Bevor wir morgen auf der zweiten Etappe noch weitere Abschnitte des Stockalperweges kennen lernen, will ich die Pause nutzen, um euch etwas über Stockalpers Leben zu erzählen.
Nach der Ausbildung bei Jesuiten in mehreren Städten kehrte er 1629 im Alter von 20 Jahren in seine Heimatstadt Brig zurück. Hier sammelte er erste Erfahrungen mit öffentlichen Ämtern. Seine Kenntnisse in sechs Sprachen konnte er 1633 bei einer Studienreise nutzen, auf der in Frankreich, Belgien und in den Niederlanden viel über internationalen Handel lernte und Kontakte zu Handelshäusern knüpfte. Als infolge des 30jährigen Krieges Sicherheit und Verkehrsbedingungen auf der wichtigen Handelsroute über den Gotthardpass stark beeinträchtigt waren, dachte er sich, dass der heimatliche Simplonpass eine gute Alternative sein könnte.
Also investierte er sein Vermögen geschickt in den Ausbau dieser Route, auf der er dann den Waren- und Personenverkehr organisierte. 1639 bekam er das Monopol für den Transport aller Transitgüter über den Simplon und 1647 sogar das wichtige Salzmonopol, das ihn vollends reich machte. 1673 bekam er auch das Exklusivrecht für eine Pferdepost, die Mailand und Genf in nur acht Tagen verband. Durch geschicktes Verbandeln wurden einflussreiche Walliser Familien von ihm abhängig, aber auch im Ausland wuchs sein Einfluss und sein Reichtum immer mehr.
Bergwerke, Ländereien, Gebäude kreuz und quer durch Europa festigten seine Macht.
1653 wurde der Stockalper in den Adelsstand erhoben und 1670 Landeshauptmann des Wallis. Er ließ Kirchen, Klöster und Schulen bauen und von 1651 - 1671 entstand in Brig sein schönstes Werk, das Stockalperschloss, dessen dreigeschossiger Arkadenhof unübersehbar mediterrane Einflüsse zeigt.
Wer zu viel Macht und Reichtum anhäuft, muss irgendwann mit Widerstand rechnen. Militärisch oder wirtschaftlich war er kaum zu schlagen, daher verbündeten sich seine Gegner auf andere Weise. Als sein Salzmonopol erneuert werden sollte, klagten seine Gegner ihn beim Landtag an, unter anderem wegen Missbrauch des Salzmonopols, illegaler Erhöhung der Zölle und vieler anderen Betrügereien und Anmaßungen. Um sein Leben zu retten, bekannte sich der Stockalper schuldig, verlor aber seine Macht und große Teile seines Vermögens. Das Stockalperschloss und seine Besitztümer außerhalb des Wallis blieben ihm vorerst noch, doch nach weiteren Anklagen durch seine Gegner musste schließlich nach Domodossola fliehen, wo er 1679-1685 im Exil lebte. Schließlich leistete er Abbitte und starb sechs Jahre später im Alter von 81 Jahren in seinem Schloss.
Der Tag beginnt vielversprechend, denn das Frühstücksbuffet ist gut und es regnet nicht. Ab 7 Uhr starten die schnellsten Läufer des ersten Tages in dem Zeitabstand, den sie gestern im Ziel hatten. Um 7.30 Uhr dürfen dann alle anderen Läufer gemeinsam starten. Gleich nach dem Startschuss habe ich Probleme mit der Kamera. Super! Jetzt hänge ich wieder einmal deutlich hinter dem Läuferfeld!
Doch zum Glück habe ich keinen Muskelkater und bin sogar besser drauf, als gestern. Daher kann ich schnell aufholen und sogar an einigen Läufern vorbei steigen. Auf einigen Abschnitten folgen wir über altes Pflaster dem Stockalperweg. Es folgt ein spektakuläres Stück, wo der Weg hoch über der Saltinaschlucht in die Felsen gehauen ist und an manchen Stellen über Stege oder Brücken an Steilhängen und fast senkrecht abfallenden Felswänden entlang führt. Der Blick in die Schlucht ist atemberaubend.
