Die Läuferin, welche im Sauseschritt vorbeizieht, ist nach kurzer Zeit weit unten nur noch als heller Punkt auszumachen. Ich nehme es gemütlicher, denn ich weiß, dass die Kniegelenke mir meine Bemühungen um Beibehaltung der vertikalen Körperstabilität durch Drosselung der Geschwindigkeit danken werden.
Weiter unten meldet ein stattlicher Bulle seinen Anspruch auf Wegbenutzung an, indem er sich dort breit macht. Rücksichtnahme ihm gegenüber, in Form von gemächlichem Schritttempo, fällt mir sehr leicht, was er mir durch demonstratives Nichtbeachten dankt. Seine Haremsdamen sind da wesentlich neugieriger und - naturbelassen wie sie mit ihren Hörnern sind - auch nicht zu ignorieren.
Trotz der zwischenzeitlichen Verlangsamung - in diesem Falle gehen meine Schuldzuweisungen auf eine Kuhhaut, ja sogar auf mehrere - sind die 600 Höhenmeter bis auf den Talboden schnell abgebaut. Kurz nach der Überquerung der Gamsa taucht schon der nächste Verpflegungsposten mit dazugehörendem Kilometerschild auf. Zwei Drittel der Distanz liegen hinter uns, ebenso die meisten positiven Höhenmeter. Abgesehen vom Schlussfeuerwerk warten auf dem letzten Drittel nur unwesentliche Gegensteigungen, der Rest ist Gefälle.
Zu zweit laufen wir weiter, doch schon bald höre ich von hinten, dass ich für mich zulaufen soll. Nach dem erneuten Wechsel der Talseite laufe ich die nächsten sechs Kilometer ohne Sichtkontakt zu anderen Teilnehmern. Bis zum Verpflegungsposten Schratt führt der Weg, bis auf einen kürzeren Abschnitt zur Einmündung ins Rhonetal, welcher als Forststraße ausgebaut ist, auf einem Trail dem Hang entlang durch den Nadelwald. Die Gewalt der Natur ist an Geländeveränderungen durch Murgänge, Schutzverbauungen und eine Holzbrücke zu erkennen, welche einem Mahnmal gleich als Totalschaden gesperrt ist, aber immer noch den Abgrund überspannt.
Kaum labe ich mich am Verpflegungsposten im Schatten der Bäume, kommt von hinten Anna angebraust, greift schnell zu und eilt im Sauseschritt weiter. Ich nehme dies als Ansporn, die letzten sieben Kilometer nicht zu bummeln, und versuche ihr zu folgen. Bis endlich ein Abschnitt mit mehreren Gegensteigungen kommt, ist das auf dem abschüssigen Weg ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.
Die für uns gesperrte Brücke über die Saltina ist schon von weit oben zu sehen. Weit entfernt ist sie nicht mehr, umso steiler ist der Weg, der zu ihr in die Schlucht hinunterführt. Entsprechend stark spüre ich die Schläge und die Tatsache, dass ich an jeder Trankstelle zur Genüge für die Hydration meines Körpers gesorgt habe. Aber wer will denn so kurz vor dem Ziel noch Zeit beim Pinkeln verplempern?
Die Querung der Saltina ist durch die Fachleute der Feuerwehr mit zwei Halteseilen bestens gesichert und überwacht. Viel Wasser führt der kleine Fluss nicht, zudem ragen einige Steine aus dem Wasser. Mit spritzigen Beinen und ohne Kamera in der einen Hand wäre es vermutlich sogar möglich, dieses Hindernis trockenen Fußes zu überwinden. Für mich gibt es also geflutete Treter und den Eindruck, als gebe es an meinen Füßen nur noch eine Reflexzone. Diejenige, die auf kaltes Wasser anspricht und direkt auf die Blase wirkt.
Ich bekämpfe Gleiches mit Gleichem und schütte am letzten Verpflegungsposten erst recht nochmals zwei Becher in mich hinein, danach hefte ich mich wieder an die Fersen von Anna, die trotz Krämpfen bei der Wassertreterei den Schwung des letzten Abstiegs mit auf die letzten zwei Kilometer nimmt. Der lauschige Weg entlang einer Bisse ist nicht lang, dann müssen wir rechts hoch, um noch einen Hauch Wüstenmarathon mitzunehmen. Zum Glück ist trotz des strahlend blauen Himmels die Temperatur moderat. Dieses kurze Stück wäre sonst, so wie es der Sonne ausgesetzt ist, höllisch heiß. Auch bei den jetzigen Verhältnissen ist die Wärmebelastung über der Komfortzone.
Ein kurzes Stück geht es noch durch den Wald, in welchem ein sprudelndes Bächlein für Kühlung sorgt. Das darauf folgende Schild, welches verbleibende 1500 Meter anzeigt, verbessert das Wohlbefinden auch. Bis zum Dorfzentrum sind auf der Straße noch ein Kilometer zurückzulegen; ein kleines Pflichtprogramm zum Abschluss einer großartigen Kür.
Die letzten 500 Meter und ins Ziel laufe ich mit Anna. Wenn ich nicht wüsste, dass sie mit Krämpfen zu kämpfen hat, würde ich sagen, sie habe diesen ersten Marathon locker hingelegt. Auf jeden Fall wirkt sie so.
Nach dem Bezug der Unterkunft, der Zivilschutzanlage in der Mehrzweckhalle, dem Wettkampfzentrum in Ried-Brig, und einer wohltuenden Dusche setze ich mich auf dem Parkplatz zu den früher Angekommenen, die es sich auf den Festbänken bei Speis und Trank gut gehen lassen. Die Gespräche werden immer wieder unterbrochen, wenn der Sprecher einen weiteren Zieleinlauf ankündet, und das Unterqueren des Zielbanners wird mit anerkennendem Applaus bedacht.
Während in der Zwischenzeit Laufschuhe in Reih und Glied an der Sonne trocknen, sitzt man gemütlich beisammen und erfährt unter anderem so manches Detail von anderen Veranstaltung, die auch noch auf der Wunschliste stehen.