Vielen Schweizern war Gondo lange nur als Grenzort auf der Fahrt über den Simplon nach Süden bekannt. Ein kleines Dorf, eingeklemmt zwischen Felswänden, dessen weitere Besonderheit der im 17. Jahrhundert erbaute Stockalperturm war. Ich nehme mich davon nicht aus und hatte damit die gleiche Wahrnehmung, wie sie 1904 im Band II meines mittlerweile bekannten Geographischen Lexikons der Schweiz geschildert wurde:
Trotz seiner bescheidenen Bevölkerungsziffer hat das Dorf Gondo (858m) durch seine strategisch wichtige Lage mitten zwischen den wildesten Engpässen des Simplon eine gewisse Bedeutung erlangt. (…) Das an eine tief-dunkle Felswand sich anlehnende und mitten zwischen tiefen Schluchten und schäumenden Wildbächen stehende Gondo besteht aus nur wenigen Häusern, die sich um einen am rechten Ufer der Diveria stehenden hohen viereckigen Turm schaaren.
Nach der heute gebräuchlichen Bezeichnung steht dieser Turm zwar links des Flusses, der nun Doveria heißt, ansonsten hat sich nicht viel geändert. Richtig ins Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung kam das Dorf im Oktober 2000, als nach heftigen Regenfällen ein Erdrutsch die Hälfte des Dorfes Gondo zerstörte und 13 Menschen in den Tod riss.
Knapp zwei Jahre nach der Katastrophe fand unter dem Motto "Gondo soll wieder leben" das erste Gondo Event statt. Der zweitägige Lauf Anfang August war Anlass für das das erste Dorffest der Einwohner seit der Katastrophe.
In mein läuferisches Bewusstsein trat dieser Anlass erst im vergangenen Jahr, als ich mich nach erstmaliger erfolgreicher Teilnahme am Swiss Alpine nach weiteren solchen Herausforderungen in den Bergen umsah.
Nachdem ich mich im April zur Probe an einen Doppeldecker herangewagt und ihn gut überstanden habe, reise ich zuversichtlich, trotzdem mit einigem Respekt, am Freitag mit Bahn und Bus nach Gondo. Dass ich auf einen Haufen erfahrener Marathonisti treffen würde, war mir schon beim Absuchen der Startliste nach mir bekannten Namen klar. Und so ist der erste andere Teilnehmer, mit dem ich unterwegs ins Gespräch komme, Walti Schäfer, einer der beiden Organisatoren des Trans Swiss Runs im September.
Als wir in Iselle aus dem Simplontunnel kommen, schlägt uns tropisch feuchte Luft entgegen und im gut besetzten Postauto schwitzen wir uns das letzte Teilstück nach Gondo. Das Tourismusbüro ist heute das Rennbüro, und wer seine Startunterlagen schon hat, setzt sich gemütlich auf den kleinen Dorfplatz und sorgt für einen ausgeglichenen Flüssigkeitshaushalt.
Das als Gruppenunterkunft dienende ehemalige Schulhaus ist schon gut belegt, weshalb ich mein Gepäck in die Zivilschutzanlage bringe. Die Vergangenheit holt mich ein, als ich beim Eingang an der Beschriftung Wachlokal und an den Gewehrrechen vorbei komme. Unzählige Wochen meines Lebens habe ich in solchen Truppenunterkünften verbringen müssen und hatte mir geschworen: „Nie wieder!“ Und jetzt marschiere ich hier freiwillig und in freudiger Erwartung in den Bunker ein. Eigentlich müsste jede Ausschreibung zu einem Marathon die Warnung enthalten: Achtung Laufen kann ihr Leben nachhaltig verändern!
