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10.07.21 - Gletscher Trailrun

Prädikat: „Besonders wertvoll“

Nicht erst seit „Ötzi“ sind die Ötztaler Alpen eine der bekanntesten alpinen Regionen, auch wenn viele wohl gar kein konkretes Bild von diesem mächtigen Gebirgsstock im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien haben. Zumindest hat der Fund von „Ötzi“ im Jahr 1991 dazu beigetragen, eine allgemeine Vorstellung von dem zu entwickeln, was einen hier erwartet: Große Höhen, viel nackter Fels, ewiges Eis – und Einsamkeit. Darauf darf man sich auch einstellen, wagt man sich an eine der abgelegensten, ohne Zweifel aber auch spektakulärsten alpinen Berglaufveranstaltungen heran: Den Gletscher Trail im Gurgler Hochtal.    

Der Weg zum Start ist nicht wirklich beschwerlich, kostet aber schon ein wenig Zeit. Andererseits ist er bereits ein Erlebnis für sich. Vom breiten Inntal aus zweigt man kurz vor Imst gen Süden ab ins Ötztal. Über fünfzig Kilometer lang mäandert das Tal, sich im Wechsel verengend und weitend, mal üppig grün und lieblich, mal schroff und felsig, stets begleitet von der im Talgrund wild rauschenden Ache und beeindruckenden Blicken in die Gipfelregionen der jäh ansteigenden Berge. Der spektakuläre Stuiben-Wasserfall von Umhausen macht ebenso Lust auf einen Stopp wie die futuristischen Badeschüsseln des „Aqua Dome“ in Längenfeld. Diese Therme sei bereits an dieser Stelle als im doppelten Sinne heißer Tipp zum Relaxen nach vollbrachter Lauftat empfohlen. Ganz hinten im Tal erreicht man den bekanntesten Wintersport-Spot der Region: Sölden. Gleich dahinter gabelt sich das Ötztal in das Venter und das Gurgler Hochtal. Letzteres ist mein Ziel. Bis dorthin sind jedoch nicht nur einige kurvige Straßenkilometer, sondern zudem weitere 600 Höhenmeter zu bewältigen.

 

Obergurgl – das Tor zur Gletscherwelt

 

Hochalpines Feeling erwartet mich am Zielort Obergurgl. Kein Wunder: Auf über 1.900 m üNN bin ich hier und bis in 3.500 Meter Höhe türmen sich die Gipfel rings um das grüne Band des Talgrunds. Fast die gesamte Infrastruktur des 500 Seelen-Ortes mit beachtlicher Hotelpräsenz findet sich im Dunstkreis der Hauptstraße, so auch mein gemütliches Hotel Enzian fast im Herzen des Ortes. Nur ein paar Schritte sind es von hier zum Gurgl Carat. Obergurgls erst 2020 eingeweihtes, in Form eines Diamanten extravagant gestaltetes Kongress- und Veranstaltungszentrum löst die beschauliche Touristeninformation als Abholstelle für die Startunterlagen ab. Ein wenig unwirklich und wie aus einer anderen Welt heben sich die kantigen, verglasten Elemente der Fassade vom ansonsten eher rustikalen Ortsbild und der bergigen Naturlandschaft rundum ab. Von der Talstation der Bergbahn auf die Hohe Mut hier her verlegt worden ist auch das Start- und Zielgelände der Veranstaltung. Noch eifrig gewerkelt wird am Freitagnachmittag, der knallrote Start-Zielbogen hochgezogen und die Soundanlage gecheckt. Denn am frühen Abend schon startet mit dem Top Mountain Trail der „Opener“ des Berglaufspektakels.

 

 
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Wenn auch manches neu ist für mich, so ist mir vieles doch vertraut. Reichlich Emotion und schöne Erinnerungen prägen für mich das Wiedersehen. 2019 habe ich hier bei Traumwetter den Marathon finishen dürfen, ein ganz besonderes Erlebnis, nicht nur landschaftlich, denn als Letzter der Wertung wurde ich beim Zieleinlauf wie ein Sieger empfangen. Nachdem Corona 2020 den Gletscher Trail wie fast alle Veranstaltungen zur Zwangspause verdammt hatte, ist man 2021 wieder dabei – Corona zum Trotz. Und ich bin es auch. Natürlich mit Abstrichen gegenüber der Normalität, etwa einer etwas eingeschränkten Versorgungslage beim Lauf und mit den derzeit üblichen Präventionsstandards, etwa der Maske in geschlossenen Räumen. Aber zumindest bei dem, um das es eigentlich geht, dem Lauf durch die Natur, kann man sich vollkommen unbefangen fühlen.

