Den Sachsentrail und diverse Marathon- und andere lange Läufe sind meine Vorbereitung für den EigerUltraTrail in Grindelwald. „Mehr brauchst du nicht“, meint der Chef . Und schon bin ich am Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau. Zusammen mit Bernie bin ich zu den Eidgenossen angereist. Bernie ist mit seinen diesjährigen Trails besser im Geschäft als ich. Für mich ist der Eiger eine neue Erfahrung, Bernie kennt die Strecke schon.
Am Freitag kommen wir trotz Urlaubssaison, Ferien und Wochenende ohne Stau nach Grindelwald. Nach dem Einchecken in der Unterkunft holen wir unsere Unterlagen für das morgige Rennen ab. Bernie ist Routinier und weiß, welche Wege wir gehen müssen. Ich muss nur hinterhertrotten. Die Wege im Sportzentrum sind gut ausgeschildert, so stehe ich dann an der Nummernausgabe und bekomme … nichts! „Du musst vorher zur Materialkontrolle!“
Ganz was Neues, unbekannt, keine Ahnung, was da zu tun ist. Aber Bernie gab mir tags vorher schon den Rat, den Rucksack ja vollständig zu packen. Was da im Rennen auf dem E51, das wird meine Distanz, mitzuführen ist, wird penibel kontrolliert: Rucksack, Handy, Rettungsdecke, Pfeife, elastische Binde, Goretex-Jacke, langes Shirt und Hose, Stirnband oder Mütze, Handschuhe, Sonnenbrille, Trinkbecher, Wasserflasche und Verpflegung. Wer Stöcke mitnehmen will, muss diese bis zum Ende dabeihaben. Die Helferin schaut sogar in meine kleine Erste-Hilfe-Tasche rein und meint zu den Spikes, die ich ebenfalls mitführen will: „Ich weiß nicht, ob die zweckmäßig sind, gehe auf das Teilnehmerbriefing und höre dich um:“
Ich glaube eher, dass die Spikes nicht verkehrt sind, da es doch in den Tagen zuvor bis unter 2000 Meter Seehöhe herunter geschneit hat. Beim Briefing erfahren wir, dass oben teilweise hüfthoch der Neuschnee liegt. Die Helfer sollen aber die tief verschneiten Stellen geräumt haben. Wir müssen nicht auf eine Ersatzstrecke gehen. Die Befürchtung hatten wir am Vortag, als wir die Wetterbilder aus Grindelwald und den umliegenden Bergen gesehen hatten.
Nach der Materialkontrolle erhalte ich ohne Verzögerung meine Startnummer mit dem angehängten Chip von Datasport. Beim Briefing wird dann noch auf den Sonnenschutz hingewiesen. Schnee, Sonne pur und die Höhe können bei ungeschützten Stellen die Haut brutzeln lassen, also einschmieren nicht vergessen. Im Anschluss holen wir uns die Pasta, der Gutschein hängt an der Startnummer. Ein Bier mit Alk sorgt für Beruhigung. Gute Nacht.
Sehr früh muss ich am nächsten Tag an der Startlinie stehen, denn um 06.45 Uhr heißt es für den ersten Teil der E51er „Abmarsch“. Alle mit einer Zielzeit von unter zehn Stunden sind da aufgerufen. Die Langsameren und die Pärchen (Couples) starten 15 Minuten später. Die Königsdisziplin über 101 Kilometer wurde im ersten Morgengrauen mittels eines grünen Lichtes vom Eiger herunter auf die Strecke gelassen.
Als ich gut 20 Minuten vorher meine Unterkunft verlasse, herrscht auf dem Startplatz schon geschäftiges Treiben. Die Trailer stehen in Grüppchen zusammen, ratschen und haben jetzt schon ihren Spaß. Ich habe eher die Hosen voll, weil ich nicht weiß, was mich in den nächsten Stunden erwartet. Der Pitz Trail, wo ich dem Zeitdiktat zum Opfer fiel, ist noch gut in meiner Erinnerung. „Du wirst meine Zeit von letzten Jahr deutlich unterbieten,“ versucht mich Bernie noch am Vortag zu motivieren und zu beruhigen. Die CutOffs werden dir keine Probleme bereiten. Ja, CutOffs, da musst du die entsprechende Stelle zu bestimmten Zeiten dann verlassen haben, ansonsten wird dir der Chip abgenommen. Widerspruch wird es nicht geben, du musst dich den Regeln unterwerfen und das hat auch seinen Sinn.