Zur Pastaparty geht es dann in das Dachgeschoss des Stockalperturms, der nach der teilweisen Zerstörung bei seinem Wiederaufbau in einer harmonischen Einheit von Alt und Neu zu einem architektonischen Schmuckstück wurde. Welch drastischer Wandel gegenüber seiner Erscheinung Anfang letzten Jahrhunderts:
Dieser 7 Stockwerke umfassende und 1650 (eigentlich 1666-1685) von Kaspar Stockalper als Zufluchtsstätte für die hier Durchreisenden erbaute Turm bildet heute einen Teil eines Gasthauses mit Verkaufsmagazin, macht aber eher den Eindruck eines Gefängnisses als den einer gastlichen Wohnstätte. Vor dem Bau der neuen Strasse wurden alle Waren mit Maultieren über den Simplon geführt, so dass es bei schlechtem Wetter oft vorkam, dass Hunderte von Lasttieren mehrere Tage lang im Wirtshaus von Gondo auf den Weitermarsch warten mussten.
Das war früher; wir auf jeden Fall sitzen gemütlich bei einem guten Essen zusammen und lassen uns die im Wallis unverzichtbaren Dôle und Fendant schmecken.
Der Schlummertrunk und das monotone Surren der Bunkerlüftung lassen mich schnell guten Schlaf finden und entsprechend fällt mir das Aufstehen in der Früh einfach. Und es lohnt sich schon vom ersten Moment an. Ich traue meinen Augen nicht, als ich das opulente Frühstücksbuffet im Stockalperturm sehe, das für uns aufgebaut wurde. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Stockalperturm am "Best of Swiss Gastro Award" erneut mit dem 2. Platz und auf Jahresbeginn mit dem Qualitäts-Gütesiegel für den Schweizer Tourismus Stufe I ausgezeichnet wurde.
1. Tag Gondo - Simplon Dorf
Beim Briefing vor dem Start kann uns Brigitte Wolf mitteilen, dass sich auch die Wetterbedingungen an unsere Wünsche halten werden. Die Atmosphäre vor dem Start ist ruhig, friedlich und entspannt. Nichts von nervösem hektischem Getue und Drängeln um die besten Startplätze. Jeder Anwesende weiß, auf was er sich da einlässt und dass heute erst die erste Fuhre in die Scheune gebracht wird. Der Gemeindepräsident hält stolz die große Walliser Fahne, als wir auf die Reise geschickt werden.
Wir sind noch nicht einmal richtig in die Gondoschlucht eingetaucht, das schwitze ich schon wie ein Bär. Sitzend und mit geschlossenen Augen würde ich mich eher in einem tunesischen Hammam als am Simplon wähnen. Der Blick auf die Felswände und Steine, hinab in den Fluss und hinüber zur Straße zeigen, dass ich an einem Ort in den Bergen bin, wo die Natur das Sagen hat und der Mensch sich zwar mit immer besseren Techniken vor ihr zu schützen, sie aber keinesfalls zu bändigen vermag.
…die 5km lange, prachtvolle und grossartige Schlucht von Gondo beginnt, deren stellenweise nahezu senkrecht aufstrebenden Felswände vielfach 700m bis 900m Höhe erreichen.
Und wie wenn der Kampf mit den Naturgewalten nicht schon reichen würde, können es die Menschen nicht lassen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Im Bestreben, dies nicht zuzulassen, haben sich die Vorfahren mit der Natur verbündet und in diesen Hindernissen eine Festung angelegt. Unser Weg führt uns unmittelbar in sie hinein. Dass es nicht einfach ein Fußgängertunnel ist, wird gleich beim Eingang deutlich, wo immer noch eine Mitrailleuse aufgebaut ist.
Dass Leben hier ist kein Ponyhof ist, wird auch an den Warnschildern deutlich, die den Aufenthalt auf gewissen Abschnitten des Weges verbieten. Und auch die befestigten Furten, in denen noch vom letzten Schauer mitgeschwemmtes Geröll liegt, machen deutlich, dass da bei Niederschlag etwas abgeht.
Je mehr wir uns Gabi nähern, desto weiter wird das Tal wieder und ein Blick ins Laggintal endet am Horizont bei den Gipfeln, hinten denen das Saastal mit seinen Viertausendern liegt. Wenn die Touristen auf der Simplonstraße sonst nicht viel bis gar nichts von unserem Laufabenteuer mitbekommen, so müssen sie sich hier gedulden, denn hier überqueren wir die Straße und haben Vortritt. Nach einem weiteren Stück Naturweg geht es dann bis Simplon-Dorf auf Asphalt weiter. Auf dem neu gestalteten, schlichten, schönen Dorfplatz steht ein weiterer Verpflegungsposten und dann geht es weiter über Egga, hinauf zur Passhöhe.