Auch bei der vierten Austragung der noch jungen Veranstaltung stehen, wie 2019, fünf Bewerbe im Angebot. In schlichten Facts: 10K mit +/-750 Hm, 22K mit +/-1.800 Hm, 42K mit +/-2.800 Hm und als Krönung: Der Ultra über 62,5 km mit +/-3.900 Hm. Allen gemein: Anspruchsvolle Trails in hochalpinem Gelände mit Start und Ziel in Obergurgl, wobei alle außer dem Zehner höhenmäßig die Schallmauer von 3.000 Metern durchbrechen.

Wer mitgezählt hat, dem wird auffallen: Da fehlt doch einer!? Richtig: Etwas außerhalb der anderen Läufe steht der Top Mountain Trail über 6,3 km, bei dem es über 750 Höhenmeter im Prinzip nur aufwärts bis zur Gipfelalm auf Obergurgls panoramareichem Hausberg, der Hohen Mut (2.670 m üNN), geht. Vor dem großen Laufspektakel am Samstag wird der Top Mountain Trail bereits am Freitag um 18 Uhr gestartet. Vor allem junge Läufer wollen hier wissen, was in ihnen steckt. Auch wenn es eine eher überschaubare Schar von knapp fünfzig Unentwegten ist, die sich vor dem Startband unter dem weiten Vordach des Gurgl Carat sammelt, so wird auch für sie die Musik laut aufgedreht, gibt der Startmoderator sein bestes, begleiten die Anfeuerungsrufe der Zuschauer die Läufer beim Start.

Nur Sekunden später ist der Spuk vorbei. Ich nutze die Gelegenheit, im Carat einen Blick in den noch menschenleeren Saal für die Briefings und Siegerehrungen zu werfen. Und das ist wie ganz großes Kino: Denn zu sphärischen Klängen werden riesige Breitwandbilder auf die Wand projiziert, fantastische Fotografien aus den Ötztaler Alpen. Als ich auf einem Bild die Piccard-Brücke über der Gletscherschlucht des Gurgler Ferner erblicke, weckt das so richtig Vorfreude auf morgen. Denn ich weiß: Da muss ich auch hinüber.

 

22K – Gletscher Trail für Genießer

 

Eingedenk der Erfahrung, dass selbst elf Stunden Sollzeit bei einem Marathon in den Bergen knapp werden können, sowie in kritischer Würdigung meines aktuellen Laufvermögens habe ich mich für den 22K entschieden. Für den kann ich mir immerhin sieben Stunden Zeit lassen und muss nicht schon um 1:30 Uhr, wie die Ultras, oder 6:30 Uhr, wie die Marathonis, zum Race-Briefing präsent sein, sondern ausschlaf- und frühstücksfreundlich erst um 8:30 Uhr. Und: Auch der Kurs des 22K beinhaltet all die landschaftlichen Highlights, die die längeren Distanzen prägen. Der Gletscher Trail für „Bequeme“ also? Angesichts der teils abenteuerlichen Pfade und Höhe bestimmt nicht. Aber ohne Zweifel die Distanz für „Genießer“, die bei minimalem zeitlichem Druck maximal viel erleben wollen.

 

 
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Auch für den 22K gelten die strikten Pflichtgepäckregeln wie für die Langdistanzen, vor allem in Bezug auf wärmende Ersatzkleidung und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Dieses wird auch kontrolliert, ehe die etwa 130 Starter des 22K ab 8:30 Uhr in das eingezäunte Startareal eingelassen werden. Knapp 350 sind es heuer insgesamt, die sich für eine der angebotenen Distanzen angemeldet haben, ein beachtlicher Zuspruch, wenn man bedenkt, dass das "Go" für die Veranstaltung erst im Juni kam. Zum Briefing vorab sammeln wir uns im schicken großen Veranstaltungssaal des Carat. Cheforganisator Simon Scheiber gibt letzte Infos zu Streckenführung und Markierungen, weist auf die heuer wenigen Schneefelder und technisch herausfordernde Passagen hin. Locker und entspannt ist die Stimmung. Und ebenso locker verteilt sich das Starterfeld auf dem Vorplatz im Schutze des Carat, selbst noch Sekunden vor dem Start. Da nicht mehr als 100 Läufer auf einmal starten dürfen, ist das Feld zeitversetzt in zwei Startblöcke aufgeteilt. Im zweiten finde ich mich wieder.

