Zwei Tage und zwei Marathons mit zusammen 84,4 km Länge und knapp 4000 Höhenmetern, das ist der Internationale Gondo-Marathon am Simplonpass in der Schweiz. Der beliebte Event in grandioser landschaftlicher Umgebung findet seit 2002 immer am ersten Augustwochenende statt und erinnert an den verheerenden Erdrutsch im Oktober 2000.
Wir reisen aus dem Nordosten vorbei am Bodensee und über den San-Bernardino-Pass nach Locarno am Lago Maggiore. Nach einer kleinen Badepause geht es über ein nettes Sträßchen durch das Centovalli-Tal nach Domodossola in Italien und von dort weiter Richtung Simplon.
Dachte ich bisher immer, die Staatsgrenzen lägen mitten in Flüssen oder auf Passhöhen, so werde ich hier überrascht. Urplötzlich und ohne viele Höhenmeter taucht die Grenze zur Schweiz auf. Direkt dahinter liegt in einem engen Tal die Gemeinde Gondo mit 80 Einwohnern. Auffälligstes Gebäude ist der Stockalperturm, der im Jahr 1684 fertiggestellt wurde und einst als Warenlager und Herberge diente. Heute ist darin ein schönes Hotel untergebracht.
Hinter dem Turm können die Startunterlagen abgeholt werden und ein Verkaufsstand für Trailrunning-Artikel bietet die Möglichkeit zum Last-Minute-Shopping. An dieser Stelle zerstörte am 14.10.2000 ein Erdrutsch mehrere Häuser und riss 13 Menschen in den Tod. Eine Gedenkglocke und eine Hinweistafel erinnern an dieses Ereignis. In der Folge des Unglücks verließen viele Familien das Dorf, sodass auch die Schule geschlossen wurde.
Der Stockalperturm wurde ebenfalls beschädigt und anschließend mit einem neuen Abschluss versehen. Nunmehr können die sechs Etagen auch per Aufzug erreicht werden. Im Dachgeschoss gibt es heute die im Preis enthaltene Pasta-Party und am Samstag vor dem Start auch ein ausgiebiges Frühstück. Die Getränkebecher stiftet die Schweizer Armee.
Wir parken das Auto neben der ehemaligen Schule. Platz gibt es genug. Sort könnte auch gezeltet werden. In zwei Räumen der Schule ist ein Matratzenlager mit Stockbetten für die Nacht vor dem Start aufgebaut. Wem das zu beengt scheint, der kann wie wir mit seiner Matratze in die Turnhalle umziehen. Duschen und Toiletten gibt es ausreichend.
Am Samstagmorgen bereiten sich 74 Doppelmarathonis und 18 Marathonis auf ihren Start vor. Der Gepäcktransport nimmt hier natürlich auch große Taschen mit. Den Schlafsack brauchen wir ja am Abend in Brig, dem heutigen Zielort.
Mollig warm ist es schon in aller Herrgottsfrühe, sodass man mit kleinstem „Marschgepäck“ und leichter Kleidung auskommt. Von Rennleiterin Brigitte Wolf, einer ehemaligen Weltmeisterin im Orientierungslauf, gibt es ein kurzes Briefing, bevor um 8:00 Uhr der Startschuss fällt.
Fünfhundert Meter geht es über die gesperrte Nationalstraße, entlang der Tankstellen, bevor wir auf die Lawinenverbauung hinaufrennen. Im engen Tal der Diveria geht es bergauf. Steil ragen die Berge auf beiden Seiten nach oben. Der Wanderweg schlängelt sich um die Straße. Oft bieten sich schöne Einblicke hinunter in das Bachbett. Zwei Kilometer weiter treffen wir auf das kleine Fort Gondo, das an einer engen Talstelle den Zugang zur Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg sichern sollte. An einem 9-cm-Panzerabwehrgeschütz vorbei geht es durch einen 350 Meter langen Tunnel, gut beleuchtet und hervorragend klimatisiert. Die geringe Höhe erweckt den Eindruck, dass die Schweizer vor hundert Jahren recht klein gewesen sein müssen. Auf jeden Fall ein Erlebnis. Ein Festungsmuseum gäbe es hier auch zu besichtigen.
Kurz danach eine der vielen Brücken der alten Passstraße. Napoleon I erkannte die schnelle Verbindung von Frankreich nach Italien und ließ 1801-1805 eine Straße für Postkutschen anlegen. Die abwechslungsreiche Wegeführung macht mir hier richtig Spaß. Auf der anderen Seite der Diveria liegt die 1805 gebaute Alte Kaserne. Heute befindet sich dort eine Ausstellung zum Simplonpass. Aber dafür fehlt jetzt die Zeit. Kalkofen am Wegrand, verlassene Gebäude.