Über uns stecken die Berge mal wieder in Wolken und ich vermute, dass es dort oben bereits regnet. Als wir bei Schallberg kurz in die Nähe der Straße kommen, sorgen dort ein paar Leute mit Kuhglocken für Stimmung.
Schon nach 3,3 km erreiche ich die erste Verpflegungsstelle. Als Ultratrailer bin ich es nicht gewohnt, dass die Abstände zwischen den Verpflegungsstellen nicht zwei bis drei Stunde sind. Für einige Zeit verlassen wir nun wieder den Stockalperweg und eilen auf schnellen Trails ins Gantertal. Die markante Ganterbrücke der Simplon-Passtraße und die alte Ganterbrücke bilden einen interessanten Kontrast.
Danach geht es wieder über herrliche Bergwaldtrails aufwärts. Und es regnet wieder.
Ein paar hundert Meter weit müssen wir der Straße folgen, zum Glück nicht auf Asphalt sondern auf einem Pfad jenseits der Leitplanke. Nach der Verpflegungsstelle beim Gasthof Rothwald (km 12,7) laufen wir mehr als 200 Höhenmeter abwärts zum Tafernabach, wo wir wieder auf den Stockalperweg treffen, dem wir nun einige Stunden lang folgen können. Die Regenjacke kann ich nun wieder ausziehen, denn die Wolken über mir lichten sich. Nur von den Bergen auf der gegenüberliegenden Seite des Rhonetals sieht man jetzt gar nichts mehr. . Auch Teile unserer Aufstiegsstrecke stecken jetzt im Nebel. Da hatten wir heute Morgen Glück!
Als ich entlang des Tafernabach das Läuferleben genieße, scheint dazu die Sonne. Gleichzeitig regnet es fünf Minuten lang, doch ich sehe nirgends einen Regenbogen. Ich komme am ehemaligen Wirtshaus Zer Taferna vorbei, dessen Wirtin der Sage nach selbst heute noch dafür büßen muss, dass sie ihren Gästen mit Wasser verdünnten Wein servierte.
Welch herrliche Trails! Nach 500 Höhenmetern Aufstieg erreiche ich den Pass, wo Brigitte, die Chefin, das Renngeschehen überwacht. Die Wolkengrenze ist heute deutlich höher als gestern, so dass ich viel mehr Berge der Umgebung sehe. Die höchsten Gipfel stecken aber weiterhin in den Wolken.
Ich trinke schnell Bouillon und Cola, dann eile ich weiter. Während der nächsten 1,5 Stunden laufe ich auf dem Abschnitt des Stockalperweg, den wir bereits gestern von Gabi hier herauf gekommen sind, nur dieses Mal eben bergab. Toll, es so richtig rollen zu lassen! Ich genieße den Lauf auf diesen schönen Trails.
Bei der Verpflegungsstelle in Simplon Dorf fragt mich die anwesende Medizinerin, wie ich mich fühle. Als ich antworte, dass ich die Tage als reinen Genusslauf empfinde, lacht sie und meint, so hätte noch niemand den Gondo Event bezeichnet.
Als ich den Weiler Gabi (km 29,5) erreiche, habe ich viel Vorsprung auf das Zeitlimit. Erst in 90 Minuten sollen hier die letzten Läufer auf die bereits von gestern bekannte Route durch die Gondoschlucht geschickt werden. Die normale Tagesetappe führt dagegen auf einer Variante des Stockalperwegs über den Berg.
Mehr als 500 Höhenmeter anstrengender Aufstieg liegen nun vor uns. Unterwegs erzählt mir ein Läufer, dass er nur für zwei Wochen in der Schweiz ist und in seiner Heimat Trinidad der höchste Berg nur 900 m hoch ist.