Es empfiehlt sich auch, das Wettkampfreglement (16 Seiten) ausgiebig und konzentriert zu lesen und auch zu beachten. So wird ein Wegwerfen von Abfall außerhalb der markierten Zonen mit einem Zuschlag von einer Stunde bestraft. Disqualifiziert wird, wer eine Anweisung von Postenchefs nicht beachtet oder wer einen Kontrollposten nach Überschreiten des Zeitlimits verlässt. Die Minuten vergehen, wir werden zum Start aufgerufen.
Ich weiß von einer Engstelle nach etwa 2,5 Kilometer und weiß auch, dass im zweiten Startfeld Läufer mit einer Zeit von über zehn Stunden sind. So entscheide ich, mein Rennen am Ende des jetzigen Startfeldes zu beginnen. Kurz vor 06.45 Uhr, Bernie (er läuft den neuen E35) wird gerade aus der Schlafmulde krabbeln, da hören wir die letzten Worte des Moderators. Ein Schuss schickt mich dann auf die Reise. Der Ausgang? Ungewiss! Krafteinteilen, gut verpflegen, kein Schnellstart, auf Sicherheit gehen, nicht verzweifeln. Es kann ja auf der Länge im Gebirge so viel passieren.
Nach nicht einmal 30 Sekunden überschreite ich die Startlinie, eine Matte, die Nettozeit wird ermittelt. Macht die denn wirklich Sinn? Eher nicht. Und mir ist es sowieso wurscht, ob ich einen Rang höher platziert bin oder nicht.
Die Spitze schlägt sofort ein schnelles Tempo ab und schon sehe ich die schnellen Hirsche nicht mehr. Im hinteren Feld ist es gemächlich, alles trabt langsam dahin und wird schon wissen, warum.
Die knapp 4000 Einwohner zählende Gemeinde Grindelwald lebt hauptsächlich vom Tourismus, Industrie und Landwirtschaft spielt eine eher untergeordnete Rolle. Mit einer Fläche von 171 Quadratkilometer ist Grindelwald die drittgrößte Gemeinde im Kanton Bern. Sie liegt zwischen 720 Meter und 4107 Meter Seehöhe, der höchste Punkt ist der Mönch. Die Zugverbindungen sind erstklassig, so besteht eine Verbindung über die Kleine Scheidegg hinüber nach Lauterbrunnen und hinauf zum Jungfraujoch, mit dem Postauto über die Große Scheidegg nach Meiringen und die letzten Athleten sind mit der Bahn von Interlaken gekommen und hatten gerade mal 50 Meter vom Bahnhof zur Startlinie zu gehen.
Auf der Dorfstraße laufen wir bereits leicht ansteigend an der Dorfkirche und am Heimatmuseum vorbei. Nur wenige Leute stehen jetzt an der Strecke, meist Angehörige der Läufer, Beschäftigte in den Hotels und Einwohner. An einer Stelle sehe ich den Unteren Grindelwaldgletscher. Der Ischweg bringt uns aus dem Ortsgebiet, der Untergrund ist noch asphaltiert. Die ersten paar Kilometer sind sogar noch einzeln ausgeschildert.
Nach etwa gut zwei Kilometer sehe ich dann den Rückstau auf einem Wiesenweg, die ersten ziehen schon ihre Jacken aus. Ja, es ist noch sehr frisch, es täte fast Not, die Handschuhe auszupacken. Vielleicht fünf, sechs Grad hat es jetzt im Schatten. Der zu sehende Hausberg, der Eiger, steht schon im ersten gleißenden Sonnenlicht. Zwei, drei Minuten dauert es, dann steige ich ein paar Treppen hinunter in ein Bachbett und überquere dann eine Brücke. Nur einzeln kann man da drüber. Wir laufen am Hotel Wetterhorn vorbei und der Anstieg beginnt.