Simplon Dorf - Simplonpass
Das von sich schnell verändernden Wolken hervorgerufene Lichtspiel macht den Wechsel von Wiesen und Waldstücken auf diesen acht Kilometern noch kurzweiliger, und schon bald kommt der Alte Spital in Sicht.
Nachdem dann das Hospiz eingegangen war, liess Graf Kaspar Stockalper aus Brig ums Jahr 1650 auf dem Simplon ein turmförmiges Haus (den heute von Hirten bewohnten sog. Alten Spital) erbauen, dessen drei oberen Stockwerke er für sich und seine Familie als Sommerwohnung einrichtete, während er im untersten Stockwerk die armen Durchreisenden aufnahm und unentgeltlich verpflegte.
Die heute mit roten Startnummern versehenen Durchreisenden gehören zu den Privilegierten, trotzdem werden sie wenig später auf der Passhöhe wieder mit Speis und Trank versorgt.
Die Temperatur auf 2000m Höhe ist immer noch ganz angenehm und da sich die Sonne mittlerweile gegen die Wolken weitgehend durchgesetzt hat, ist zu erwarten, dass sich daran bis zum nächsten Teilziel, dem nochmals vierhundert Meter höher gelegenen Bistinenpass nicht viel ändern wird. Nur den Blick zurück aufs Massiv des Monte Leone versperren ein paar sich hartnäckig an der Bergflanke festgekrallte Wolken und das Simplonhospiz versteckt sich davor im Widerlicht der Morgensonne.
Simplonpass - Bistinenpass
Der Bergpfad benötigt viel Aufmerksamkeit, aber der Blick auf den Boden wird mit einer farbenprächtigen Alpenflora links und rechts des Weges belohnt. Ich kann mich nicht erinnern, Anfang August noch einen solchen Bergfrühling erlebt zu haben. Verwunderlich ist es nicht, denn je höher wir kommen, desto näher sind wir an großen Schneefeldern und an Orten, wo das Gras noch nicht dazu gekommen ist, sein winterliches Braun abzustreifen. Diese leuchtende Farbensymphonie wird durch den stahlblauen Himmel über dem Horizont noch verstärkt.
Imposant ist dann der Ausblick, der sich einem nach dem Verpflegungsposten bei Km 23 am höchsten Punkt der heutigen Marathonstrecke auftut. Ich lasse den Blick zum Rhonetal und zu den Berner Alpen schweifen und verzichte zugunsten der Aussicht darauf, mich auf den folgenden Kilometern vom Schub des Abstiegs hinunter ins Nanztal treiben zu lassen.
Bistinenpass - Nanztal
Obwohl das Tal im oberen Verlauf bei der grasreichen Nidristi Alp mit seinem Talgrund still und friedlich wirkt, sind überall Spuren zu sehen, die einen Eindruck geben, wie hier bei starken Niederschlägen das Wasser wüten kann. Der Weg führt uns nach dem Verpflegungsposten weiter der Gamsa entlang, bis sich diese tief in eine Schlucht frisst. Gegenüber den alten Beschreibungen hat sich hier nicht viel geändert:
Vom W.-Fuss des fortwährend seine Schuttmassen zur Thalsohle hinuntersendenden Faulhorns an erhält das Thal den Namen des Gamseki- oder Nanzthales und ist beständig zwischen stark von Runsen zerfressenen und mit Wald bestandenen steilen Felshängen eingeschlossen, an deren Fuss der Wildbach Gamsa sich seine tiefe Schlucht ausgewaschen hat. Dieser Thalabschnitt gehört zum Bezirk Brig und ist nur auf hoch über der Thalsohle sich hinziehenden Wegen zugänglich.
Diesen Weg zu unterhalten, muss eine Sisyphusarbeit sein. Die freigeschaufelte Passage durch einen Murgang und das zersplitterte Holz einer gesperrten Brücke zeugen davon. Wehe, wenn die Natur hier losgelassen wird.