Das Tal wird breiter und wir befinden uns jetzt auf dem original Stockalperweg. Kaspar Stockalper (1609-1691) war ein Politiker und Unternehmer. Aus angesehener Familie kommend, wurde er in seiner Heimatstadt Brig Notar und Gemeinderat. Im Herbst 1634 führten er und 200 Helfer Marie de Bourbon Condé (1606–1692), die Gattin des Prinzen von Savoyen, zusammen mit vier Prinzen und einem stattlichen Gefolge über den Simplon. Neben einem großzügigen Entgelt erlangte Stockalper dadurch Bekanntheit bei den europäischen Fürstenhöfen.
Die Mitgift seiner ersten Frau investierte er in den Bau des Stockalperwegs und begann damit im Dreißigjährigen Krieg den Warenverkehr über den Simplon zu kontrollieren.
Der Weg selbst wurde in jüngerer Zeit an vielen Stellen mithilfe von Spenden eines Schweizer Pharmakonzerns saniert und kann jetzt von Wanderern bequem in drei Tagen begangen werden. Wir wollen das Ganze mit einem kleinen Umweg heute und am Sonntag wieder zurück vollführen.
Judith und ich sind schon sehr gespannt, wie es uns ergehen wird. Immerhin ist das für uns der erste Doppelmarathon an einem Wochenende. Viele der anderen Teilnehmer, so haben wir in Gesprächen beim Essen erfahren, sind da schon ganz anderes gewöhnt. Die Veranstaltung zieht viele Deutsche an, ebenso natürlich Einheimische, die hier jedes Jahr mitmachen.
Durch den Nadelwald laufen wir dahin. Ein großer historischer Doppelhof liegt an der Wegstrecke. Fast symmetrisch die beiden alten Hofhälften. Vor uns funkeln die weißen Gletscher auf fast 4.000 Meter hohen Bergen. Richtung Westen liegt Zermatt zwei Paralleltäler entfernt. An der Ortschaft Gabi vorbei. Durch grüne Almwiesen geht es weiter bergauf. Gut zwei Kilometer über die alte Passstraße erreichen wir Simplon Dorf. Sehe ich richtig? Ein Dreiergrüppchen verschwindet in der ersten Kneipe, ob zur WC-Nutzung oder zum Frühschoppen, bleibt ungeklärt. Einige Touristen vor einem Café feuern uns an. Der Verpflegungspunkt ist mit vielen Köstlichkeiten ausgestattet. Bananen, Äpfel, Orangen, Linzer Torte, Salzbrezeln und Müsliriegel gehören standardmäßig dazu, und immer ist auch Gel dabei. Zu trinken gibt es Wasser, Iso und Cola, manchmal auch Bouillon. Mindestens alle 10 Kilometer können wir uns auf diese Weise stärken, eine Distanz, die sich bergauf auch mal zeitlich länger hinziehen kann. Bei der Hitze bin ich froh, eine Trinkflasche mitgenommen zu haben.
Gartenzwerge voraus und dazu ganz viele Schweizer Fähnchen. Die lustigen Figuren scheinen in der Schweiz irgendwie dazu zu gehören. Sogar am Gedenkstein in Gondo standen welche. Durch den kleinen Weiler Egga. Die Tür zum Kirchlein steht offen.
Föhrenwälder, Steinmäuerchen am Wegrand. Immer wieder kitschig idyllische Höfe und Ferienhäuser. Dummerweise befinden sich diese manchmal direkt an der Verbauung der Passstraße. Aber für die leidigen Motorengeräusche entschädigt der grandiose Ausblick.
Am Chrummbach entlang. Kilometer 15, 1850 m Meereshöhe: Ein großer runder Talkessel liegt vor uns, beherrscht von einem langen Bau und dem Alten Spittel von Kaspar Stockalper. Die drei oberen Etagen dienten seiner Familie als Sommersitz. Die darunter liegenden gewährten armen Reisenden unentgeltlich Unterkunft samt Verpflegung.
Bei Kilometer 18 holt uns dann die Neuzeit ein: Ein rundes Restaurant an der Straße markiert die Passhöhe. Motorisierte Reisende machen Pause samt Foto und sind meist schnell wieder weg. Wir können uns hier gut verpflegen. Als ich mich anschicke, nach rechts weiter zu rasen, rufen mich die Helfer und Judith zurück: Links geht’s lang. Ansonsten ist die Markierung der Strecke vorbildlich: Gondo-Marathon- oder Gondo-Event-Schilder an Wegweisern, Flatterbänder sowie blaue Punkte und Pfeile. Immer wenn ich mich während des Laufs unsicher fühle, taucht eine Markierung auf.
Der Bau des Simplon-Hospizes vor den Gletschern des Breithorns wurde 1801 auf Befehl von Napoleon begonnen. Am kleinen Hopschelsee, in 2025 m Höhe gelegen und zwei Meter tief, ist viel los. Es wird sogar gebadet.