Auf schmalen Wanderweg geht es größtenteils hinauf, laufen geht schon lange nicht mehr. Das Kilometerschild 5 hängt an einem Holzstoß, rund 75 Minuten bin ich unterwegs, das will ich jetzt nicht kommentieren. Ich bin zumindest nicht allein unterwegs. Die schnellsten Läufer vom zweiten Block sind längst auf mich aufgelaufen und schon über alle Berge. Und dann schreiten wir in das erste Sonnenlicht, sogleich wird es wärmer, Handschuhe sind jetzt kein Thema mehr. Von der Poststraße auf die Große Scheidegg hören wir die Fanfaren der Busse. Ja, die Straße ist für den normalen Verkehr gesperrt, nur der Postbus darf auf der drei Meter breiten Straße fahren. Und Radfahrer. Die müssen aber dann in den Straßengraben, denn der Bus hat Vorfahrt und braucht die Straße für sich alleine.
An der Westflanke des Wetterhorns (3692 Meter) führt uns die Strecke immer weiter hinauf, bis wir dann die Große Scheidegg auf 1962 Meter Seehöhe sehen. Knapp zwei Stunden bin ich unterwegs. An der Seite ist ein Transparent, mit dem der Ursi zum Geburtstag gratuliert wird.
Unter dem Balkon der gleichnamigen Hotels steht die erste Tankstelle mit Vollverpflegung. Bananen, Riegel und mehrere Sorten Iso stehen bereit. Becher werden keine ausgegeben, so hält sich der Müll in Grenzen. Ich fülle meine Flasche auf, für Notfälle. Die Trailer lassen sich mit der Versorgung viel Zeit, es ist zweckmäßig, denn unser Weg ist noch weit und der Tag lang. Nach knapp fünf Minuten mache ich mich wieder auf den Weg.
Die Große Scheidegg ist der Pass, der Grindelwald mit dem Haslital (Aare) und Meiringen verbindet. Die Aussicht auf die Felswände von Wetterhorn, Schreckhorn und Eiger ist gigantisch.
Wir wechseln nun auf die andere Bergseite, Wegweiser zeigen unser nächstes Ziel, den First in 1.30 Stunden an. Ob die Zeitangabe für uns auch gilt oder wir einen Umweg machen werden, ist mir unbekannt. Ich lasse mich überraschen.
Kurzzeitig ist unsere Laufstrecke asphaltiert und befestigt, dann weichen wir auf Pfade aus, wo ein Überholen nur mit Absprache möglich ist. Bei den Schweizern ist es einfach, es heißt „Vorsicht links“ und dann läuft der hintere an dir links vorbei. So einfach geht es.
Die Tendenz ist weiter ansteigend, erste Schneereste liegen in den Wiesen, wir dürften bei Kilometer zehn bereits die 2000 Meter überschritten haben. Gefährliche Stellen werden mit „danger“ angekündigt, da sollte man vielleicht das Gas herausnehmen und konzentriert zur Sache gehen. Je höher wir kommen, desto mehr Schnee liegt in den Bergwiesen. Es muss viel geschneit haben, denn die Bergblumen lassen die Köpfe hängen. Auch sind die Wege jetzt nass, wir müssen immer wieder tiefere Wasserlachen umgehen.
