So lautet die übliche Kommentierung eines Westerwälder Muttersprachlers als Ausdruck maßlosen Erstaunens angesichts atemberaubender Ereignisse. Und auch mir blieb der Mund offen stehen, als ich darüber im ultimativen digitalen Fachorgan des gepflegten Langstreckenlaufs las. Vor allem aber, als mir bewußt wurde, daß ich für den am Tag darauf stattfindenden Engadiner Sommerlauf gemeldet habe und daher für mich keine Aussicht zu kneifen besteht.
Mit dem „Vertical Sommerlauf“ wird es beim flachen Engadiner Sommerlauf in den Schweizer Alpen doch noch steil. Die 5,5 km kurze Strecke führt aus der Fußgängerzone von St. Moritz Dorf über die Treppen in Richtung Salastrains, wo auf die Strecke der Herrenabfahrt gewechselt wird. Als Leckerbissen macht der „Freie Fall“ den Abschluß der Strecke, bevor nach knapp 1.000 Höhenmetern die Plattform auf 2.840 m ü.M. entlang der Seilbahn von der Corviglia auf den Piz Nair erreicht wird. Wow! Beim „Freien Fall“ handelt es sich übrigens um den steilsten Start aller Herrenskiabfahrten. Im Winter stürzen sich die Wahnsinnigen hier praktisch senkrecht in die Tiefe und beschleunigen in sechs Sekunden auf bis zu 140 Kilometer pro Stunde. Mich beschleicht die dunkle Ahnung, daß es für mich in umgekehrter Richtung nicht ganz so flott gehen wird.
„Vertical Races mit möglichst vielen Höhenmetern auf kurzer Distanz sind gefragt wie noch nie. Zudem wollen wir den Teilnehmenden des Engadiner Sommerlaufs eine neue Herausforderung anbieten und ihnen das Engadin aus der Höhe zeigen.“ Das meint Anne-Marie Flammersfeld, OK-Präsidentin und selber aktive Ultratrailläuferin auf die Frage, wie es zu dieser Idee des Vertical Sommerlaufs kam.
Nicht ganz in die Karten spielt uns allerdings das Wetter. Anfang der Woche waren sogar 60 l Regen auf den qm angedroht, was sich später deutlich relativieren sollte. Aber die Organisatoren, so die sympathische PR-Chefin Gabi Egli, haben für den Fall die Fälle einen Plan B in der Tasche: Das Ausweichen auf eine Alternativroute. Die neue Strecke würde vom Start im Dorfzentrum von St. Moritz analog der bisherigen Strecke bis zur Bergstation Salastrains (Munt da San Murezzan) führen und von dort zum höchsten Punkt auf 2.686 m und im Anschluss noch bis zur Corviglia auf 2.488 m. Das wären dann anstatt 980 HM über 5,5 km deren 840 HM über 8,2 km. Die Siegerehrung und Finisher-Party würden wie geplant auf dem Piz Nair stattfinden und die Teilnehmenden kostenlos von Corviglia bis auf den Piz Nair und retour ins Dorf transportiert. Über die tatsächliche Route würde erst kurz vor dem Start entschieden.
Ausrüstung: Man macht uns eindringlich klar, dass das Ziel im hochalpinen Gelände auf ca. 2.700 Metern ist, die Rennbekleidung sollte dementsprechend ausgewählt und dem Wetter angepasst werden (Langärmliges Oberteil und knielange Shorts oder Tights). Das Mitführen einer Regenjacke ist obligatorisch. Mütze, Stirnband und Handschuhe werden empfohlen. Stöcke sind erlaubt. Was sehe ich am Ziel, nachdem ich bei durchaus brauchbarem Wetter erfahren habe, daß Plan B nicht gezogen werden muß? Mädels bauchfrei, in knappsten Hosen (fürs Auge durchaus gefällig), Jungs in ganz Kurz, und ich? Kompressionsstrümpfe, Dreiviertelhose, Langarmshirt, Weste, Buff, leichte Mütze, Rucksack mit Jacke – und ich schwitze. Machen wir es kurz: Einige hundert Höhenmeter weiter im kühlen Wind bereits weiß ich, daß ich – zumindest in meiner Preisklasse - genau richtig gekleidet bin.
