Ab dem Simplonpass entspricht die Strecke auf den nächsten 12 Kilometern bis Gabi der des Vortages, nur eben in umgekehrter Richtung. Ging es gestern noch zum Simplonpass hinauf, dürfen wir nun die insgesamt etwa 800 Höhenmeter downhill zurück legen. Und das ist ungleich entspannter.
Berauschend ist einmal mehr die mächtige Bergkulisse rund um den Pass, heute gänzlich wolkenfrei und vom Sonnenlicht ausgestrahlt. Noch einmal ziehen die weiteren Highlights dieses Abschnitts an mir vorbei. Einmal mehr begeistert mich das lilafarbene Blütenmeer auf dem Weg hinab, vorbei am „Alten Spittel“. Ziemlich flott geht es über das Chrummbachtal weiter nach Egga und Simplon Dorf. Irgendwie erwarte ich den kollektiven Streik meiner Beinmuskeln, aber der will nicht kommen. Das gibt mir Hoffnung für das, was mich jenseits der Verpflegungsstelle bei km 30 nahe Gabi erwartet.
Auf die Läufer wartet als besonderes „Schmankerl“ zum Abschluss der steile Aufstieg zum Furggu mit 700 Höhenmetern auf drei Kilometern und anschließendem ebenso steilen Abstieg und Auslauf über das Zwischbergental nach Gondo. Dieser Streckenteil ist für mich absolutes Neuland, nachdem der Lauf 2009 wegen eines Unwetters in Gabi abgebrochen wurde. Mit respektvollem Raunen äußerten sich bisher all die Läufer, die diesen Abschnitt schon kennen. Und so mache ich mich auf einiges gefasst, auch wenn ich frisch gestärkt durchaus motiviert bin, diese Hürde zu meistern.
Von Anfang an zeigt der Pfad nur ein Gesicht: Er ist steinig und er ist steil, und das permanent über 50 lange Minuten hinweg. Mit Stockeinsatz und gleichmäßigem Stapfschritt stelle ich mich der Herausforderung. Anfangs bietet der Wald noch eine gewisse Kühle, aber im offenen Gelände der Wiesen weiter oben brennt die Sonne und der Schweiß fließt in Strömen. Froh bin ich, trotz der dichten Versorgung unterwegs eine gut gefüllte Wasserflasche dabei zu haben.
Die mentale Belohnung: Ein wunderbarer Ausblick über einsame Hütten und Kapellen tief ins Tal hinab und hoch zu den Bergen. Die erste halbe Stunde geht es mir eigentlich richtig gut, aber dann merke ich doch, wie Kraft und Lust schwinden. Ja, diese Steigung nach 72 Gesamtkilometern ist eine wahre Zumutung, aber eben auch das gehört hier dazu. Immer mehr muss ich mich überwinden, meinen Schritt zu halten, drücken die Beine und keucht der Atem. Aber dann höre ich auf einmal Trompetenklänge von oben. Ja, diese sind ein finales Motivationssignal. Denn nicht nur ein Trupp engagierter Helfer feuert jeden Ankömmling von der Passhöhe aus an, sondern auch ein persönliches Ständlein wird jedem kredenzt.
Leid und Glück liegen oft nahe zusammen. Das kennen passionierte Läufer zu gut und das kann man den verschwitzten wie erleichtert-lachenden Gesichtern ablesen, die auf dem Furggu (1.872 m üNN) eintrudeln und im Schatten des Verpflegungspostens Entspannung suchen.
Ein besonderes Wegstück ist das nun folgende, hinab ins Zwischbergental führende. Einsam und ruhig ist es, nur das Zirpen der Grillen tönt durch die Luft. Goldgeld wiegt das hohe Gras im Wind, Wogen warmer Luft wabern hindurch. Einfach, weil steil, ist der Weg auch hier nicht, aber wie selten findet man innere Ruhe. Tief eingeschnitten liegt das scheinbar unberührte Tal vor mir, von dichtem Grün umrahmt.
Mal in engen Serpeninen, mal in langen Geraden am Hang entlang zieht sich der Pfad. Und damit wir nicht aus der Übung kommen, fordern ab und an teils kräftige Gegenanstiege die Kondition. Langsam, aber sicher naht doch der Talgrund. Immer dichter wird der Wald und üppiger die Natur. Oberhalb des Türkisblau eines Stausees führt der Weg in die felsiger und schroffer werdende Schlucht hinein. Großes Wasser nennt sich breite Bergbach, der durch den Talgrund führt
Nach 38 km haben wir diesen fast erreicht. Ein kurviger Pfad führt im Tal durch eine bizarre Berglandschaft. Ein Highlight sind die Ausblicke ins Bachbett, in dem der Bach die Felsen an seinen Ufer in fantasiereichen Formen ausgewaschen hat. Noch einmal überquere ich das Große Wasser über eine Holzbrücke, da zeigt ein Schild die Zahl „1500“ an. 1500 Meter sind es also noch bis zum Ziel. Und die sind zum Schluss nochmals richtig spannend. Denn von hier eröffnet sich durch das Blätterdach des Waldes ein besonderer Blick auf Gondo. Noch viel gewaltiger als im Ort selbst ist der Eindruck, wie sich die Häuser des Dorfes unter dem übermächtigen Fels geradezu ducken. Ängstliche Gemüter dürften schon bei diesem Anblick Beklemmungszustände bekommen.
Aus der Ferne höre ich schon den Lärm und die Lautsprecherstimme vom Festplatz an der Doveria. Über steile Stufen muss ich mir noch den Weg durch das Dickicht im Abhang bahnen, ehe ich im Talgrund nach einer letzten Kurve geradewegs auf dem Festplatz einlaufe. Wie schon gestern: Der Empfang ist überaus persönlich und geradezu herzerwärmend. Glückwünsche aus allen Richtungen erwarten den Ankömmling und man ist sofort mitten im Trubel des gut gefüllten Festzelts, wo man es sich bei Bier und Grillgut gutgehen lässt.
Ein finales Highlight ist die „Rangverkündung“ um 16:15 Uhr. All die noch anwesenden Läufer stellen sich außerhalb des Zeltes in einem großen Halbrund vor dem mit Naturalien dicht gefüllten „Gabentisch“ auf. Denn nicht nur die Gesamt- und Altersklassensieger werden launig geehrt, sondern alle Finisher persönlich aufgerufen und mit einem Laib Simplonkäse belohnt. Auch das ist eine Geste, die die Einmaligkeit dieser Veranstaltung unterstreicht. Wer sich ein besonderes Berglauferlebnis gönnen will, kommt an Gondo einfach nicht vorbei.
Urs und Stephanie haben übrigens souverän auch den zweiten Lauf und damit das Gesamtrennen gewonnen. Den Streckenrekord von 7:44 Std., aufgestellt durch Martin Schmid im Jahre 2011, hat Urs Jenzer mit 7:56 Std. allerdings nicht brechen können. Vielleicht im nächsten Jahr.