, einen Riegel und ein Gel aus dem Rucksack holen und fünf Minuten später sind wir wieder auf der Strecke, Angelika wie immer vorneweg, ich hinterher. Der Zeit könnte es noch Bestzeit geben! So schnell waren wir bislang noch nie. Bester Stimmung geht es also weiter.
Dabei ist es gar nicht selbstverständlich, dass ich heute auf der Strecke bin. Als wir am Vortag aus dem Zug stiegen, war mir das Verhängnis noch nicht bewusst. Erst eine Stunde, viele Metro-Stationen später und kurz vor unserem Hotel bekam ich Panik – wo sind meine Startunterlagen? Die hatte man sich dieses Jahr zum ersten Mal per Post vorab zuschicken lassen können, ein feiner aber verhängnisvoller Service. Zugfahrschein, Startunterlagen, Hotelbuchung – alles lag in einer Klarsichthülle im Zug, der sicher längst aus dem Bahnhof verschwunden war. Nur ruhig, die Franzosen sind Meister der Improvisation. Auf der Messe melde ich mich an der Info, radebreche meinen Fall in Französisch und Englisch. „Kein Problem, wir geben Dir neue Startunterlagen.“ Wenige Minuten später ist alles geregelt. Uff!
Nur etwa 10 km sind es bis zur nächsten Verpflegungsstation, die aber haben es in sich! Vier Anstiege mit zusammen 250 Höhenmetern sind zu überwinden und die sind meist genauso steil, wie befürchtet. Dazu kommt, dass es jetzt dunkel wird. Trotz guter Stirnlampe werden wir langsamer. Ich bin einfach nicht mehr so sicher unterwegs, wie noch vor fünf Jahren. Der Untergrund macht mir zu schaffen, die heimtückischen Stolperfallen flößen mir Respekt ein. Kurz und gut, wir nehmen Tempo raus, das Fotografieren lasse ich sein, die Bestzeit will ich noch schaffen. Dabei kommen auf diesem Abschnitt die mit Abstand anstrengendsten Anstiege.
Aber es ist zu anspruchsvoll und der Körper zu keiner Steigerung mehr fähig. Also gilt es jetzt nur noch, nicht nachzulassen. Die Strecke ist bestens markiert mit reflektierenden Bändern, der Wegeverlauf durch dunkle Wälder und Parks immer problemlos. Auch die vielen Leute um uns herum geben Sicherheit. Schlussendlich sind wir am VP Chaville (km 56) zwölf Minuten langsamer als geplant.
Im Vergleich zur Verpflegungsstelle bei Kilometer 23 in Buc, ist diese noch reichhaltiger bestückt. Neben Rosinen, Erdnüssen, Käse, Salami, Kräcker, Kuchen, Cola, Wasser gibt es auch Nudelsuppe mit Brot. Entsprechend lang ist unsere Pause, bevor es weiter geht.
Insgesamt steigen hier 48 Trailer aus – keine Option für uns, denn für die restlichen 23 Kilometer bis ins Ziel bleiben uns mehr als vier Stunden. Wieder haben wir uns verbessert, diesmal um 74 Positionen auf Platz 1811.
Weiter, es wird ja jetzt einfacher, meint Angelika. Leider kann ich ihr da nicht zustimmen. Laut meiner Marschtabelle kommt die nächste Verpflegungsstelle zwar nach knapp 11 Kilometern, aber es liegen auch fünf Anstiege mit 280 Höhenmetern dazwischen.
Also schlurfe ich ergeben hinter Angelika her. In der Tat, die Anstiege haben es wieder in sich. Gefühlt sind es die anstrengendsten und steilsten. Abwärts geht es glücklicherweise recht moderat, aber rustikal. Also langsam tun und aufpassen. Natürlich werden wir jetzt ein paar Mal überholt. Aber beim nächsten Anstieg können wir die Scharte wieder auswetzen.
Zwei Mal laufen wir durch Ortschaften – Chaville und Ville d‘Avray – bis wir dann im Schlosspark St. Cloud zur letzten Verpflegungsstation kommen. Schlosspark hört sich gemütlich an, aber auch da haben die Organisatoren ein paar Anstiege gefunden.