Viele unterschiedliche Vegetationstypen sind zu sehen: Strauchheide, alpiner Rasen, Hochmoore, vereinzelt Lärchen. Wir erklimmen Meter um Meter. Teilweise ist der Weg von kleinen Kanälen begleitet. Diese Suone genannten historischen Wasserleitungen, typisch für den Kanton Wallis, werden immer noch genutzt und gepflegt. Auf Madeira nennt man diese Wege Levadas. Zwei Läufergruppen sind bei diesem Anstieg unterwegs. Ich schreite rüstig aus und übernehme die Führung. Das Höhentraining des vorletzten Wochenendes hat sich gelohnt: Auch am Bistinenpass auf 2417 m Höhe habe ich noch Luft für ein Liedchen, so schön ist das hier.
Viele neue Bergketten gibt es zu sehen. Auf der anderen Seite des Rhônetals, in das wir jetzt hinunter laufen, liegt die Gebirgsgruppe um die Jungfrau.
Während der nächsten 11 Kilometer können Judith und ich richtig Gas geben. Auf guten Wegen „fliegen“ wir bergab, so zwischen 60 und 100 Höhenmetern pro km. Wir kommen wieder in Nadelwälder. Unter einem künstlichen Wasserfall queren wir zwei Felsrinnen. Bei der zweiten muss man sich bücken, da Geröll auf den Weg gerutscht ist. Die Wege sind breit, aber daneben geht es weit hinunter. Verpflegungspunkt bei km 35 und erste Blicke auf Brig tief unten im Tal. Das zwischen 1651 und1671 erbaute Stockalperschloss mit seinen nach den heiligen drei Königen Kaspar, Melchior und Balthasar benannten Türmen ist gut zu erkennen. Es beherbergt heute das Briger Rathaus und ein Museum. Noch mehr interessiert mich momentan aber das Blau des Freibads. Es ist hier brütend heiß.
Steil hinunter ins Tal der Saltina. Der linksseitige Nebenfluss der oberen Rhône hat die Stadt Brig immer wieder überschwemmt, besonders schlimm nach schweren Regenfällen im September 1993. Bis zu 3 m hoch türmte sich das Geschiebe, das der Fluss transportiert hatte, in der Briger Innenstadt. Auch Nachbargemeinden und ein Industriegebiet standen unter Wasser. Die Katastrophe kostete zwei Menschen das Leben und verursachte einen Sachschaden von einer halben Milliarde Franken. Um Ähnliches in Zukunft zu verhindern, wurde eine hydraulische Hubbrücke gebaut, die bei Hochwasser automatisch angehoben wird. Auch alle anderen Brücken wurden demontierbar gemacht oder sind verschalt. Im Oktober 2000 konnten sich diese Maßnahmen erstmals bewähren.
Wir dürfen zur Erinnerung an die erste Austragung, als die Brücke über die Saltina von einem Unwetter weggerissen worden war, durch den Bach waten. Angenehm kühl. Noch mal Verpflegung, dann mein Abschlusshighlight: Wir müssen wieder 70 Meter steil bergauf, die Nasenspitze fast im Sand. So müssen Wüstenmarathons sein. Judith flucht. Ich finde es super. Oben noch mal was trinken. Dann der letzte nicht enden wollende Kilometer. Glühender Asphalt. Kein Mensch vor den Häusern. Die ersten alten Lärchenholzhäuser im Dorfkern von Ried-Brig. Großer Empfang vor der Schule. Judith und ich haben uns wacker geschlagen und sind dem offiziellen Zielschluss eine halbe Stunde zuvorgekommen. Allerdings ist die Rennleitung – wohl wegen des warmen Wetters – diesmal ohnehin großzügig und belässt auch die gar nicht so wenigen Läufer, die nach 16 Uhr eintreffen, in der Wertung.
Duschen sind bei der Schulturnhalle oder im Zivilschutzbunker unter derselben. Im Bunker herrscht eine Temperatur von angenehmen 21 Grad. Draußen brennt die Sonne, sodass unsere von der Flussquerung durchnässten Schuhe und verschwitzten Textilien im Nu trocknen. Judith möchte einen Spaziergang durchs Dorf machen. Ich decke mich im Supermarkt gegenüber mit Dosenbier ein. Um 17:30 Uhr ein reichhaltiges Abendessen mit Nudel- und Reisgericht, Salat und Dessert in der Turnhalle. Es gibt viel zu erzählen. Und was wird uns morgen erwarten?
Wir machen es uns im Bunker bequem. Einige Mitstreiter sind mit den Matratzen nach oben gegangen, sodass wir viel Platz haben. Die Lüftungspumpe verursacht allerdings einen Höllenlärm. Warum muss das Teil eigentlich im Schlafraum stehen? Egal, wahrscheinlich atme ich hier die sauberste Luft meines Lebens. Ich träume von meiner ehemaligen Wohnung an der Landshuter Allee in München, berüchtigt als Deutschlands Feinstaubhochburg.