Startnummernausgabe und Start befinden sich an markanter Stelle in der Fußgängerzone von St. Moritz Dorf. Sowohl die An- als auch die Nachmeldelage können die Veranstalter kaum glauben, wie ich mehrfach höre. Mit dreißig bis vierzig Teilnehmern hatte man anfangs geplant, gemeldet hatten schließlich 237, von denen 216 im Ziel erschienen. Der „Effektenbus“, also der Kleintransporter, der die Wechselkleidung zur Gondel fuhr, hätte vielleicht noch fünf Rucksäcke aufnehmen können. Wahnsinn.
Unter dem Beifall zahlreicher Passanten schießt uns Anne-Marie um Punkt 13 Uhr die Fußgängerzone hinauf. Elke wird, wie zahlreiche andere Begleitpersonen auch, drei verschiedene Bergbahnen nach ganz oben nutzen. Nach der breiten Strecke zur unteren Bergbahn geht es links eine schmale Treppe hinauf. Das heißt, es könnte gehen, aber es ist erst einmal Stau angesagt, der sich auch so schnell nicht auflösen kann. Merke: Willst Du etwas reißen, mußt Du ganz weit vorne stehen. Die Treppe endet nach rund 700 m, danach wechseln wir auf eine laufbare Asphaltstraße. Schnell gewinnen wir an Höhe und schon bald können wir über den Dächern der Stadt erstmals den St. Moritz See bewundern.
Nach einigen Häusern endet die Asphaltphase und wir wechseln auf einen Kiesweg. Schön ist zu erkennen, daß man uns den Parcours passend mit (ich weiß gar nicht, wie man die genau nennt) Slalom- bzw. Riesenslalomtoren, also zwei Stangen, die mit einem Stofftuch verbunden sind, markiert hat. „St. Moritz“ steht darauf, sehr schön, das gefällt mir. Vorbei am Hotel Salastrains sagen wir der Zivilisation Ade. Die letzten 1,5 km konnte ich einigermaßen laufen, jetzt, nach 2,2 km, ist damit fast bis zum Gipfel Schluß. Wir arbeiten uns einen Hang hinauf, aber was für einen! Man sagte uns am Start, uns würde eine bis zu 75%ige Steigung erwarten und ich glaube, es ist soweit.
Hammerhart ist der mühselige Aufstieg, längst beneide ich die mit Stöcken bewaffneten Mitstreiter. Aber was hilft's, Ihr wollt Bilder sehen, und drei Hände habe ich nicht. Boah, ist das mühselig. Leck mich in de Täsch! Immer wieder muß ich nach Möglichkeiten suchen, den Fuß abzustützen, ohne wieder abzurutschen. Ringsum ist schon lange Schweigen im Walde angesagt, jeder ist vollständig mit seiner eigenen Situation beschäftigt. Ich beginne an meiner Eignung für diesen Wettbewerb zu zweifeln. Wenn das so weitergeht, wie soll ich das nur schaffen können? Nur nicht nach oben schauen, nur vor die eigenen Füße. Oder ins Tal, um die traumhafte Aussicht für Euch einzufangen. Nach 700 brutalen Metern ist diese Tortour zu Ende und für die Mühe des Aufstiegs belohnt man uns mit einer Verpflegungsstelle (Wasser und Iso) bei km 2,9.
Gott sei Dank wird es erträglicher. Wir kommen auf einen schönen, nicht ganz so steilen Wanderweg, auf dem es sich ordentlich marschieren läßt. Klar, die Stärkeren sind hier bestimmt gelaufen, aber bei uns ist nicht daran zu denken. Wunderschön sind die Aussichten im Blick zurück, ich erkenne den Silvaplanasee das gegenüber Silvaplana liegende Surlej, wo wir derzeit im sehr schönen Hotel chesa surlej wohnen.