Der First auf 2167 Meter Seehöhe ist über eine Gondelbahn von Grindelwald erreichbar. Wintersport und Wandern ist daher leicht möglich. Und für den Besucher und für uns steht ab heuer eine Attraktion bereit. Unsere Strecke führt über den „First Cliff Walk by Tissot“: Ein Rundweg um den First mittels Felssteg und Hängebrücke. Ein mulmiges Gefühl macht sich bei mir breit, aber dann kommen Läufer von hinten und ich gehe auf den luftigen Steg. Ein paar Mal muss ich meine Birne einziehen, nicht dass ich mir dieselbe am Gestein anhaue. Der Fels ist härter als mein Sturschädel. Die Kamera leistet Hochbetrieb, gerade an der Hängebrücke, wo es gehörig in die Tiefe geht. Mit einem Rundbogen gelangen wir schließlich auf die Sonnenterrasse des Berggasthofes, wo wir wieder verpflegen können. Im Spätsommer 2015 wurde der Steg eröffnet. Schade, dass das prickelnde Erlebnis nur drei, vier Minuten dauert.
Von einem altgedienten Helfer lasse ich mich in das Gelände einweisen, wie seinerzeit beim Bund, da sprach man von einer Geländetaufe. Wir haben ungetrübten Blick auf Eiger, Großes Fiescherhorn und Hinter Fiescherhorn, Ochs, Finsteraarhorn und Schreckhorn. Nach ausgiebiger Brotzeit mache ich mich wieder auf die Socken. Hier am First ist der erste CutOff einzuhalten. Um 10.30 Uhr müssen alle durch sein, ich habe einen Puffer von 45 Minuten.
Ein breiter, bequemer Wanderweg führt uns dann über die Gummihütte zum Bachalpsee. Der drei Kilometer lange Wanderweg ist sehr beliebt bei den Wanderern: Blühende Almwiesen und der Blick auf die scharfen Spitzen von Schreckhorn, Wetterhorn und Finsteraarhorn.
Gut 100 Meter höher liegt der Bachalpsee (2265 Meter), das Gelände ist fast vollständig schneebedeckt. Das Wasser der beiden Seen ist durch den leichten Wind gekräuselt. Das Gelände ist eine Moorlandschaft, die unter Naturschutz steht. Einige der Mitläufer zücken ihre Handys für Fotos. Einfach schön ist das hier, ich möchte verbleiben. Der breite Wanderweg endet hier, wir müssen auf einem Pfad weiterlaufen.
Den 16. Kilometer erreiche ich nach gut 3,5 Stunden Laufzeit. Der Untergrund wird nun langsam schmierig. Wer gutes Profil an den Schuhen hat, hat Grip am Untergrund und den Dreck an den Waden. Mittlerweile trübt es sich ein wenig ein. Nebel, die Sonne kommt kaum mehr durch.
Wir umrunden das Massiv des Reeti durch steiniger werdendes Gelände. An der Fernandes-Schutzhütte stehen ein paar Posten zur Überwachung. Einer hat einen Schäferhund dabei. Früher haben die Bernhardiner so ein Fässchen um den Hals mit einem wertvollen Inhalt. Der Posten ist schlagfertig: „Der Schnaps ist um die Ecke, wilsch ein ha?“ fragt er. Ich haue ab, Feuerwasser ist in der Höhe gefährlich. Wir verlieren wieder zahlreiche Höhenmeter, es wird wieder grüner.
Kurz nach 11.00 Uhr erreiche ich die Verpflegungsstelle „Oberläger“, 20 Kilometer liegen hinter uns. Hier ist der zweite Cut-Off, den du bis 12.00 Uhr erreichen musst. Nein, um diese Zeit musst du die Zeitmatte überschritten haben. Gut 50 Minuten Puffer. Das Faulhorn ist drei Kilometer entfernt, sagt ein Hinweisschild. In der Ebene läufst du das gemütlich in 15 Minuten. Nicht hier. Im Gebirge musst du als flotter Wanderer für 400 Höhenmeter eine Stunde veranschlagen plus Zeit für die Weglänge. Über 600 Höhenmeter müssen bis zum Top of Eiger Ultra Trail noch bezwungen werden.
„Ja, die Kühe haben wir auf die Alp gelassen“, lacht ein Helfer, „damit wir euch hier versorgen können.“ Es riecht ein wenig streng nach Rindvieh im Kuhstall, wir müssen zumindest nicht aus dem „Boarn“ saufen. Ich tanke wieder bis zur Oberkante und sehe dann, dass am Ausgang die Spezialitäten kredenzt werden: Rindfleisch und Bergkäs, da brauch ich nicht mal Brot dazu.
