Die ersten acht Kilometer verliefen tatsächlich nahezu eben auf besten Wegen inmitten einer schönen, beinahe lieblichen Landschaft, durch lichte Wäldchen, vorbei an vielen kleinen Seen, einem Golfplatz und ein paar wenigen Zuschauern, meist Angehörigen von Teilnehmern. Wir liefen inmitten vieler Läufer, auffallend wenige Frauen waren darunter, und es fiel mir leicht, mein Tempo zu halten. Bereits hier aber wurde mir ein großes Problem bewusst: keinerlei Kilometerangaben und damit keine Möglichkeit, das Tempo mit dem geplanten zu vergleichen. Ein paar Mal sprach ich Läufer an, die eine GPS-Uhr trugen, so dass ich wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt hatte.
Zwei Kilometer ging es nun durch einen Vorort, immer noch nahezu eben und als es dann ins Gelände ging und die ersten Anstiege kamen, waren wir immer noch nicht beeindruckt. Schöne Waldwege, teilweise auch recht steil, aber nie sehr lang, maximal 10 Minuten und der Untergrund war bestens. Das Höhendiagramm zeigte etwa fünf oder sechs Anstiege mit je 20 bis 60 Höhenmetern, alles noch problemlos zu schaffen.
Insgesamt dreieinhalb Stunden hatte man für die 22 km bis V1 Zeit. Angesichts des leichten Abschnitts hatte ich mir 2:40h vorgenommen und tatsächlich kamen wir nach dieser Zeit auch an. Nun hieß es, keine Zeit zu vertrödeln, schnell etwas essen und die Trinkflaschen füllen, denn es waren immerhin vier bis fünf Stunden bis zur nächsten Verpflegungsstelle und da waren meine knapp zwei Liter, verteilt auf drei Flaschen, absolut notwendig. Ein paar Energieriegel holte ich auch noch aus dem Rucksack, so dass ich auf dem nächsten Abschnitt auch etwas zum Essen hatte.
Zur Pflichtausrüstung gehörte auch ein Becher, denn des ökologischen Gedankens wegen (ecoTrail) waren an den Verpflegungsstellen keine Becher vorgesehen. Mein Becher war im Rucksack, ebenfalls meine dritte Trinkflasche. Der Rucksack war schnell geöffnet und beides herausgeholt. Die Getränke, Wasser, Cola, wurden in Flaschen angeboten und Helfer füllten die Behälter und Becher der Läufer. Teilweise aber war der Andrang so groß, dass ich nicht die Geduld hatte, zu warten. Also schritt ich zur Selbsthilfe, füllte meine Flaschen nach, trank zwei oder drei Becher Wasser, verstaute alles wieder im Rucksack und war so nach etwa neun Minuten bereits wieder aus der Station draußen.
Nebenbei: den Becher habe ich nur in dieser Station benutzt und da hätte ich ihn auch nicht gebraucht. Man kann auch problemlos aus seinen Flaschen trinken und die dann eben nochmals auffüllen lassen.
Angekündigt war, dass die Zeit beim Rauslaufen aus der Station gemessen würde; war aber nicht so, sie wurde bei der Ankunft genommen. Nur hier, oder an den beiden anderen Stationen ebenfalls? Das ist nicht ganz unwichtig, sollte die Zeit eng werden. Für die 34 Kilometer bis zur nächsten Verpflegungsstelle hatte man fünf Stunden Zeit, spätestens um 21:00 Uhr musste man dort – ja jetzt was? - angekommen sein, oder die Station verlassen haben? Egal, wir hatten auf dem ersten Abschnitt 40 Minuten Zeit gut gemacht und es wäre ja gelacht, wenn wir 34 km nicht in 5:40h schaffen würden. Ganz entspannt also starteten wir um 15.20 Uhr auf unsere zweite Etappe.
Jetzt würde es gelten, war dies doch die längste Etappe und die mit den meisten Anstiegen und Höhenmetern. Insgesamt zeigte das Höhendiagramm etwa 18 Anstiege zwischen 30 und 90 Hm und so war es dann auch. Es ging auf guten Waldpfaden aufwärts, teilweise konnte man zu Zweit nebeneinander laufen/gehen, dann lief man meist viele hundert Meter eben oder leicht wellig, dann wieder abwärts, teils sehr steil, manchmal ganz moderat, aber der Untergrund war immer gut zu laufen, es gab kaum Wurzelwege.
