Säße ich an den Marketing-Geldtöpfern eines Herstellers für Outdoor-Bekleidung oder Trailrunning-Ausrüstung, würde ich in diesem Sommer vorwiegend auf Bannerwerbung bei Wetterportalen setzen.
Gebannt klicken sich Heerscharen von Wanderern, Trekkern und Läufern durch die Wetterprognosen verschiedenster Anbieter. Jede Mausbewegung ist ein Flehen, ein Bitten, ein Winseln um Gnade, immer in der Hoffnung, dass derjenige, welcher Mete-o-ptimismus verbreitet, auch der ist, welcher den nachfolgenden Tatsachen am nächsten ist. Bei mir wären die Werbeausgaben allerdings schlecht angelegt. Ohne das Mantra aufzusagen, dass es kein schlechtes Wetter gibt, nur schlechte Kleidung, bin ich diesbezüglich bestens ausgerüstet. Außer vielleicht gegen vulkanischen Ascheniederschlag.
Ich richte meine Aufmerksamkeit also auf die Inhalte der Wetterportale und erweitere dabei mein Wissen in Erdkunde. Wetter in Gondo. In welchem? In Nigeria, Angola, Mozambique, Kongo oder doch im Wallis? Am liebsten Letzteres, obwohl es auch dort Cholera gibt. Echt? Ja, aber von der harmlosen Sorte. Es handelt sich um einen Kuchen mit kräftig angerösteten Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln und Käse. Und die Anreise ist eindeutig unbeschwerter und vor allem kürzer. In meinem Fall etwas mehr als fünf Stunden, dann habe ich die Schweiz von Norden in den Süden durchquert und in Brig erst noch fast eine Stunde Aufenthalt bei einem Eis eingebaut. Nicht weil ich es so will, es war der Wille des Fahrplanplaners.
Es gäbe an diesem Wochenende noch andere Berglaufabenteuer in der Schweiz. Was das eine zu kurz, ist mir das andere zu lang, zudem habe ich so viele schöne Erinnerungen an meine beiden bisherigen Teilnahmen, dass ich mich liebend gerne über den Simplon ins Grenzdorf Gondo fahren lasse. Dort, wo im Oktober 2000 ein Erdrutsch eine wüste Schneise ins Dorf gerissen und Tod und Verwüstung gebracht hat, trifft sich vor dem Tourismusbüro eine Hundertschaft gut trainierter Läufer, um die Startunterlagen abzuholen. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, dass ich jedes zweite Gesicht - die Mehrzahl davon aus Deutschland angereist – kenne. Wenn auch sonst alles im Fluss ist, hier beobachte ich eine enorme Konstanz. Das muss wohl seinen Grund haben. Oder mehrere Gründe.
Das Dachgeschoss des Stockalperturms, der beim damaligen Unglück zur Hälfte mitgerissen wurde, ist eine stimmige Umgebung für das erste gemeinsame Nachtessen in Form einer gepflegten Pastaparty. Wie dieses Gebäude wieder instand gestellt wurde, ist in meinen Laienaugen eine der gelungensten architektonischen Symbiosen von alt und neu.
Zum Schlafen wird mir, im Vergleich zu meinen militärisch gefärbten Erinnerungen an Übernachtungen in Zivilschutzanlagen, schon fast Sternekomfort geboten. Wir sind nicht viele, die den Bunker gewohnt sind und das Grundgeräusch des Lüftungsgebläses irgendwelcher Schnarcherei vorziehen. Im Bettenlager im Schulhaus gibt es als Alternative dazu das Rauschen des Wasserfalls, was offensichtlich die weitaus begehrtere Kulisse ist.
Der erste der zwei knackigen Tagen beginnt, wie der Vorabend beschlossen wurde: Mit feinem Essen im Stockalperturm. Das üppige Frühstücksbuffet bringt die Energie in Fluss. Gepäckabgabe, Streckenbriefing, lockeres Beisammensein statt Spektakel, dann geht es auch schon los, hoch zur Hauptstraße und wenig später auf dem Stockalperweg durch die Gondoschlucht.
Abwechslungsreiches Trailrunning ist gegeben. Zwischen den steilen Felswänden ist am Grund der Schlucht kaum mehr Platz als Doveria, Straße und Pfad benötigen. Latente Steinschlaggefahr, Furten, welche nach heftigem Regen unüberwindbare Hindernisse sind, spröde Schönheit des Gesteins und Senken, in welchen das Wasser des nur spärlich rinnenden Flusses in verschiedenen Grün- und Blautönen schimmert; es ist eine Mischung aus Faszination, Bedrohung, welche mich in ihren Bann zieht. Dazu passt auch, dass der Stockalperweg durch das Fort Gondo führt, eine über hundertjährige Festungsanlage, deren Vorläufer weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Auf diesen 350 Metern erleben wir optimale Temperaturbedingungen, bloß das Gewölbe ist etwas niedrig.
An der Verpflegungsstelle wenig später wird bereits Iso und Gel gereicht, Auftakt zu einem Reigen gut sortierter Verpflegungsstellen.
Die Alte Kaserne auf der andern Talseite und doch nur einen Steinwurf entfernt – ebenfalls ein Relikt aus Napoleons Aktivitäten am Simplon - kündigt an, dass Gabi nicht mehr weit entfernt liegt, wo sich die Landschaft zum Simplon hin öffnet. Fünf Kilometer sind zurückgelegt. Wie viel Zeit ich dafür gebraucht habe? Keine Ahnung, ich laufe ohne Uhr, einfach nach Gefühl und Befinden. Die sagen mir, dass das Frühstück mittlerweile dort angekommen ist, wo es gebraucht wird und nicht mehr in meinem Magen drückt.
Ich wäre nicht ehrlich, wenn ich nicht zugeben würde, dass es jedes Mal ein erhabenes Gefühl ist, wenn eine Hauptverkehrsachse wegen uns Läufern stillgelegt ist. Die Feuerwehr ist großzügig. Auf keinen Fall soll ein Läufer verlangsamen oder gar warten müssen, nur damit die Passfahrer sich weniger lang gedulden müssen. Kleiner Stau auf der Straße, das Feld im Fluss.
Nicht nur unter den Füßen sind ab jetzt die Höhenmeter intensiver zu erleben. Auch fürs Auge heißt es: „Wo Berge sich erheben.“ Auf einem Hausdach steht ein Zuschauer mit optimalem Ausblick auf das Renngeschehen. Auch bei seiner Silhouette ist oberhalb der Gürtellinie ein ordentlicher Hügel auszumachen…