 

Aufwärts (fast) vom ersten Meter an

 

Um 9.05 Uhr fällt auch für meinen Block das Startband. Gleich auf dem ersten Streckendrittel gilt es stolze 1.100 Höhenmeter zu bewältigen. Das bedeutet auch: Entspanntes Einlaufen, wie es die Marathonis zunächst auf einem talauswärts führenden Naturweg erleben können, bleibt uns vorenthalten. In Richtung Talschluss und der Gletscher führt der Weg geradewegs aus Obergurgl hinaus. Zunächst noch ein paar Schritte hinab gen Ache, nach deren Querung aber sofort bergan. Ich merke sogleich, wie die dünne Höhenluft bei mir jeglichen sportlichen Elan ausbremst. Ich keuche wie eine alte Dampflok. Aber der Karawane um mich herum geht es wohl nicht viel anders und so fällt der Tross, kaum versuchsweise angelaufen, in einen dynamischen Walkingschritt.

Schnell gewinnen wir, begleitet vom immer leiser werdenden Rauschen der gletschergespeisten Gurgler Ache, an Höhe. Schön ist der Blick zurück auf das Häuserband des Ortes. Saftig grün sind die Wiesen um uns herum. Das ohnehin nur niedrige Gehölz wird schnell rar. Am Horizont blinken schon Schnee und Eis von den hohen Gipfeln, aber noch sind sie fern.

 

 
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In ein paar Serpentinen schraubt sich der Weg in die Höhe, dann gibt es für unseren Pfad nur noch eine Richtung: Immer geradeaus am steilen Hang des Gurgler Tals entlang durch die felsdurchsetzten Grasmatten. Wir haben die letzte Vegetationszone der hochalpinen Landschaft erreicht. Ein paar flachere Passagen lassen mich wieder in den Laufmodus fallen, aber im ansonsten beständigen Auf ist schneller Schritt einfach die kraftökonomischere Lösung. Für Abwechslung sorgen munter sprudelnde Bäche, die wir ab und an queren.

Die Sonne brennt vom Himmel, der Schweiß rinnt trotz Außentemperaturen von kaum mehr als 10 Grad in Strömen. Mit zunehmender Höhe empfängt mich zumindest ein angenehm kühlender Wind. Und: Nach dem anfänglichen Höhenluftschock wird es auch mit dem Schnaufen leichter.

Weiter und weiter geht es. Belohnt werde ich mit einem immer weiter reichenden Blick über die einsame karge Bergwelt. Näher rücken die grauweißen Felsriesen im Ausgang des Tales. Auf der gegenüber liegenden Talseite erspähe ich die Hohe Mut. Kaum vorstellbar erscheint, dass man 14 Laufkilometer von hier dort oben stehen soll, und noch schwerer vorstellbar, welcher Weg dorthin führen soll. Aus der Erfahrung vor zwei Jahren habe ich die Gewissheit: Es gibt einen Weg.

Nahe der Küppele-Hütte trifft unser Pfad auf den Kurs, den auch die Marathon- und Ultraläufer nehmen. Für alle lautet die Herausforderung ab hier: 700 Höhenmeter „up“ auf 4,4 Kilometern, bis man als Lohn der Anstrengung am Ramolhaus das Gefühl auskosten darf, aus über 3.000 Metern Höhe die Welt zu überblicken. Vorausgesetzt, man schafft es bis 11:45 Uhr dorthin. Denn das ist unser Zeitlimit.

 

 
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Weithin sichtbar führt der Pfad durch die Bergflanke stetig nach oben, weiterhin gar nicht mal so steil, aber eben beständig. Breiter werden die aus der Höhe stürzenden Bäche, die von Stein zu Stein balancierend zu queren sind, dazu erste kleine Felder aus sulzigem Schnee. Immer dominanter wird die Kulisse der Bergriesen am Ende des Gurgler Tals, immer prägnanter die weißen Flächen des ewigen Eises und die grauweiße Marmorierung der unzugänglichen Berghänge rundum. Tief unten verliert sich das Gurgler Tal in einem geheimnisvollen düsteren Nichts. Weitere Täler, so weltentrückt wirkend wie aus dem fernen Alaska, zweigen von ihm ab, sich irgendwo im Nirgendwo zwischen den Bergkämmen auflösend.  