Vom Start weg waren wir immer mitten im Läuferfeld gelaufen, das jetzt zwar schon merklich „dünner“ war, aber immer noch waren 20, 30 Läufer um uns herum. Auch wussten wir noch viele hundert hinter uns, so dass ich mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Sorgen machte. Die Wege waren ordentlich ausgeschildert mit rot-weißen Bändeln, die alle 100..200 Meter an einem Zweig oder Pfosten hingen, Richtungswechsel zeigten oft auch Pfeilen auf dem Boden an und die Bändel hingen dort in kürzeren Abständen. Trotzdem musste man natürlich aufpassen, dass man seinen Vorderleuten nicht blind folgte, ein kontrollierender Blick auf die Bändel gab Sicherheit. Nur einmal verliefen wir uns, gemeinsam mit anderen Läufern fanden wir aber bald wieder auf den rechten Weg.
Der Himmel hatte sich in den vergangenen Stunden immer mehr verfinstert und jetzt grummelte es sogar ab und zu. Es würde doch kein Gewitter geben? Da, ein erster Blitz! Der zeitliche Abstand zum Donner aber beruhigte mich. Das war noch weit weg. Die dunklen Wolken vor und über uns allerdings nicht, die sorgten dafür, dass es ab und zu ganz leicht nieselte.
Kurz nach 18 Uhr aber, fünfeinhalb Stunden nach dem Start, war es dann soweit, es begann zu regnen, erst leicht, dann aber zunehmend stärker. Wir hielten an und holten unsere Jacken aus dem Rucksack. Das aber hätte ich mir ersparen können, denn nach einer Minute war die vollkommen durchnässt. Tja, ich hätte eine wasserdichte Jacke mitnehmen sollen, wie sie auch vorgeschrieben war und nicht so eine dünne Windstopper Jacke. Angelika hatte einen dünnen Poncho dabei, wir hielten nochmals an, sie holte ihn aus dem Rucksack und war damit dann ganz gut geschützt. Zum Glück war es nicht kalt, so dass ich damit leben konnte, nass zu sein.
Viel problematischer aber war plötzlich der Untergrund. Der Regen hatte den Waldboden in eine Schmierseifenpiste verwandelt. Zum Glück ging es schon eine Weile eben, so dass wir alle nur Mühe hatten, vorwärts zu kommen, nicht aber abwärts rutschen mussten. In Gedanken jedoch malte ich mir aus, wie das beim nächsten Abstieg aussehen würde. Vollkommen undenkbar, dass wir ohne Stürze diese steilen Waldpfade abwärts laufen konnten und auch aufwärts sah ich größte Probleme, kamen wir doch bereits in der Ebene nur mühselig vorwärts.
In Gedanken hatte ich zu diesem Zeitpunkt den Lauf bereits aufgegeben. Ohne Stöcke würden wir das nie schaffen, vollkommen unmöglich, ganz abgesehen davon, dass nun natürlich die Zeit knapp werden würde. So wie ich die Franzosen kannte, würden die nie und nimmer das Zeitlimit lockern, nicht wegen rutschiger Wege!
Da es aber immer noch eben war, lief und rutschte ich mürrisch und deprimiert auf dem glitschigen Weg vor mich hin. Der Abstieg, der dann doch irgendwann kam, überraschte mich aber. Nichts war schmierig, die wenigen steinigen Stellen waren nass, man passte ein wenig besser auf und konnte ganz gut abwärts laufen. Offensichtlich war das Wasser an den Schrägen schnell abgelaufen und nicht in den Boden eingedrungen. Immer aber wenn es eben weiter ging, wurde es schmierig und rutschig und es war nicht einfach zu laufen. Ich hatte aber wieder etwas Mut. In dieser Stunde zwischen Resignation und Hoffnung nahm ich mir vor, in der Pfarrkirche St. Eustache eine Kerze anzuzünden, sollte ich je diesen Lauf im Ziel auf dem Eiffelturm beenden.
Da wir nun immer wieder auch den Wald verließen und bewohntes Gebiet streiften, gelang es uns tatsächlich wieder einigermaßen unser Tempo zu laufen. Auch der Regen ließ langsam nach und ich hatte den Eindruck, als ob es hier weniger geregnet hätte, denn der Boden war jetzt beinahe normal zu belaufen und es gab einige trockene Stellen.
Nun aber rückte das bereits weiter oben erwähnte Problem in mein Bewusstsein. Durch die fehlenden Kilometerangaben hatte ich nämlich keine Ahnung, wie viele Kilometer wir bereits gelaufen waren. Irgendwann fragte ich, trotz minimalen Französisch Kenntnissen, einen Läufer neben mir: „Combien des Kilomètres?“ Seine Antwort freute mich mordsmäßig: „Six“, also sechs! Hurra, nur noch sechs Kilometer bis zur Verpflegungsstelle; da waren wir ja noch bestens in der Zeit und würden etwa eineinhalb Stunden vor dem Zeitlimit ankommen! Eine Weile lief ich euphorisch gestimmt, die Zeit passte, der Regen war vorbei, der Untergrund war wieder ok, was sollte noch besser werden?