Nur leicht aufwärts geht es zu einer Hochalm, wo sich ein paar Leute versammelt haben. Dort wird die Wegbeschaffenheit wieder alpin-rustikal und ansteigend.
Uns kommt eine Almsennerin mit ein paar Ziegen entgegen.“Die sollten mit den Trailläufern aufs Faulhorn,“ sagt sie in akzentfreien Hochdeutsch.“Die sind einfach ausgebrochen und davon.“ Wir sind nicht lange unterwegs, da kann ich zum ersten Mal das Faulhorn in gehöriger Entfernung sehen. 2681 Meter ist er hoch und oben steht ein Berghotel, wo du auch einkehren kannst. Seit dem Jahr 1832 ist die Unterkunft bewirtschaftet. 16 Betten und 80 Lager sind in dem Schutzhaus vorhanden.
Doch noch habe ich genug Grip unterm Schuh. Nördlich des Esel, ja so heißt der Berg wirklich, können wir hinunter zum Bachalpsee blicken, wo wir vor gut zwei Stunden die Aussicht genossen haben. Unsere Strecke zweigt dann zum Faulhorn ab und da gehtes in Serpentinen hinauf. Am Wegweiser, der den See tief unten in 50 Minuten Gehzeit anzeigt, haben Hirten weitere Ziegen angebunden. Ich streichele eine am Rücken, der gefällt das und zeigt das mit einem wohligen Meckern.
15 Minuten später erreiche ich das Faulhorn mit der Schutzhütte. Uns jagt man dann noch über den höchsten Punkt, wo viele Läufer wieder ihre Handys zücken. Einer der Helfer erklärt mir wieder die Gipfel. Eiger, Mönch und Jungfrau sind hier wohl am schönsten zu sehen. Ein paar Meter weiter am Hotel warten die Läufer geduldig in der Schlange, bis sie an die Tankstelle hinkommen. Es ist ein wenig eng hier, doch keiner wird missmutig. Die einen holen gleich ihre mitgeschleppten Riegel aus dem Rucksack. Auch hier ist ein Cut Off, ich habe eine knappe Stunde gut.
Etwa zehn Minuten dauert meine Pause, bis ich mich wieder auf den weiteren Weg machen kann. Es geht hinab. Zuerst hat man in den Schnee ein „Gehen“ mit gelber Farbe hin gesprüht, denn der erste Abstieg ist glatt. Ohne Stecken hast du fast keinen Halt. Einige rutschen die gefährlichen Stellen auf dem Allerwertesten hinunter. Nach einigen Serpentinen wird es weniger abschüssig. „Run“ lese ich dann im Schnee. Und wieder hat man ein paar Ziegen an einer Stange angekettet.
Dann gibt es auf dem weiteren Weg einen Stau, überholen ist nur erschwert möglich. Die Ursache ist eine Frau, vielleicht 25 Jahre alt, sie traut sich nicht weiterzugehen. Sie hat eine Blockade, trotz Stecken. Einer der Helfer spricht immer von einem „Lutscherei“, von einem weiteren Schritt. Ich gehe vorbei und reiche ihr die Hand für ein wenig Sicherheit. Der andere hält sie am Rucksack fest. Zurück geht nicht, da Läufer entgegenkommen. Es dauert Minuten, bis das Gelände weniger abschüssig wird, die Frau kann wieder alleine weiterlaufen. Tags darauf bedankt sich der Vater des Mädchens bei mir für das tatkräftige Zupacken. Andere Läufer hätten bestimmt auch geholfen. Vorbildlich sind auch diejenigen, die nur langsam weiterkamen. Keiner hat gemurrt.