Erst ist es zu unserer Rechten nur als ferner Punkt hoch oben am Himmel zu sehen, aber langsam und unaufhaltsam rückt es näher: Das Ramolhaus auf 3.006 m üNN, eine der höchstgelegenen Schutzhütten Tirols. Am Südost-Hang des hinteren Gurgler Tals thront sie, einem Adlerhost gleich, auf einem markanten Felskopf hoch über der abschmelzenden Zunge des Gurgler Ferners im Hauptkamm der Ötztaler Alpen. Unwillkürlich fragt man sich: Wie soll man da hinaufgekommen? Denn der extrem steile Hang scheint für uns unbezwingbar. Am Fuße des Steilhangs unter dem Berghaus vorbeilaufend erwartet uns schon bald des Rätsels Lösung.

 

Gipfelsturm zum Ramolhaus

 

An einer unauffälligen Verzweigung unterhalb des Felsenturms wartet bereits ein Helfer und wacht über den Läuferverkehr. Nach links führt der Pfad steil hinunter ins Tal, aber nur für diejenigen, die schon oben waren, geradeaus geht es weiter für die, die sich das Ramolhaus noch erkämpfen müssen. Gewissen Kampfesgeist braucht man für das finale Wegstück zu Gipfel schon. In einem weiten Bogen umrundet ein extrem steiler, gerölliger Pfad den Felskopf. Langsam setze ich Schritt vor Schritt, gebe mir mit den Laufstöcken zusätzlichen Schub und riskiere ab und an einen Blick nach oben. Die grandiose Szenerie gibt mir immer wieder ein Alibi für einen Fotostopp. Auch der Umstand, für die von oben offensichtlich beflügelt mit Tempo herunter Preschenden Platz zu schaffen.

 

 
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Irgendwann ist es auch für mich so weit: Zwei Stunden und 7,6 km nach dem Start in Obergurgl betrete ich die Panoramaterrasse des Berghauses. Wie 2019 werfe ich meine Stöcke und den Rucksack von mir und sauge die Kulisse des wohl grandiosesten Aussichtspunktes unseres Trails ein. Direkt vor mir quillt der Gurgler Ferner, der drittgrößte der noch verbliebenen Tiroler Gletscher, zwischen den bis über 3.500 aufragenden Gipfeln des Ramol- und des Schwärzenkamms gen Tal. Die Schmelze hat zwar auch diesem Gletscher stark zugesetzt, aber immerhin bedeckt das Eis noch eine Fläche von fast zehn Quadratkilometern. Wohin ich auch schaue, füllen die schroffen, grauweiß gescheckten und in der Mittagssonne leuchtenden Felswände das Blickfeld. Umso mehr erscheint das Berghaus wie eine Oase in der Wüste.

Eine Oase, die sich der Umgebung durchaus anpasst. Schon äußerlich robust wirkt der trutzige Bau mit seinen unverputzten, felsgrauen Mauern. Einen freundlichen Akzent setzen die rotweißen Fensterläden. Bereits vor fast 140 Jahren entstanden die ersten Aufbauten und seitdem thront das Berghaus als einsamer Außenposten menschlicher Zivilisation in dieser lebensfeindlichen Ödnis. Eine Oase ist das Ramolhaus für uns auch in anderem Sinne: Denn hier erreichen wir den ersten Verpflegungsposten unserer Tour. Viel gibt es nicht. Aber neben Wasser und Iso ist vor allem die heiße Bouillon eine echte Wohltat. Auf Kirschkuchen und Bienenstich, wie anno 2019, müssen wir heute verzichten. Aber die Magie dieses Ortes ist damals wie heute einzigartig.

Physisch wie mental gestärkt breche ich auf, nun konzentriert, aber mit Schwung den Weg hinab suchend, den ich mir aufwärts vor Minuten erst schwer erkämpft habe.

 

Im Sturzflug hinab in die Gletscherschlucht

 

Eine anspruchsvolle Downhill-Passage steht an. 550 Höhenmeter abwärts gilt es zu meistern, auf einer Distanz von gerade einmal zwei Kilometern, bis tief hinunter in die Schlucht des Gurgler Ferners. Auch diese Passage gehört zu den Highlights des Trails, einerseits optisch, andererseits aufgrund der läuferischen, orientierungs- und auch klettertechnischen Fertigkeiten, die gefragt sind. Zunächst führt mich der Weg über den steilen Geröllpfad zurück zur Weggabelung, jetzt aber in einem Bruchteil der Zeit, die ich hinauf brauchte. Ein wenig bemitleide ich die sichtlich erschöpften Gestalten, die mir bergan entgegen schleichen, wohl wissend, dass ich vorhin denselben Anblick geboten habe.  

