An meinem Platz im Stockalperturm, dort, wo wir am Freitagabend gemütlich zusammensitzen, klaffte am Abend des 14. Oktober 2000 eine große Lücke. Nach tagelangen Regenfällen hatte ein Erdrutsch nicht nur einen Teil dieses historischen Bauwerks, sondern die Hälfte Dorfes Gondo mit- und dreizehn seiner Bewohner in den Tod gerissen.
Der kleine Grenzort, geografisch und im sonstigen Bewusstsein der Eidgenossen an der Peripherie gelegen, rückte ins Zentrum der Aufmerksamkeit und der Solidarität. Die Hilfe der Schweizer Bevölkerung hat verhindert, dass mit dieser Katastrophe die Lichter in Gondo endgültig erlöschen. Die Wiederherstellung der zerstörten Bauten war aber nur ein Teil der Aufbauarbeit. Die Trauerarbeit über den Verlust von Angehörigen, Freunden und Nachbarn ist eine ganz andere Sache.
Zum Gedenken an diesen schicksalsträchtigen Tag findet an diesem Wochenende das 9. Internationale Gondo Event statt. Die erste Austragung des Gedenklaufs bot den Gondonesern erstmals nach dieser schwierigen Zeit die Möglichkeit, bei einem gemeinsamen Anlass zusammenzusitzen und so etwas wie festliche Stimmung aufkommen zu lassen.
Das Gondo Event bedeutet nicht nur zwei Marathons in zwei Tagen mit je 2000 Höhenmetern, es bedeutet auch gemütliches Zusammensein in familiärer Atmosphäre vor und nach dem läuferischen Tagwerk. So wie eben am Vorabend, wenn nach der Anreise, der Ausgabe der Startnummern und dem Bezug des Massenlagers zum Diner geladen wird. Pasta Party wäre eine nicht der Gediegenheit des Anlasses angepasste Bezeichnung. Die Walliser Gastfreundschaft schließt auch Rot- und Weißwein ein, der nicht verachtet wird, womit auch gesagt ist, dass das Gros der Teilnehmenden nicht zur Rekordjagd angereist ist.
Mit meiner in der Armee gesammelten Erfahrung ziehe ich mich zum Übernachten in die Zivilschutzanlage zurück. Diese Bunker lösen in mir kein Unbehagen aus, denn sie waren die einzigen Orte, die damals erstens Schlaf und zweitens Trockenheit versprachen. Entsprechend schlafe ich herrlich dem Morgen entgegen.
Das Frühstück im Stockalperturm kann es mit dem jeder Edelherberge aufnehmen. Ich glaube nicht, dass viele von uns sonst vor einem Marathon so feudal zu frühstücken pflegen.
Nach dem Räumen des Schlafplatzes und der Abgabe des Gepäcks bleibt noch ausgiebig Zeit, die Gespräche vom Vorabend weiterzuführen und sonst ringsum ein paar Worte zu wechseln.
Bei angenehmen äußeren Bedingungen versammelt sich das Teilnehmerfeld um 08.00 Uhr zum Briefing. Brigitte bestätigt, dass wir bestes Laufwetter erwarten dürfen. So, wie die Sonne sich zwischen den hohen Felswänden hinunter nach Gondo zwängt, gibt es keinen Zweifel, dass wir mit einem herrlichen Tag beschenkt werden.
In der ersten Startreihe ist eine gewisse Nervosität auszumachen, dahinter ist unter der oberflächlichen Entspanntheit auch leichte Unruhe zu spüren. Ich glaube, es ist die Freude darüber, dass es jetzt gleich auf zu einem besonderen Lauferlebnis geht.
Die Siegläufer preschen vorne weg, der Rest des Feldes geht es gemächlicher aber doch auch zügig an. Der erste Marathon dieses Wochenendes beginnt gleich mit einem Anstieg hinauf auf die Hauptstraße, dort ein Stück weiter und dann auf den Wanderweg hinein in die Gondoschlucht. In diesem Felseinschnitt gibt es nicht viel Platz, so verwundert es auch nicht, dass der Weg streckenweise auf dem Dach der Schutzgalerie über der Straße verläuft.