Am Berghaus Männermordend (2344 Meter) haben wir bereits 300 Höhenmeter verloren, aber unser Laufuntergrund ist immer noch weiß. Über dieses Berghaus gibt es eine lustige Geschichte zu erzählen. Ein Hans Weber richtete hier eine Einkehrgelegenheit auf halben Weg zwischen Schleuniger Platte und dem Faulhorn ein. Dazu zerlegte er ein Hühnerhaus im Tal und baute es hier wieder auf. Der Obrigkeit gefiel das natürlich nicht, eine Genehmigung blieb aus. Der Hans bewirtschaftete die Wanderer auch ohne Gestattung weiter und wurde daher auch ein paar Mal bestraft. Das hohe Gericht aus Bern mühte sich bei einer Inaugenscheinnahme schweißgebadet aus dem Tal hinauf und sah ein, dass hier ein Ausschank eingerichtet werden musste. Die Genehmigung wurde erteilt, für nichtalkoholische Getränke. Erst Anfangs der 70er Jahre konnte dann der Sohn Willy Weber alkoholische Getränke verkaufen. Manchmal muss man halt nur lang an der Sache dran bleiben, bis alles gut wird.
Um 14.20 Uhr erreiche ich Egg, 29 Kilometer liegen hinter mir und auch der Schnee. Der Weg ist mittlerweile wieder stellenweise morastig, aber nicht mehr glatt. Wir bekommen Wasser und ich erbettele mir einen Schluck Cola von den Helfern. Als Gegenleistung biete ich an, sie in mein Nachtgebet einzuchließen. Sechs Kilometer bis zur Schynigen Platte, wir verlieren nur wenig Höhe, der Schnee, die Nässe und Kälte bleiben zurück. Das Gras ist wieder hoch, die Luft deutlich erwärmt. Alles verändert sich innerhalb fünf Minuten.
Ein Läufer, auf einem Feld liegend, hebt nur auf Zuruf seinen Kopf und pennt weiter. Alles ist okay. Zwischen Loucherhorn und Oberberghorn stellt sich uns eine Eisentreppe in den Weg, an der wir nach oben müssen. Und kurz zuvor haben wir eine tolle Aussicht nach Norden, wo wir über 1000 Höhenmeter tiefer den Brienzer und Thuner See sehen. Toll.
Dann fällt mir ein Japaner auf, der läuft total aus dem Ruder. Bergab springt der wie eine Gänse, dann schleicht er wieder dahin. Ich muss mich vorbei quälen. Angezogen ist er wie ein Eisbär: Regenjacke und Regenhose. Später gleiches Spiel: Er vorbei im Galopp, dann verzögert er und setzt sich schließlich an den Wegrand und bleibt zurück. Sein Glück, ich hätte ich sonst erschlagen.
Wir verlassen den Grat. Kurz danach sehen wir die Verpflegungsstelle an der Schynigen Platte. Die Schynige (scheinende) Platte ist Endstation der Schmalspurbahn, die von Wilderswil heraufkommt. Letzter Cut Off, bis 17.00 Uhr musst du den passieren, ich habe nun 1.15 Pufferzeit. Es brennt nichts mehr an. Höchstens noch die Sohlen oder die Oberschenkel.
Anfangs führt der Wiesenweg nur mit leichtem Gefälle hinunter, doch später wird es steil im Wald. Es warten rund 1100 Höhenmeter hinunter bis Burglauenen. Viel auf eine Wegstrecke von fünf, sechs Kilometer. Vor mir läuft einer unorthodox. Ohne Stecken, stolpernd, unaufmerksam. Dann haut es ihn im Wald voll in die Schlammpampe. Er rappelt sich auf, schüttelt sich wie eine Katze und rennt weiter. Verrückt.
Damit es nicht langweilig wird, warten in dem Abstieg mehrere kurze Gegenanstiege. Der längste, unterhalb von Schilt gelegen, hat über 100 Höhenmeter. Zwei Bergführer hat man da postiert, damit nichts passiert, denn teilweise ist das Gelände abschüssig. Am Ende des Anstiegs wartet eine Bergführerin, die mit Stolz von ihrer Zusatzausbildung zur Hundeführerin erzählt. Ja, an dieser Stelle müssen wir Trailer allen Helfern ausgiebig danken, denn ohne ihre Unterstützung wäre ein solches Event nicht durchzuführen. Mercy und Thanks allen im OrgaTeam.