 

 
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In steilen Serpentinen setzt sich der ausgesetzte Weg in die Tiefe fort, geradewegs hinein in ein größeres Schneefeld. Der Marsch durch das rutschig-sulzige Weiß fordert den Gleichgewichtssinn. In der umliegenden Melange aus Fels, Matsch und Wasser verliere ich fast die Orientierung, weil   Wegmarkierungen kaum auszumachen sind und mir auch sonst gerade kein „Vorläufer“ den Weg weist. Ein wenig verloren komme ich mir vor im wilden Gletschertal. Aber zumindest weiß ich: Es geht noch weiter hinunter, viel weiter. Und irgendwann sehe ich in der Ferne auch wieder andere einsame Gestalten auf Fährtensuche.

Ich trete ein in eine ganz neue Bergwelt: Rund und glatt geschliffen ist der Fels, durch Mineraleinlagerung farbig nuancierend in verschiedensten Rot- und Ockertönen. Der Gletscher hat hier einst ganze Arbeit geleistet und den Fels formvollendet, fast schon künstlerisch bearbeitet. Stahlseile sind für die Wanderer gespannt, Stahltritte und Griffe im Fels verankert. Pfeile und Punkte lotsen mich durch das verwunschen wirkende Felslabyrinth.

 

 
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Tiefer und tiefer führt der Klettersteig in die Gletscherschlucht. Ganz hinunter muss ich jedoch nicht: Denn seit dem 6. Juli 2017 wird der unwegsame Talboden, zum Schutz der Wanderer vor Steinschlag und Hochwasser, von einer stählernen Hängebrücke überspannt. 142 Meter lang und gerade einmal 70 Zentimeter breit ist die Piccard-Brücke. 82 Meter über dem Canyon der Gurgler Ache schwingt sie sich in 2.465 Meter Höhe kühn von einer Felsseite zur anderen.

Schon von weit oben kann ich einen ersten Blick auf das schmale, aus der Ferne irgendwie zerbrechlich wirkende Band zwischen den mächtigen Felswänden werfen. Und frage mich, wie man es überhaupt geschafft hat, diese Brücke zu spannen. Es dauert aber noch ein Weilchen, bis der winkelige Steig den Weg bis zum Brückenzugang findet.  

 

Schluchtenquerung über die Piccard Brücke

 

9,6 Kilometer liegen hinter mir, als ich den Zugang zur Brücke erreiche. Die Querung ist ein einmaliges, vor allem auch schwankendes Erlebnis. Die Hand an der Reling fühle ich mich wie beim Gang über schwere See. Schwindelfrei sollte man da schon sein. Oder besser durch den Gitterboden nicht hinunterschauen. Während ich vorsichtig hinüber tapse, offenbart sich mir ein großartiger Blick hinein in die Gletscherschlucht bis zur spaltenzerrissenen Zunge des Gurgler Ferners.

 

 
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Ihren Namen verdankt die Brücke einem historischen Zufallsereignis. Vor fast genau 90 Jahren, im Mai 1931 musste der Höhenforscher Auguste Piccard unweit des Standorts der heutigen Brücke mitten auf dem seinerzeit noch deutlich voluminöseren Gletscher notlanden. Als erster Mensch hatte er zuvor mit einem Ballon die Stratosphäre erreicht. In 15.785 Meter Höhe konnte er als erster Mensch mit eigenen Augen die Erdkrümmung sehen. Wegen einer technischen Störung am Ballon musste Piccard jedoch ungeplant notlanden und eine eisige Nacht in der kugelförmigen Kapsel des Ballons auf dem Gletscher verbringen, ehe er wohlbehalten von Obergurglern geborgen wurde. Immerhin hat er das einsame Bergdorf Obergurgl damals weltberühmt gemacht, was man ihm auf diese Weise dankt. Auch in Obergurgl selbst wird seiner mit einem Denkmal direkt vor dem Carat gedacht.