Immer weiter geht es bergauf, km 4,0 ist erreicht und ich komme tatsächlich noch mal für rund hundert Meter ins Laufen. Das gleiche erneut bei km 4,4 und 4,7. Erfreulicherweise sind immer wieder Fans auf der Strecke, und das sowohl zwei- als auch vierbeinige. Dann sehe und höre ich gleichzeitig etwas extrem Angenehmes: Das Ziel samt lautstarker Moderation! Oben rechts kann ich die Lawinenverbauung erkennen und auch schon die finalen Stahltreppen. Wolfgang aus unserem Hotel kann ich überholen sowie motivieren und freue mich über die Anfeuerung von Ricarda Bethke und Jens Vieler, die ich schon am Start getroffen hatte, und mit denen ich morgen die 25,2 km des Engadiner Sommerlaufs von Sils nach Samedan unter die Füße nehmen werde.
Dann stehe ich am Fuße des finalen Aufstiegs und kriege den Fön. Da soll ich hinauf? Jammern hilft bekanntlich nicht, also weiter bergan. Einen blauen Fangzaun kann ich sehen, zwischen ihm und mir liegt ein heftiges Geröllfeld. Das soll laut Gabi, der PR-Chefin, das schlimmste Stück sein. Nein, über die 700 m Aufstieg zwischen km 2,2 und 2,9 geht nichts. Aber schwierig ist es schon, weil die meisten Steine locker sind und man genau hinsehen muß, wohin man tritt. Zwei-, dreimal rutsche ich zurück, Adrenalin schießt ein. Aber es geht gut.
Dann stehe ich am Beginn des Fangzaunes und kann zum ersten Mal das bereitgestellte Sicherungsseil fassen, will weiterknipsen, da sagt mein Apparat: Speicherkarte voll. Voll! Ich kriege die Krise. Hilft wieder nichts, das kann ich erst im Ziel ändern. So beende ich meine Querung am Fangzaun, nur auf mich konzentriert und stehe am Anfang der vielen Stahltreppen, die mich noch vom Ziel trennen. Die kann ich erstaunlicherweise noch zügig nehmen, werde an deren Ende namentlich begrüßt und bin nach einer Stunde und sechzehn Minuten oben. Puh!
Oben auf der Plattform des freien Falls lösche ich flugs noch ein paar alte Fotos und kann dann das Versäumte aus der anderen Perspektive nachholen. Toll sind die unterschiedlichen Emotionen, die meine Mitstreiter zeigen. Anne-Marie wird von einem Interview zum nächsten gereicht, die Erleichterung über die überaus gelungene Premiere ist ihr deutlich anzumerken. Wie alle anderen genieße ich noch ein bleifreies Erdinger, wenn auch aus der Dose und trolle mich dann, die Treppen wieder hinunter, zur Station der Bergbahn. Dort empfange ich meine Wechselkleidung und fahre, wieder halbwegs salonfähig, zur Bergstation „Piz Nair“ auf 3.057 Metern.
Dort empfängt mich nicht nur Elke, sondern auch ein herzhaftes Nudelgericht und die kurze, aber nicht minder emotionale Siegerehrung der Junioren und Erwachsenen. Tolle Leistungen, der Schnellste war nach gut 44 min oben, die Schnellste nach gut 52. Brutal gut, nicht umsonst sind viele der Geehrten im Schweizer Nationalkader und/oder sogar Olympiaaspiranten. Hochzufrieden über das besser als erwartet bestandene Abenteuer fahren wir zurück nach St. Moritz und freuen uns auf den morgigen Engadiner Sommerlauf. Der hat mit dem Vertical Sommerlauf ein hübsches Geschwisterchen bekommen, das noch viel mehr von sich reden machen wird.
Strecke:
5,5 km mit 980 Höhenmetern, Zeitlimit 3 Stunden.
Startgebühr:
CHF 50 / € 46 (Nachmeldung 70 CHF).
Auszeichnung/Leistungen:
Im Startgeld inbegriffen sind Startnummer mit Einweg-Chip und Name, Verpflegung an dem offiziellen Verpflegungsposten, Sanitätsdienst, Effektentransport vom Start zum Ziel, SMS-Resultatservice, ein ERDINGER Alkoholfrei für alle klassierten Teilnehmenden im Ziel, Finisher-Geschenk.
Zuschauer:
Tatsächlich viel am Start und nicht wenige unterwegs.