Halb dürfen wir den malerischen See umrunden, anschließend müssen wir wieder kraxeln. An einem Grat geht es aufwärts Richtung Rötihorn oder Reeti, wie er auch genannt wird, mit traumhafter Aussicht auf die Jungfrau, die mit 4158 m der dritthöchste Berg der Berner Alpen ist und mit Eiger und Mönch die weltberühmte Dreiergruppe bildet. Der Name Jungfrau basiert im Übrigen nicht auf irgendwelche Männerphantasien. Augustinerinnen besaßen bereits im 15. Jahrhundert an den Nordwesthängen der Jungfrau eigene Alpen. So hießen sie beim Volk nur Jungfrauenberge. Die Bezeichnung hat sich im Laufe der Zeit bis hin zum höchsten Gipfel des Massivs eingebürgert und ist so geblieben ist.
Während der Name Mönch nichts mit Klosterbrüdern zu tun hat. An seinem Fuß befinden sich Alpweiden, auf welchen früher, zu Zeiten von Pferdezucht, Münche, also Wallache im Sommer weideten. So hat man den über den Münchenalpen gelegenen Berg Münchenberg genannt und irgendwann nur mehr Münch oder Mönch. Habt’s wieder was gelernt.
Nach Durchquerung eines Felsenmeers nach einem Übergang geht es durch die weite Alpmulde der Bussalp hinunter und weiter bis Oberläger, dem Standort unserer nächsten Versorgungsstation. Für mich zählen die technisch nicht allzu schweren Trails über Graskuppen und Täler mit der grandiosen Aussicht zu den Highlights der Strecke. 5:15 Stunden beträgt das Zeitlimit an dieser Station. Einen ganz wichtigen Hinweis sollte man nicht ignorieren. Auf den nächsten beiden VPs gibt es wegen ihrer exponierten Lagen keine Möglichkeit, Wasser oder Iso in die eigene Trinkflasche nachzufüllen.
An der Station läuft Dieter auf mich auf. Bei meiner 50. Langstrecke haben wir uns kennengelernt, zwischendrin bei Trails schon mal ein Radler gemeinsam gezischt. Heute zu meinem 100. Jubiläum nehmen wir gemeinsam den Aufstieg zum Faulhorn in Angriff. Ich freue mich wirklich, das ist eine tolle Geschichte. Dieter ist zum dritten Mal beim E101 am Start, bisher konnte er aber noch nie die komplette Strecke absolvieren und ist dementsprechend voll motiviert. Bei der Premiere wurde wegen Gewitter verkürzt, im Vorjahr musste er nach einem Sturz mit Knieproblemen aufgeben. Aber für heute sieht’s gut aus.
Der Aufstieg über felsdurchsetze Wiesen zum höchsten Punkt der Strecke auf 2680 Meter ist giftig und macht vielen zu schaffen, auf 3,5 km sind über 600 Höhenmeter zu bewältigen. Obwohl es steil hinauf geht, ist er dennoch gut zu begehen, finde ich. Das legendäre Berghotel auf der Spitze liegt dabei immer in Sichtweite. Im Sommer 1832 nahm die Gaststätte ihren Betrieb auf – zum damaligen Zeitpunkt als die höchstgelegene der Alpen.
Betrachtet man das Höhenprofil des E51, ist auf dem Gipfel die Hälfte des Rennens gelaufen und ein Großteil der Aufstiege ist bewältigt. Von hier geht es überwiegend nur mehr bergab. 6:30 h ist die benötigte Durchgangszeit um im Rennen zu bleiben. Der Rundblick vom Faulhorn ist trotz des mittlerweile ziemlich dusteren Himmels einfach großartig. Tief unten liegt der türkisblaue Brienzersee, auf der anderen Seite die grauen Silhouetten der 4000er.
Die rapide Wetterverschlechterung bereitet der Rennleitung große Sorgen. Sollte es noch schlechter werden, steht eine eventuelle Verlegung des Abstieges bis zur Schynigen Platte zur Debatte, sollten wir später erfahren. Am Berghaus Männlichen ist während des kompletten Rennens ein Meteorologe postiert, der die Wetterentwicklung genau beobachtet. Heute Morgen hätte ich im Traum nicht daran gedacht, dass ich heute einmal frösteln muss. Aber es ist wirklich kühl geworden und ungemütlich auf dem Summit. Viele wechseln auf ihre Regenjacken. Ich begnüge mich mit meinen Ärmlingen, in der Hoffnung, dass die ersten Regentropfen nicht noch mehr werden.
Sehr vorsichtig gehen die meisten den kurzen, aber schwierigen und bis zu 25% steilen Abstieg von der Spitze hinunter durch loses Geröll an. Fulen nennen sich diese lockeren Gesteinsschichten aus Schiefer und Mergel, von denen das Faulhorn auch seinen Namen hat. Die Steilheit nimmt wieder ab, aber gefährlich bleibt der weitere Abstieg dennoch. Ein Sturz in das scharfkantige Gestein könnte schlimme Folgen haben. Dieter kann ein Lied davon singen.
Meine Oberschenkel sind durch den langen Aufstieg gerade ziemlich müde und ich bin schon mehrmals am Stolpern. Irgendwann erwischt es mich dann doch und muss den Staub küssen. Ich habe aber riesiges Glück, mich brettert es genau auf eine größere und glatte Felsplatte und komme ohne Blessur davon. Mein Bergab-Selbstvertrauen ist damit natürlich im Eimer und ich reduziere nochmals mein Tempo, was glücklicherweise zeitlich für mich kein Problem darstellt, da ich doch weit vor dem Zeitlimit liege.
Der Biergarten vom Berghaus Männdelen ist heute noch verwaist, an Sonnentagen kann man hier oft nur schwer einen Sitzplatz ergattern. Der Abstieg hinunter zur Berghütte ist deftig, aber wenigstens mit Seilen gesichert. Für uns gibt’s hier nix zu trinken, höchstens gegen Bares. Und es geht höchst schwierig durch loses Gestein weiter.
Nach einer Richtungsänderung laufen wir in einer Mulde unterhalb des Sägissa jetzt wieder direkt auf das Faulhorn zu. Ich bin hier nicht der einzige, der durch das grobe Gestein etwas langsamer macht. Dann geht es in einer erneuten 180-Grad-Wendung um den Felsstock des Sägissa herum und an der langgezogenen Nordflanke entlang.
Unter uns liegt jetzt der wunderschöne Sägistalsee auf einer Höhe von 1960 m. Er wird durch zwei Bergbäche gespeist und hat einen unterirdischen Abfluss. Ehrlich, im See gibt es Kanadische Seeforellen. Abschnittsweise kann man über den Bergzug eine Etage tiefer wieder den Brienzersee ausmachen. Immer leicht abschüssig geht es durch das urwüchsige Karstgebiet weiter, kleine Restschneefelder sind dabei noch zu überqueren.