Während des Aufstiegs bleibt er hinter mir zurück. Wir kommen an der unscheinbaren Kapelle bei Chrizji vorbei, die den Reisenden als Unterstand bei Schlechtwetter diente.
Bei Furggu steht auf etwa 1880 m die nächste Verpflegungsstelle. Allmählich wird mir die äußerst fröhliche Hilfsbereitschaft der Leute unheimlich. Selbst der Weidezaun wird für uns geöffnet und geschlossen, eine Frau will meine Stöcke halten, damit ich ungestört essen und trinken kann. Als sie sehen, dass einer meiner beiden Stöcke kaputt ist, wollen sie mir Ersatz mitgeben. Leute, ihr seid hier alle wirklich sehr goldig! Freundliche, gut gelaunte Helfer erlebt man ja fast immer. Aber hier beim Gondo Event würden sie dich ins Ziel tragen, wenn du nicht mehr kannst.
Nun geht es auf den letzten zehn Kilometern meist bergab. Am Anfang muss ich leider wieder durch Nebel laufen. Anfangs ist der Weg teilweise kniefressend steil, dann wird es für kurze Zeit flach, danach müssen wir ab und zu auf steilen Treppen bergauf steigen.
Doch dann folgt eine Abstiegsroute, die mich als fanatischen Trailrunner wieder mit Glücksgefühlen überschüttet. Vorbei an kleinen Wasserfällen, wilder Vegetation, mit Blick auf herrliche Wolkenstimmungen, rase ich bergab.
Kurz verlassen wir den Stockalperweg für eine Variante, die zur Kapelle Maria Bru führt, einem regional beliebten Wallfahrtsort. Beim kleinen Sera-Stausee liegt die letzte Verpflegungsstelle. Nun geht es durch herrliche Buchenwälder durch das Zwischenbergtal. Ende des 19. JH erlebte diese abgelegene Region einen letzten kleinen Goldrausch. Zeitweise arbeiteten bis zu 500 Menschen im Bergbau. Heute ist das Tal fast entvölkert. Nur noch etwa 100 Menschen leben hier, obwohl die Gemeinde sogar versucht, mit einem finanziellen Zuschuss das Leben hier zu fördern. Das Unwetter im Jahr 2000 zerstörte auch hier sämtliche Brücken. Inzwischen sind alle wieder aufgebaut. Unterwegs kommen wir an Relikten ehemaliger Minen und Verhüttungsanlagen vorbei.
Noch einen Kilometer bis zum Ziel ist. Gestern kam kurz vor Schluss als Höhepunkt des Tages der steile Aufstieg, heute dagegen geht es auf den letzten tausend Metern sehr steil auf den alten Steinstufen des Stockalperwegs abwärts. Man muss höllisch aufpassen, auf den teilweise nassen und rutschigen Steinen so kurz vor dem Ziel nicht zu stürzen.
Obwohl ich das Gefühl habe, heute schneller gelaufen zu sein als gestern, sind es 20 Minuten mehr. So geht es aber fast allen anderen auch. 62 Männer und 38 Frauen erreichen das Ziel an beiden Tagen. Werner Jordan gelingt dies in insgesamt 8:37 Stunden, Andrea Huser in 9:20. Ich selbst brauche 14:56 dafür.
Im Festzelt am Ziel erschrecken mich mal wieder die Schweizer Preise für Wurstbrötchen und Getränke. Egal, bei Gesprächen mit alten und neuen Lauffreunden wird der Ausklang genossen.
Dann gibt es die Siegerehrung. Jeder Finisher bekommt einen großen Laib Simplon-Käse. Zusammen mit dem bereits gestern erhaltenen Früchtebrot und dem Teilnehmer-Shirt sind also reich beschenkt.
Die zwei Marathons beim Gondo Event waren für mich herrliche Trainingsläufe in nicht zu schnellem Tempo. Ich hatte viel Spaß auf schönen Trails. Mission erfüllt! Vor allem aber: Mission genossen!