Schlussendlich sind wir am VP St. Cloud (km 68), aber schon wieder sind 10 Minuten vom Bestzeitenpuffer weg, die Sub-zwölf-Stunden kann ich mir abschminken. Egal. Hauptsache das Zeitlimit wird nicht zum Thema. Sieben Aussteiger sind es hier nur noch und wir haben uns um 58 Positionen auf 1753 vorgeschoben.
Nur noch 10,5 Kilometer, abwärts und dann der Seine lang. Eine leichte Übung! Also los, 1h30 hatten wir dafür sonst benötigt. Schlurf, schlapp, gehen, joggen, das wäre ja gelacht. Donnerwetter, was ist das, warum überqueren die vor uns die Straße nach rechts? Da geht es doch aufwärts. Tatsächlich machen wir hier einen Umweg von mehr als einem Kilometer mit einem grandiosen Aufstieg. Neben mir joggt ein Läufer ganz locker vorbei und zieht dabei seinen Kumpel an der Hand hinter sich her. Wo ist mein Kumpel? Angelika läuft 20 Meter vor mir den Berg hoch, also muss ich alleine kämpfen.
Zehn Minuten später sind wir wieder unten auf Flussniveau und dann ist es so wie immer: Dem Kai entlang, vorbei an den Restaurantschiffen, den Nachtschwärmern, den Liebespaaren und Flanierern und dann endlich die Treppen vom Kai hoch zur Straße, diese überquert und geradewegs auf den Eiffelturm zu. Und jetzt?
Gelesen hatte ich es schon in der Zeitung, der Zugang zum Turm ist abgesperrt, Besucher werden nur noch durch eine Schleuse eingelassen. Statt geradewegs zum Eingang zu laufen, werden wir ganz außen rum geführt, bis wir endlich am hintersten Turm-Fuß sind. Da heißt es dann Rucksäcke abnehmen zur Sicherheitsüberprüfung, wieder aufsetzen, festschnallen und endlich die Treppen hoch zum Ziel auf der ersten Etage laufen: 12:28:40, dreißig Minuten von der Bestzeit entfernt, aber glücklich! Wieder mal geschafft.
Dieses Jahr feierte der Lauf sein 10jähriges Jubiläum, wir nahmen seit 2011 zum fünften Mal teil und vor dem Lauf war ich mir sicher, dass das meine letzte Teilnahme sein wird. Zu alt, zu schlapp, zu komfortbedürftig! Aber nach dem ersten Bier auf dem Turm, dem Finisherfoto und der Fahrt im Aufzug nach unten komm mir die frivole Idee, im nächsten Jahr nochmal anzutreten. Wir werden es sehen.
Was mich im Nachhinein wundert: Lediglich 25 Läuferinnen und Läufer aus Deutschland waren dabei. Dabei ist das so ein schöner, abwechslungsreicher Traillauf, anspruchsvoll, aber mit ordentlicher Vorbereitung gut machbar. Einen Marathon und die 50-km von Rodgau im Januar, im Februar den Marathon in Bertlich und im März, eine Woche vor Paris, den in Kandel. Das ist eine minimalistische, aber vollkommen ausreichende Vorbereitung. Auch der Weg nach Paris ist kurz: mit dem TGV dauert die Fahrt von Stuttgart aus drei Stunden. Also Leute, auf nach Paris, ihr habt was verpasst, wenn ihr nicht mindestens ein Mal dabei ward.
Kuriosum am Rande: Ich lief zusammen mit fünf weiteren Altersgenossen in der höchsten Altersklasse V4M: Männer von 70 bis 129 (!) Jahren. Frauen sind unterrepräsentiert, lediglich 198 waren am Start, von insgesamt 2.087 Teilnehmern. Auch da gibt es noch Nachholbedarf.
Was gibt es noch zu berichten?
• Neben dem 80-km-Trail gibt es noch drei weitere: 45km, 30km und 18km.
• Insgesamt nahmen an allen vier Läufen 8.693 Personen teil.
• Bei den kürzeren Trails gibt es deutlich weniger Laufabbrüche.
• Meine Laufuhr zeigte 150 Höhenmeter mehr an als die auf der Veranstalter-Website angegebenen 1500. Aber die sind wohl eh nur geschätzt.