Wer sich möglicherweise fragt, ob wir uns hier auch auf den Spuren des „Ötzi“ bewegen, den muss ich allerdings enttäuschen. Denn das Tisenjoch, einst Fundort der Mumie, befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite der Ötztaler Alpen, unmittelbar an der italienischen Grenze.

 

Trailabenteuer am Schwärzenkamm

 

Am anderen Ende der Brücke angekommen wartet schon der Gegenanstieg über den Schwärzenkamm. Einmal mehr darf ich über Felsklammern am glatten bunten Fels kraxeln, nur jetzt nach oben und nicht mehr ganz so kühn wie auf der anderen Seite. Das heißt aber nicht, dass es nun einfacher würde. Weiterhin spektakulär ist dafür die Aussicht rundum.  

Für kurze Zeit flacht der Weg über die Felsen schließlich ab, gestattet gar ein kleines Höhenläufchen. Aber nur, um dann schluchtauswärts jäh in die Tiefe abzustürzen. Auf einem überaus ausgesetzten, häufig seilversehrten Pfad, setzt sich unser Kurs durch den Felsenhang fort. In engen Serpentinen bewegen wir uns fast nur in der Vertikalen, ohne in der Horizontalen nennenswert weiter zu kommen. Schon beim Briefing war diese Passage eine besondere Erwähnung wert. Aufmerksamkeit und Trittsicherheit sind hier mehr denn je gefragt.

 

 
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Mit entsprechender Vorsicht gehe ich die Passage an. Vor mir, per Luftlinie gar nicht weit weg, thront verlockend bereits unser nächstes Zwischenziel auf einem Hügelabsatz: Die Langtalereck Hütte. Real müssen wir allerdings in einer weiten Schleife erst einmal tief in ein Seitental hinabsteigen und den gegenüber liegenden Hang wiederum erklimmen, ehe wir uns nach gut zwölf Kilometern zurück in der Zivilisation wähnen dürfen. Dank guter Erreichbarkeit ist die schon 1929 auf 2.430 m üNN erbaute Schutzhütte ein beliebtes Ziel auch für weniger sportiv veranlagte Wanderer, um bei wundervoller Lage und Aussicht ins Schwärmen über die einsam-wilde Bergwelt kommen zu können. Auch für uns die Läufer ist ein kleiner Verpflegungsstand aufgebaut, wobei ich mich insbesondere über den Cola-Kick freue und vom leckeren Bienenstich nasche.

Nach den vielen anspruchsvollen Pfaden ist es fast schon ein ungewohntes Gefühl, von hier aus auf einem breiten Naturweg vergleichsweise entspannt und tendenziell abwärts weiterlaufen zu können. So vergeht die Zeit bis zur 3,5 km entfernten Schönwieshütte (2.266 m üNN) ausnahmsweise recht schnell.

Wunderschön ist die Lage der relativ modernen, mit Lärchenschindeln gedeckten Hütte am Eingang zum einsamen, in seinen Formen deutlich weicheren Rotmoostales, durch das ein Bach in einem breiten Kiesbett dahin mäandert. Dominiert wird die Szenerie jedoch von einem 400 Meter hohen, grünen Bergrücken, der sich vor uns aufwölbt. Und auf seiner Kuppe ein weiteres Berghaus trägt.

 

Über die Hohe Mut

 

Ich weiß: Da muss ich jetzt rauf. Es ist die Hohe Mut, das Ziel des gestrigen Prologs und für mich der letzte große Anstieg heute. Inmitten der weiten Almwiesen ist unweit der Schönwieshütte ein weiterer kleiner Verpflegungstand eingerichtet. Ich nutze die Gelegenheit, kurz durchzuschnaufen, ehe ich mich in mein Schicksal ergebe und mich aufmache, den schier endlos lang geradeaus durch den Wiesenabhang führenden Pfad empor zu stapfen.

Immer weiter reicht der Blick aus der Höhe hinein ins Rotmoostal. Die Gerade will einfach nicht enden und wartet zum Finale noch meiner feucht-felsigen Steilpassage auf. Endlich erreiche ich den Hügelrücken, doch noch längst nicht das Berghaus. Über den Hügelrücken setze ich, nun in umgekehrter Richtung und deutlich flacher, meinen Weg fort. Die Kulisse der weißen Bergriesen drum herum ist aus dieser Perspektive aber einmal mehr ein besonderes Erlebnis.