Nanztal - Ried Brig
Dass mir die sieben Kilometer bis zum nächsten Verpflegungsposten so lang vorkommen, liegt vermutlich an der eindrucksvollen Strecke. Neu erfrischt und mit einem Ausblick das Rhonetal in Richtung Sprachgrenze und hinab aufs nahe Brig geht es auf die letzten sieben Kilometer. Mittlerweile ist die Sonne kräftig zu spüren und ich bin dankbar für die vielen Bäume, die mir Schatten spenden. Auf diesem Abschnitt unterhalte ich mich mit Grainne aus Dublin, die ebenfalls vor einer Woche am K78 teilgenommen hat. Für sie – wie für zahlreiche andere Teilnehmer auch – ist das Gondo Event eine weitere Vorbereitung auf Chamonix.
Ich bin gespannt auf die Querung der Saltina, die uns zwei Kilometer vor dem Ziel erwartet, und habe mich bereits entschieden, keine Memmenvorstellung abzugeben, also mit Strümpfen und Schuhen diesen Härtetest über mich ergehen zu lassen. Wobei, viel Härte braucht es bei dieser Temperatur nicht. Wer sich jetzt nicht nach einer Abkühlung sehnt, den kann ich nicht verstehen.
Leider fällt das Kampfkneippen heute aus, offenbar ist die Strömung zu stark, als dass die Feuerwehr es vertreten könnte, uns durch diesen Wildbach zu führen. Wem die Getränke am Verpflegungsposten nicht reichen, der kann sich nach der Brücke gleich in die Suone legen… Nachdem er sich schon unter einem Wasserfall geduscht hat, wählt Markus auch diese Option.
Vermutlich empfindet er dafür die Hitze beim unbarmherzigen letzten Anstieg nicht so erschlagend wie wir anderen. Auf dem steilen, staubigen Weg sehe ich mich zurückversetzt in die kalifornische Wüste. Kakteen am Wegrand würden mich jetzt nicht einmal an meinem Verstand zweifeln lassen.
Ein kurzes Stück noch durch den Wald – immer brav aufwärts – und dann kommt das Schild mit dem Hinweis, dass es nur noch 1500m bis ins Ziel sind. In der Mittagshitze nehme ich es auf der Straße hinein nach Ried-Brig gemütlich. Jedes Quäntchen Energie, das ich hier nicht verspiele, könnte morgen vielleicht den Unterschied machen.
Ried Brig
Ein paar Sekunden zu früh überquere ich beim Schulhaus die Ziellinie, sonst hätte ich auf der Zeitanzeige lauter Fünfen gesehen. Lauter Einsen gibt es bis hierher für die Organisation (was in der Schweiz einer Sechs entspricht). So kann ich im Ziel ein paar Becher Flüssiges in mich hineinschütten, nebenan mein Gepäck holen und duschen gehen. Mit erstaunlich lockeren Beinen setze ich mich nachher in die Festwirtschaft und lasse mir eine Bratwurst und Pommes schmecken und stoße mit einem kühlen Bier mit Klaus Sobirey auf unseren ersten gemeinsamen Einsatz als Laufreporter an.
Dabei können wir immer wieder bei weiteren Zieleinläufen applaudieren.
Im Nu vergeht die Zeit und es ist schon wieder Zeit fürs Nachtessen. Ein Salatbuffet, Reis und Teigwaren mit verschiedenen Saucen und Piccata Milanese werden uns aufgetischt, schmackhaft und von allem reichlich. Der warme Sommerabend zieht viele nach dem Nachtessen wieder nach draußen und so sind die Terrassen und Gärten der umliegenden Restaurants bald von munter plaudernden Läufern bevölkert.
Aber auch das kühle Bier kann die in mir gespeicherte Wärme nicht entziehen. Entsprechend bringt mir mein Entschluss, mich früh schon in den Bunker zurückzuziehen und mich ausgiebig auf den kommenden Tag hin auszuruhen, nicht das gewünschte Ergebnis. Ich habe Mühe, Schlaf zu finden und habe den Eindruck, als dauern meine Schlafphasen jeweils nur wenige Minuten.
