Wir durchqueren die Felsenge der Schlucht von Gondo, deren strategische Bedeutung die eidgenössische Militärverwaltung vor 180 Jahren zum Bau einer Festungsanlage veranlasste. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts und während des 2. Weltkriegs wurde die Festung zu einem riesigen Fort ausgebaut, welches bis Mitte der 90er Jahre als mehr oder weniger geheime Anlage im Dienst der Landesverteidigung stand. Die Führung in dieser zur Stiftung Ecomuseum gehörenden Anlage verschiebe ich auf einen späteren Zeitpunkt und begnüge mich mit den 350m des Stockalperweges, welcher durch das Fort führt. Auch sonst wechselt der Untergrund häufig, von Trail über Treppen, Gitterstege und kurze Straßenabschnitte ist so ziemlich alles dabei, was man sich denken kann.
Es sind kurzweilige erste fünf Kilometer, bis sich die Schlucht gegen den Simplonpass hin öffnet und auf der gegenüberliegenden Seite der Doveria die von Napoleons Leuten begonnene „Alte Kaserne“ zu sehen ist. Wer mit dem Auto unterwegs ist, kann auf dem Parkplatz daneben einen Rast einschalten und sich im Gebäude über die Verkehrswege über den Simplon informieren, vom Saumpfad Stockalpers über die napoleonische Fahrstraße bis zur Nationalstraße und den Eisenbahntunnel durch den Simplon.
An alten verfallenen Gemäuern vorbei und durch einen lichten Lärcherwald kommen wir in die Nähe des Weilers Gabi. Wer den Eindruck hat, das Gondo Event sei ihm mit den bisher überwunden 350 Höhenmetern zu flach, dem ist es freigestellt, einen Abstecher zum Klettersteig bei Gabi zu machen und sich dort in den Gneis des Simplongebiets zu klammern.
Auf den Asphalt geklammert sind die Automobilisten auf dem tiefstgelegenen Übergang der Westalpen. Sie müssen sich heute eine Weile gedulden, denn wir überqueren die Straße auf unserem direkteren Weg hinauf nach Simplon Dorf. Das kurze Stück auf der Straße zum Dorf hin ist in Sachen Untergrund eine der großen Ausnahmen an diesem Tag.
Beim Dorfeingang kommt für mich eine Überraschung: Statt auf dem gestuften Weg zwischen den in italienischem Stil gebauten und von leuchtenden Geranien verzierten Häusern zum Dorfplatz zu laufen, werden wir auf der Straße durch das Dorf geführt. Ich vermute mal, dass die dortigen Belagsarbeiten der Grund dafür sind. Statt auf dem Dorfplatz stehen die Zuschauer nun der Straße entlang und anerkennen die Leistung der Teilnehmer mit ihren Zurufen.
Ausgangs Dorf geht es gleich wieder einen Wiesenweg hoch. Bis zur Passhöhe gibt es nur noch ein kurzes asphaltiertes Straßenstück, welches am Werkhof des Bauunternehmers und Hauptsponsors vorbeiführt, ansonsten gibt es für sehr lange nur noch pure Natur unter die Füße. Es ist wieder ein Marathon, der einen in ein Dilemma bringen kann. Die Beschaffenheit des Wegs erfordert große Aufmerksamkeit, diese möchte man jedoch lieber der Landschaft und Aussicht schenken. Bleibt also nichts anderes übrig, als den Zeitverlust in Kauf zu nehmen, zu verlangsamen oder zum Fotografieren gar stehen zu bleiben. Belohnt wird man mit Postkartenbildern.
Ein solcher Anblick ist immer wieder das Alte Hospiz, landläufig als „Alter Spittel“ bekannt, ein Bauwerk Stockalpers, 1650 auf der Grundlage des 1325 erstmals erwähnten Johanniterspitals erbaut und bis zur Errichtung des Neuen Hospiz im Jahre 1831 Beherbergungsort für Wanderer und Kaufleute.
Der langgestreckte Bau unterhalb ist neueren Datums. Initiant des nach ihm benannten Hauses war Pater Barral, der hier an sonniger Lage, in gesunder Luft einen preisgünstigen Bauplatz für ein Ferienheim fand. Seine Pläne, dem Gebäude auch eine Brauerei für Bergbier einzugliedern, wurden weder damals noch später umgesetzt. Zwischenzeitlich hat die Missionsgesellschaft „Bethlehem“ das Gebäude an die Armee verkauft. Ob damit eine bessere Zukunftsperspektive geschaffen wurde…?
Bis zur Passhöhe ist es nicht mehr weit und dort warten der vierte Verpflegungsposten mit seinen liebenswürdigen Helferinnen und Helfern und die Rennleiterin. Die reichhaltige Verpflegung deckt meine Bedürfnisse bestens ab: mein auf den Erfahrungen des vergangenen Jahres basierende Entschluss, außer der Kamera keinen weiteren Ballast mitzutragen – und sei er noch so nützlich – erweist sich als richtig.
Seit einiger Zeit bin ich alleine unterwegs, vor allem vorne sehe ich niemanden, zu dem ich aufschließen könnte. Den Trail hoch zum Bistinenpass habe ich ganz für mich und meinen Rhythmus.
Unterwegs hole ich dann doch noch zwei Läufer ein. Einer von ihnen ist Vinzenz, der Senior an der Veranstaltung und einer der treuen Teilnehmer seit der ersten Austragung.
Die Szenerie, die Strecke, der Untergrund – mir gefällt einfach alles, was mir heute zuteil wird.
Auf der Passhöhe, mit 2417 Metern ü. M. der höchste Punkt der beiden Marathonstrecken, werden wir von den Freiwilligen wieder mit Speis und Trank versorgt und nach unserem Wohlergehen befragt. Im Gegensatz zu anderen nachfolgenden Läufern verweile ich etwas länger hier oben, dann machen wir uns zu zweit auf den Abstieg ins Nanztal, nicht ohne vorher noch den Ausblick auf die Berner Alpen durch die klare Luft zu verinnerlichen und zu fotografieren. Der markanteste Gipfel des Panoramas ist das Bietschhorn, welches allerdings auf Walliser Boden und auf der Grenze des UNESCO-Weltnaturerbes Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn steht.