Die kurzen, heftigen Anstiege sind da, um den Abstieg zur Saltina so kernig wie möglich zu gestalten. Steil ist der Weg und mit Wurzeln und Steinen durchsetzt. Für müde Beine eine ziemliche Herausforderung. Ich lasse also die Mutter der Porzellankiste ihres Amtes walten. Man hat ja noch Ziele – undifferenziert ausgedrückt. Etwas differenzierter und ganz auf mich bezogen ist es zum Beispiel der morgige Marathon zurück nach Gondo.
Wäre das dichte Grün nicht so akkurat zurückgestutzt, der letzte Teil des Weges zur Saltina könnte auch in einem fernen Dschungel liegen. Ob dort die Feuerwehr zur Sicherung bereitstehen würde, glaube ich nicht. Hier tut sie es und hat im Gegenzug dafür die Brücke über die Saltina gesperrt. Auch auf dieser Seite des Simplons hat seinerzeit das Unwetter gewütet und hier die Brücke weggerissen. In Erinnerung daran wird beim Gondo Event die Saltina traditionell per pedes überquert und Stammgast Markus pflegt das jeweils mit einem Bad zu verbinden. Für die heißgelaufenen Bremsen und die brennenden Fußsohlen ist die Abkühlung eine Wohltat. Die inwendige Erfrischung gibt es gleich danach am Verpflegungsposten.
Bis die gefürchtete Abzweigung kommt, geht es mit flutschenden Schuhen im Schatten des Waldes weiter. Wie wenn das, was jetzt dann kommen wird, nicht genug wäre, liegt noch ein Baumstamm quer über den Weg. Würde ich nicht vor Eric Tuerlings (Anm. d. Redaktion: Veranstalter des berühmt-berüchtigten Keufelskopf Ultratrails) liegen, ich wäre überzeugt, dass er sich den ausgedacht hat.
Dann kommt ein dramaturgisch genialer harter Schnitt. Von einem Moment zum anderen findet ein Wechsel statt von beschaulichem Wald im Stil von Robin Hood zu einer Szenerie des Wilden Westens. Kleinwüchsige Föhren, Wachholder und Gestrüpp säumen den brutal steilen Trampelpfad, der nur aus losen Steinen und Staub, schwimmend auf nicht existierenden Untergrund, zu bestehen scheint. Gnadenlos knallt die Sonne auf diesen Hang und würde ich einem ausgebleichten Tierskelett begegnen, hätte ich nicht das Gefühl, Opfer einer Halluzination kurz vor Erreichen des Ziels zu sein.
Der Staub klebt wie eine Panade außen an den nassen Schuhen und drinnen ist der Siedepunkt auch schon bald wieder erreicht. Wie gut, gibt es 1500 Meter vor dem Ziel nochmals die Gelegenheit, die Beine in einen Bach zu stellen. Der letzte Kilometer ist der längste. In der prallen Sonne geht es auf der Straße in den Ort hinein. Ried-Brig, Altersheim, sagt die Tafel an der Bushaltestelle. Ich fühle mich für den Moment so, wie wenn hier mein Ziel wäre. Ich warte, bis Bernd wieder aufschließt und trotte mit ihm weiter, bis wir uns wieder zum Laufen aufraffen können und gemeinsam ins Ziel trudeln.
Einen Platz im Bunker aussuchen, heiß und ausgiebig duschen, und dann bleibt trotz langer Laufzeit noch der halbe Nachmittag, um in der Sonne zu sitzen, in der kleinen Festwirtschaft etwas zu essen und zu trinken und den weitern Ankömmlingen Applaus und Respekt zu zollen.
Nach dem schmackhaften Abendessen in der Mehrzweckhalle zieht es einen ganzen Tross zum Schlummertrunk ins Restaurant um die Ecke. Einsetzender Regen vertreibt uns zwar von der Terrasse in die Gaststube und zwingt uns, länger sitzen zu bleiben. In der Hoffnung, dass damit das Nässekontingent für die nächsten 24 Stunden schon ausgeschöpft sei, verziehe ich mich doch noch zeitig in den Schlafsack und wünsche mir beim Einschlafen, dass es morgen äußerlich trocken und sonst so flüssig weitergehen wird.
Die Zivilschutzanlage war wieder nur mäßig belegt. Viele Matratzen wurden am Vorabend nach oben gebracht und im oder vor dem Schulhaus ausgelegt. Für uns im Bunker gab es aber noch einen anderen Grund als der üppige Platz, der uns zugestanden wurde, warum wir friedlich dem zweiten Tag des Gondo Events entgegenschlummern konnten. Von der Sintflut morgens um Vier haben wir nicht ein Donnergrollen mitbekommen.
Ohne zusätzliches Bangen und Ängste um die sonntägliche Wettersituation – die Vorhersage verteilte ja auch keine berauschenden Zensuren – tauche ich aus dem Untergrund auf und konstatiere gegenüber dem Vortag eine Abkühlung und einige größere Wolkenlücken. Ich bin zuversichtlich, dass es gut kommt.
Beim gemeinsamen Frühstück informiert uns Brigitte, dass auf der Südseite des Simplons spätestens am Nachmittag Gewitter und Schauer zu erwarten sind. Die Zauberformel lautet also: Je schneller, je trockener. Mal schauen, was sich machen lässt. Es gibt zwar auch heute keine Pflichtausrüstung, trotzdem binde ich mir sicherheitshalber die Regenjacke um. Für eine möglichst optimale Trittsicherheit ziehe ich mir die flachen Schuhe mit der gut haftenden Gummimischung an. Über die nassen Steine und Felsblöcke, von welchen es nicht wenig haben wird, bin ich damit gut bedient.
Während nach und nach auch Teilnehmer fürs Gondo Running, einem Bewerb über 28km, eintreffen, gehen um 7.00 Uhr die beiden Schnellsten des ersten Tages, Anita Lehmann und Max Frei, auf die Strecke. Innerhalb der ersten dreißig Minuten gibt es einen Jagdstart. Für Max bedeutet dies, dass der Zweitplatzierte acht Minuten später die Verfolgung aufnimmt. Anitas Vorsprung ist so groß, dass auch die Zweitschnellste erst mit dem Rest des Feldes um 07.30 Uhr loslegt.
Im Gegensatz zu gestern will ich auf diesem Parcours die Riemchen etwas enger schnallen und setze mich nicht erst am Ende des Feldes in Bewegung. Es geht nochmals zwischen alten Häusern im Dorf durch, dann beginnt die Steigung in Richtung Schallberg. Bald sind wir auf dem felsigen Trail, von welchem aus man sehr bald tief ins Tal und in die Schlucht schaut. Pfaden vom Feinsten folgen wir hinein ins Gantertal, bauen Höhenmeter ab und dann kommt ein Abschnitt, gegen welchen sich in meinem Kopf schon beim Gedanke daran ein Riegel im Kopf quergestellt hat. Die Schlaufe unter der neuen, das Tal hoch oben überspannenden Ganterbrücke durch, zur alten Brücke und dann der Aufstieg bis zum Widerlager der neuen Brücke auf der anderen Talseite sind für mich der heutige Pflichtteil. Alles andere ist Kür.