2. Tag - Start in Ried Brig
Trotzdem fühle ich mich beim Aufstehen ziemlich fit und gehe gespannt nach oben zum Frühstück. Und ein weiteres Mal wird uns mehr geboten, als ich mir vorgestellt habe. Mehr als genug von allem für alle und die Auswahl ist groß. Da der erste Start aber schon um 7.00 Uhr ist, bleibt etwas weniger Zeit, zumal uns Brigitte Wolf eindringlich bittet, nicht das Wetter vor der Tür als Maßstab für die zu wählende Kleidung zu nehmen. Der Simplonpass liegt bereits in Wolken und in Gondo sind schon die ersten Tropfen gefallen.
Ich nehme mir diesen Hinweis zu Herzen, modifiziere mein Outfit und binde mir zusätzlich noch eine Jacke um. Bis alles gerichtet, die Startnummer am anderen Hemd befestigt und der Rucksack fertig gepackt ist, ist es fast schon Zeit für den Startschuss.
Für die schnellsten gibt es einen Jagdstart. Lizzy Hawker und Martin Schmid gehen als erste ins Rennen, die Nächstplatzierten mit dem Rückstand vom Vortag. Nach insgesamt einer halben Stunde wird dann das ganze Feld losgeschickt. Schrecklich eilig hat es niemand, die Strecke wird es schon richten…
Ried Brig - Ganterbrigga
Es ist nicht nur die Steigung, die kurz nach dem Start beginnt, auch die morgendliche Wärme treibt mir innert kürzester Zeit Schweißperlen ins Gesicht. Bald sind wir wieder auf abenteuerlichen Wegen am Hang hoch über der Saltina, hinauf nach Schallberg, wo ich dankbar zwei Becher Iso entgegennehme und einen fotografierenden Kollegen von laufspass.com kennenlerne.
Von Weitem ist die Ganterbrücke der Simplonstraße zu sehen. Kaum haben wir wieder den Talgrund erreicht, schreiten wir unter diesem imposanten Brückenbauwerk untendurch, zu dessen Besonderheiten die geschwungene S-Form und die größte Spannweite aller Schweizer Brücken zählen. Von da an geht es wieder aufwärts, denn direkt unter der Fahrbahn der Brücke ist auf der anderen Talseite der nächste Verpflegungsposten.
Ganterbrigga - Furggu
Bevor wir den nächsten Anstieg nach Rothwald in Angriff nehmen können, müssen noch zwei Gefällstrecken mit einem Zwischenanstieg bewältigt werden. Während ich bergab immer wieder einge- und überholt werde, kann ich, wenn es steil wird, auf- und überholen.
Von Rothwald hinunter nach Taferna schließen aber wieder alle bekannten Gesichter auf. An diesem Verpflegungsposten sehe ich Läufer, die ich bisher nicht wahrgenommen habe. Kein Wunder, es sind Teilnehmer des Gondo-Runnings und -Walkings, die eine halbe Stunde nach uns auf die 28km lange Strecke über den Stockalperweg direkt nach Gondo gestartet sind und auf welche wir nach unserem Umweg ins Gantertal hier treffen.
Von Taferna auf den Simplonpass ist der Weg auf mich zugeschnitten. Auf dem idyllischen Bergweg komme ich richtig in Fahrt und fühle mich bei meiner Ankunft auf der Passhöhe fit für die nächsten 25km. Was sich vorher mit einzelnen Tropfen abgezeichnet hat, beginnt jetzt in zunehmender Intensität. Begleitet von fernem Donnergrollen regnet es immer stärker. Kurz vor Egga gibt es auch am Boden kein Entrinnen vor dem Wasser. Der Weg ist mittlerweile zu einem kleinen Bach mutiert und die Füße, bislang einziger Körperteil mit einem Restgefühl von Trockenheit, flutschen ganz ordentlich in den Schuhen rum. Die Temperatur empfinde ich in Anbetracht der Höhe und des Starkregens immer noch als angenehm und deshalb bleibt die Jacke um den Bauch gebunden.
