Unter der Brücke führt der Rennarzt das Herdenbuch der Laufschäfchen und freundliche Helfer versorgen uns mit Flüssigem und Festem. 33 Kilometer sind es bis ins Ziel und ich weiß, dass es bis dort kaum einen Meter gibt, der nicht meinem Gusto voll und ganz entspricht. Die folgenden vier Kilometer bestehen fast ausschließlich aus Waldwegen und führen zu einer weiteren Kuppe des im Gegensatz zu gestern nicht so gleichmäßigen Höhenprofils.
Rothwald heißt dieser Punkt, wo auch die Speicher gefüllt werden können. Bis das Gel seine Wirkung entfaltet, kann man es zum Talgrund der Taferna rollen lassen. Besonders unten sollte man die Konzentration mehr der Bodenbeschaffenheit als Gesprächen widmen, sonst wir der Stockalperweg zum Stolperweg. Ich habe Glück, dass meine Flugeinlage mit einer mirakulösen Landung auf den Füßen endet.
Obwohl ich mich in der Folge stark auf den Weg konzentriere, nehme ich mir genügend Zeit, die Augen immer wieder über das herrliche Stück Natur in der Morgensonne schweifen zu lassen.
Auf dem Simplon erwarten uns einige Zuschauer und eine weitere Verpflegungsstelle. Gel, Bouillon, Cola, Wasser. In dieser Reihenfolge tanke ich und lege für meine Verhältnis einen Formel 1-Boxenstop hin.
Auf dem Hügel rechts oben sitzt der neun Meter hohe Adler aus Granitblöcken, eines der Wahrzeichen des Simplons. Auch wenn die Schwingen Seinesgleichen zu einer andern Liga gehören, ist es ein gutes Gefühl zu spüren, dass meine läuferische Mauser vorbei ist und ich wieder Flugfedern zur Verfügung habe, die mich mit Zug weitertragen. Weiter nach Simplon Dorf und Gabi, auf elf von gestern bekannten Kilometern.
Wie vorhergesagt, ist der Himmel auf der Südseite wolkenverhangen, Wolken, welche ihre Fracht nicht länger zurückbehalten. Dem Verpflegungstisch in Simplon Dorf mache ich bereits als bis auf die Haut durchnässter Vogel meine Aufwartung. Da sich keine Kälte zur Nässe gesellt, macht es mir nichts aus. So lange es nicht gewittert.
Kaum gedacht, schon gehört. Es ist ein entferntes, aber es ist ein Donnergrollen, welches zu vernehmen ist. Die Geschichte hat sich schon genügend wiederholt. Muss das ausgerechnet jetzt wieder geschehen?
Beim Verpflegungsposten in Gabi stelle ich dann hoffend und bangend die Abbruchfrage. Weder Safety Car noch Rote Flagge sind angesagt. Erleichtert schüttle ich das Gefieder und mache mich ans Erklimmen des Furggu. Technische Daten dieses letzten happigen Anstiegs: Grob gesagt 3 Kilometer und 600 Höhenmeter. Passend zu diesen verschärften Bedingungen öffnen sich die Schleusen des Himmels noch etwas mehr, womit wenigstens einer allfälligen Überhitzung vorgebeugt ist. Immer wieder donnert es, mal heftiger, mal weniger. Mit den umliegende Bergen und dem von ihnen verursachten Widerhall ist nicht auszumachen, woher das Gewitter kommt und wohin es zieht. Im Schutz der Kapelle stehen zwei Wanderer voller Einsatz für uns. Sie feuern an, machen uns Mut und verbreiten Zuversicht, dass alles gut kommt. Eine Kerze haben sie angezündet, die Fürbitte ist unterwegs. Da kann niemand sagen, sie hätten uns nicht nach allen Kräften unterstützt.
Auf dem letzten Kulminationspunkt angekommen, schicke ich einen ersten Dankesseufzer nach oben, denn meine Bedenken waren umsonst, das Rennen läuft immer noch. Den zweiten gibt es für die sich bessernden Wetterverhältnisse. Über dem Zwischbergental hängt zwar Nebel, dafür sorgt er für schöne, stimmungsvolle Bilder. Auf fünf Kilometern ist auf schmalen Pfaden für viel Abwechslung gesorgt. Dem steten Abbau der Höhenmeter stehen ein paar Anstiege entgegen, die es so richtig in sich haben.
Das Angebot der letzten Verpflegungsstelle bei Kilometer38 schlage ich aus. Meine Trinkflasche ist noch voll und den Schwung nehme ich gleich mit auf das Schlussstück. Wellig ist der Weg, über Weiden und durch den Wald, über Bäche und an Häuserruinen vorbei. Der Wechsel zurück auf die andere Talseite ist mit einem Schild geschmückt, das den Anbruch der letzten 1500 Meter verkündet. Noch eine kurze Steigung und dann geht es rollend auf der Straße bis zum nächsten Schild. Von da an wird die Stufe aus dem Zwischbergental zur Doveria hinunter mehrheitlich auf einer Naturtreppe aus Steinblöcken überwunden. Ein paar Meter geht es noch auf ebenem Grund, dann laufe ich unter dem Banner durch, von welchem aus ich vor –wie viel? – Stunden gestartet bin.
Auskunft gibt die Rennuhr. Am zweiten Tag sind 30 bis 45 Minuten längere Laufzeiten zu veranschlagen. Mein Ziel war es, nach dem langsamen, wohltuenden Flow des Vortages heute zuzulegen und diese zusätzliche Zeit nicht zu benötigen. Donner und Doveria, das ist mir aber gelungen! Sogar 22 Minuten weniger hat mein Flug zurück nach Gondo gedauert und mir eine ganze Menge Spaß gemacht.
So individuell die Ziele der Teilnehmer auch sind, hinter jedem Namen in der Gesamtrangliste versteckt sich eine große persönliche Leistung. Diese wird bei der Rangverkündigung entsprechend gewürdigt. Alle werden geehrt und können die Heimreise mit einem Laib Käse zur weiteren Stärkung antreten.
Erneut kann ich sagen, dass das Gondo Event für mich einen besonderen Stellenwert hat. Es ist ein läuferisches Familientreffen und das Gute ist, man ist nicht nur durch Abstammung oder Heirat berechtigt daran teilzunehmen. Wer will, der darf. Und wer es einmal tut, der kann sich einer Wiederholung kaum entziehen.
Falls die Bedenken und der Respekt vor einem Doppel-Bergmarathon zu groß sind und man diese mit jemandem teilt, kann man sich ab nächstem Jahr das Rennen teilen. Das Schwierigste dabei wird die Entscheidung sein, wer am ersten Tag und wer am zweiten Tag an den Start geht. Eine tolle Möglichkeit, Teil dieses faszinierenden Anlasses zu sein, ist es allemal.