Der letzte Abstieg lässt dann auch bei mir die Oberschenkelmuskulatur brennen, denn auf einer Teerstraße steil hinunter zu laufen, ist kein Spaß. Einen Trailer sehe ich dann auf der drei Meter breiten Piste in Serpentinen hinunter eiern.
Burglauenen ist unser letzter Verpflegungspunkt, noch einmal wird das volle Programm geboten, einschließlich Fleisch und Käse. Die letzten E101-Läufer können sich hier für die zweite Hälfte vorbereiten, umziehen, Schuhe wechseln oder Nudeln essen. Noch sieben Kilometer bis zu meinem Finish. Mit einem kleinen Umweg überqueren wir die Bahnlinie und im Anschluss die Straße, die nach Grindelwald führt.
Jenseits der Schwarzen Lütschine trennt sich die Wege. Der E101 muss rechts, wir nach links, wo in einer Stunde, vielleicht auch früher, ein Weizen wartet. Zuerst noch ein Stück auf Asphalt, dann auf gesplitteten Weg bringe ich Meter für Meter im Joggingtrab hinter mir. Einige können nur mehr gehen, die sind platt, ich auch. Das Wasser linkerhand beruhigt mich. Dann öffnet sich wieder das Gelände, ich sehe Grindelwald, noch ein wenig entfernt. Doch der Ort kommt immer näher, dann laufen wir bereits hinein.
Kurzzeitig muss ich an den Gleisen der Bahn zur Kleinen Scheidegg warten, denn ein Zug kommt, dann kann ich den letzten Kilometer angehen. Der Kurs der Ultras mündet von rechts ein und dann führt uns die Endgasse (sehr passend, der Name) nochmal sausteil hoch zur Dorfstraße. Oben klatschen dann die Leute und treiben mich zum Zielgelände, wo wir einen Bogen schlagen und dann über ein Tor in den Zielbereich gelangen. Geschafft, ich bin fertig wie lange nicht mehr.
Im Ziel hängt man mir die Medaille um, ein Stück Fels aus dem Wandfuß vom Eiger. Das Finishershirt wird angepasst und dann hole ich mir Getränke, ich habe Durst wie ein Kamel. Kurze Zeit später kommt Bernie, gewaschen, geschnäuzt und gekämmt, ich stinke dagegen wie ein Iltis.
Ich gehe dann noch meiner Reportertätigkeit nach und stelle fest, dass alle Finisher glücklich sind. Als wir später in einer Pizzeria einkehren, kommen immer vereinzelte UltraTrailer die Endgasse hoch zu ihrem Finish. Das wird sich bis zum frühen Morgen hinziehen.
Mein Fazit:
Eine tolle Veranstaltung mit Weitblick in die Viertausender. Du musst dir den Kanten gut einteilen und Kräfte auch noch für den Abstieg nach Burglauenen aufsparen. Wenn du bis dahin gekommen bist, trägt dich der Stolz entlang der Lütschine ins Ziel. Ich komme wieder.
Ergebnisse E101:
1. Pazos Diego, Lausanne, 11:39.11,2
2. Dippacher Mathias, D-Rettenberg, 12:04.34,5
3. Gamito-Baus Jordi, E-Argentona, 12:08.01,1
1. Huser Andrea, Aeschlen ob Gunten, 13:09.38,1
2. Götz Kathrin, Bellach, 13:39.22,9
3. Blanchet Juliette, F-St Martin d'Uriage, 13:43.32,6
E51:
1. Schiessl Helmut, D-Buchenberg, 5:15.21,9
2. Fallas Andrew, GB-Edinburgh, 5:20.37,5
3. Van Noorden Huub, NL-'s-Heer Abtskerke, 5:23.03,5
1. Bonsor Helen, GB-Edinburgh, 6:15.02,0
2. Buschmann Jutta, A-Breitenbach am Inn, 6:42.35,4
3. Dusch Kerstin, Baar, 6:55.58,8