Mit dem starken Regen in den Augen, habe ich eingangs Simplon-Dorf kleine Orientierungsschwierigkeiten. Obwohl es erst 24 Stunden her ist, dass ich hier vorbeikam, kann ich mich nicht mehr erinnern, welchen Weg ins Dorf ich nehmen muss. Vom Balkon eines Hauses bekomme ich Lotsendienst und ziehe weiter. Trotz strömenden Regens stehen Zuschauer an der Straße und feuern mich an.
Wieder auf dem Dorfplatz, stärke ich mich bei den der widrigen Witterung trotzenden Helfern nochmals mit Gel und Iso für die bekannte Strecke hinunter nach Gabi. Sobald die Straße verlassen wird, wird es matschig und rutschig. Selbst mit seinen Stöcken kann es der Läufer vor mir nicht verhindern, dass es ihn in den Schlamm schmiert. Während er am nächsten Brunnen sein Erscheinungsbild aufzubessern versucht, suche ich mir in vorsichtigem Trab meine Spur hinunter zur Simplonstraße, wo der Verkehr wieder aufgehalten wird – das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt nicht im Fluss ist.
Am gleich anschließenden Verpflegungsposten trennen sich die Strecken für den Doppelmarathon und das Gondo Running. Für mich geht es rechts ab, für die Runner auf dem mir bekannten Weg zur Gondoschlucht. Ich werde nochmals darauf hingewiesen, dass auf den nächsten 600 Höhenmetern kein Verpflegungsposten zu finden und es deshalb ratsam ist, allfällige Flaschen noch aufzufüllen. Wegen dem Trinken habe ich keine Bedenken, das Nass strömt in solchen Mengen vom Himmel, doch einen weiteren Gelschub erachte ich als angebracht. Und dann geht es hinein in den Wald und an den Berg.
Bald hole ich wieder einen weiteren Teilnehmer ein, mit welchem ich schon mehrmals die Position gewechselt habe. Als Einheimischer hat er sich vorher mit einer Dose Bier versorgen lassen, die mich am Vortag vielleicht auch in Versuchung gebracht hätte, nicht aber bei diesen Verhältnissen. Über dem Wald zucken Blitze und der kräftige Donner folgt kurz danach. Ein untrügliches Zeichen, dass die Gewitterzelle in unmittelbarer Nähe ist. War es zuerst ein flottes Rinnsal, das mir auf dem Weg entgegenkam, kann das, was mir jetzt über die Füße strömt, als kleiner Bach bezeichnet werden. Dass ich gut bergauf ziehen kann, weiß ich; dass ich das sogar gegen den Strom kann, ist eine absolut neue Erfahrung. Die gestern ausgefallene Flussquerung bekommen wir heute ein Mehrfaches zurück.
Der eigentliche Bach, der in einem Einschnitt nebenan ins Tal rauscht, ist kräftig angeschwollen und sein Wasser ist deutlich braun gefärbt. Bei einer kleinen Kapelle zücke ich nochmals die Kamera, die ich auf den vergangenen fast fünfzehn Kilometern vor dem Regen zu schützen versuchte. Da die Gewitterzelle in der Zwischenzeit abgezogen ist, verzichte ich darauf unterzustehen. Ich möchte in Bewegung bleiben um nicht doch noch zu frieren beginnen. Ein Indiz für die Stärke der Niederschläge sind die Rinder auf der Weide, die unter einer Gruppe von Lärchen Unterstand gesucht haben.
Ich habe den Eindruck, dass in Sachen Unwetter das Gröbste vorüber ist, meine Beine fühlen sich auch in diesem Anstieg recht locker an, ich bin also voll motiviert, das letzte Teilstück in Angriff zu nehmen, denn ich habe schon den Verpflegungsposten auf Furggu im Blick.
Beschwingt steuere ich darauf zu und will mir noch eine kleine Stärkung für den steilen Abstieg genehmigen, da wird mir mitgeteilt, dass das Rennen abgebrochen wurde. So groß die Enttäuschung ist, so groß sind mein Verständnis und der Respekt für die Rennleitung, einen solch unpopulären Entscheid zu fällen. Die Einheimischen wissen nur zu gut, mit welcher Gewalt die Natur zuschlagen kann und der Abstieg vom Furggu wäre zu gefährlich, so wie auch das Running abgebrochen werden muss, weil die Furten in der Gondoschlucht zu viel Wasser führen und Steinschlag zu verzeichnen ist.