 

 
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Um 14 Uhr erreiche ich nach 18,3 km das Berghaus am höchsten Punkt der Hohen Mut (2.636 m). Dank der exponierten Lage ist sie ein sehr beliebtes und zudem einfach per Gondel von Obergurgl aus erreichbares Ausflugsziel der Region. Einen Rundumblick auf 21 Dreitausender und Gletscher verspricht die Werbung. Und so ist es auch. Großes Bergkino wird von dem erhöht auf dem flachen Bergrücken thronenden Bergrestaurant und der vorgelagerten Sonnenterrasse geboten. Vor dieser Kulisse ist auch für uns angerichtet: Der letzte Versorgungspunkt trumpft noch einmal mit dreierlei Kuchen, einer leckerer anzuschauen als der andere, auf. Ein letztes Mal „dope“ ich mich mit Cola, ehe ich die finale Passage angreife.  

Knapp drei Kilometer liegen noch vor mir, drei Kilometer, in denen meine Beinmuskeln mir auch 600 Höhenmeter downhill verzeihen müssen. Unser Lauf führt uns genau dort hinab, wo im Winter Skifahrer und Boarder den steilen Hang hinunter brettern. Hohe Fangzäune sichern auch im Sommer die Piste. Den Hang in kleinen Kurven und Schritten nehmend versuche ich Schlimmeres für Gelenke und Muskulatur zu verhindern. Besonders dynamisch bin ich damit natürlich nicht.  Vielleicht liegt auch darin begründet, dass meine GPS-Aufzeichnung mir mit 23,95 km eine deutlich längere Strecke bescheinigt als in der Ausschreibung angegeben.

Unter mir blicke ich auf Obergurgl. Fast zum Greifen nahe erscheint der Ort. Und es geht weiter jäh hinab in die Tiefe, geradewegs dem Ziel entgegen. Erst weiter unten läuft unser Laufkurs in gemächlicher abfallenden Wegschleifen aus, ehe wir auf dem ansonsten direktest machbaren Weg in den Ort, wo alles begann, einlaufen.

 

Der Kreis schließt sich

 

Nach 5:28 Stunden stoppt für mich die Zeiterfassung unter dem großen roten Start-Ziel-Bogen vor dem Gurgl Carat. Beifall empfängt die Ankommenden und begleitet sie ins Ziel, musikalisch und mit Namen wird ein jeder vom Zielmoderator begrüßt.

Easy going und Chillen bestimmt die Stimmung im Zielareal. Wer nicht einen der Liegestühle ergattern kann, macht es sich auf dem Asphalt bequem oder sucht sich einen Platz in der nahen Open Air Lounge am Platz. Vor einer Fotowand wird jeder Ankömmling abgelichtet, ein jeder behängt mit einer naturnahen Medaille aus Holz. Nach und nach tröpfeln die Finisher ein, bunt gemischt aus allen Distanzen zwischen 22 und 61 km.

 

 
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Je später der Nachmittag, desto mehr leert sich der Zielbereich. Aber nur vorübergehend. Denn um 17:30 Uhr sind viele wieder da. Frisch geduscht laufen die Teilnehmer samt Anhang in Scharen im großen Saal des Gurgl Carat ein, um ab 17:30 Uhr der Siegerehrung beizuwohnen. Der kühle Chic des Saales bietet dafür einen besonderen Rahmen, auch dank seiner medialen Technik.

Gänsehautfeeling kommt auf, als bildgewaltig ein Videozusammenschnitt der heutigen Veranstaltung über die 21 Meter breite Widescreen flimmert. Erst dann folgt die Ehrung in allen heute gelaufenen Distanzen, gesamt wie in allen Altersklassen. So gab es viele zu ehren, selbst einen wie mich: In die M60 „aufzusteigen“ ist ja per se nicht wirklich erstrebenswert. Aber die Chancen, in der M60 auch einmal aufs „Stockerl“ zu kommen, sind deutlich erhöht. Und so darf auch ich heute eine kleine Granitplatte für einen 3. Platz in der M60 abstauben.

Letztlich ist das für mich aber nur sozusagen das Sahnehäubchen einer Laufveranstaltung, der man ohne Zweifel das Prädikat „besonders wertvoll“ zubilligen muss. Einer Veranstaltung, die man nicht nur abspult und abhakt, sondern die auch das Herz erobert. Die man nicht vergisst und hofft, eines Tages wieder dabei zu sein. 

 

Informationen: Gletscher Trailrun
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