Die Enttäuschung über den Rennabbruch steht auch den nachfolgenden Läufern ins Gesicht geschrieben. Aus diesem Grund entscheiden wir uns, nicht in dem spontan zur Verfügung gestellten Chalet auf ein angefordertes Taxi zu warten, sondern auf der sicheren Straße, auf welcher noch Reste des Hagelschauers liegen, hinunter ins Zwischbergental nach Gondo zu laufen. Es ist zwar ein gehöriger Umweg, denn die Straße führt weit hinten ins Tal, bevor eine Spitzkehre uns endlich in Richtung Ziel leitet. Aber so bleiben wir schön warm und unterwegs kommt uns dann auch das Taxi entgegen. Wir verzichten aber einzusteigen und nochmals aufs Furggu hochzufahren und laufen im Regen weiter.
Irgendwann kommt von links die Originalstrecke steil auf die Straße hinunter und nach kurzer Zeit treffen wir auf den letzten Verpflegungsposten, wo die Helfer immer noch tapfer die Stellung halten und mir den letzten Becher wärmender Bouillon anbieten. Von hier an sind es noch vier Kilometer bis zum gestrigen Ausgangspunkt dieses Gewaltserlebnisses. Auf den ausgeschilderten letzten hundert Metern verzichte ich darauf, den Serpentinen der Straße zu folgen, da dies die verbleibende Strecke vermutlich vervierfachen würde, und nehme die Originalstrecke. Obwohl ich mich im Schritttempo die Natursteinstufen hinuntertaste, kann ich es nicht verhindern, dass es mich zum Abschluss noch auf den Allerwertesten setzt.
Gondo
Am Ziel angekommen bin ich so voller Eindrücke, dass mich sogar die kalte Dusche kaum stört. Im doppelten Sinn frisch geduscht, setzte ich mich wieder mit Pommes und Bratwurst ins Festzelt, wo eine gute Stimmung herrscht. Der Rennabbruch scheint kein Grund für Depressionen zu sein; wer in Gondo an den Start geht, scheint wirklich zu wissen, auf was er sich einlässt. Entsprechend wird bei der Siegerehrung das Organisationskomitees mit Applaus bedacht, als die Hintergründe für den Entscheid zum Abbruch bekanntgegeben werden. Aber leider werden diese Aspekte des Laufsports (für die Mehrheit der Bevölkerung Extremlaufsport) in der Presse nicht so hochgejubelt wie die Fälle, in denen etwas schief läuft und tragisch endet.
Nicht nur die Sieger werden aufs Treppchen gebeten und mit Wein und Geldpreisen bedacht, jeder Doppelmarathoni darf die persönliche Gratulation und einen Laib Käse aus der Simploner Dorfkäserei entgegennehmen und auch den Sponsoren wird gebührend Dank und Anerkennung gezollt.
Auf der Fahrt zurück nach Brig ist der Simplon wieder in strahlenden Sonnenschein getaucht. Es kommt mir fast vor wie wenn die Natur mich verhöhnen will – oder mir zu verstehen gibt: „Akzeptiere, dass ich das Sagen habe und du dich mir und meiner Gewalt unterzuordnen hast; dafür darfst du mich und den unbezahlbaren Reichtum, den ich dir andrerseits schenke, in vollen Zügen genießen.“
Die alte Goldmine in Gondo ist schon lange stillgelegt, nur als Freizeitangebot wird hier noch nach dem Edelmetall gesucht und Gold gewaschen. Im Laufkalender ist das Gondo Event aber ein Goldnugget, den es in dieser Kostbarkeit nicht häufig zu finden gibt. Es scheint sich herumzusprechen, denn jedes Jahr kommen zu den Wiederholungstätern neue Gesichter - und denen geht es wie mir: Mein Claim ist abgesteckt, ich komme wieder!