Eine Runde drehen wir noch auf der 400 m-Bahn im Stadion, dann geht es über den roten Teppich unter dem Zielbogen hindurch direkt hinein in die Natur.
Wir tauchen ein in den vogesentypischen Buchenwald. Nicht einmal ein Hauch von zartem Blattgrün lässt erahnen, dass der Frühling zumindest kalendarisch schon längst begonnen hat. Kahl ranken die schlanken, glatten Stämme dicht an dicht gen Himmel. Dazu passend rascheln Berge von trocken-fahlem Laub unter unseren Füßen. Für Farbe sorgt nur das kraftvoll grüne Moos, das Felsbrocken und Wurzelwerk umhüllt. Das hat durchaus seinen Reiz. Nur: Wüsste ich nicht, dass Mitte April ist, so würde ich darauf wetten, dass heute ein lauer Spätnovembertag sei.
Zum gemütlichen Einlaufen bleibt uns kaum Gelegenheit. Denn sogleich geht es bergan, mal auf breiteren Forstwegen, dann wieder auf schmalen Pfaden, aber stetig. Rasch zieht sich das Läuferfeld auseinander, verstummen die Gespräche, übertönt nur das Blattgeraschel das Keuchen der Läufer. Schnell gewinnen wir an Höhe. Geradezu erholsam ist es, als wir nach diesem Intro einen gut ausgebauten Forstweg erreichen, dem wir ein Weilchen folgen. Aber eben nur ein Weilchen, denn schon zweigen wir erneut ab und ziehen im permanenten Auf und Ab unseres Weges. Schon bald verliere ich angesichts des permanenten Wege- und Richtungswechsel jegliche Orientierung. Hoffnungslos verirren würde ich mich, wären da nicht die häufigen, auffallenden Streckenmarkierungen. Gut gemacht, Luc! Ich denke mir nur: Wer sich diese Strecke ausdenkt, der muss sich verdammt gut auskennen. So wechselhaft wie unsere Wege ist deren Beschaffenheit: Mal butterweich, breit, bequem, dann wieder steinig, schmal, wurzelig, bisweilen gewürzt mit Schlammeinlagen. Mit anderen Worten: Trailvergnügen vom Feinsten.
Eine weitere Besonderheit der Strecke ist, dass es keine Kilometermarkierungen gibt. Für einen Trailläufer mag das konsequent sein. Denn der Weg ist eben das Ziel, und dem gilt die volle Konzentration. Ich habe also kein Gefühl, wie weit und schnell ich eigentlich voran komme. Es sind, außer den Verpflegungsstellen, daher nur ein paar andere markante Punkte an der Strecke, die einen gewissen Aufschluss darüber geben, wie etwa das Örtlein Jaegerthal, das ich nach einer Stunde – das müssen dann etwa 9 km gewesen sein - als ersten Außenposten der Zivilisation seit dem Start erreiche. Nur wenig Platz lässt das im Wald versteckte schmale Tal für ein Dutzend Häuser, die sich entlang des Schwarzbachs drängen. Hübsch anzuschauen ist es, doch wer hier wohnt, sollte nicht unbedingt Sonnenanbeter sein. Bekannt ist der Ort vor allem deshalb, weil von hier die Industriellenfamilie de Dietrich ihren wirtschaftlichen Aufstieg einleitete. Die Übernahme des hiesigen Eisenhammers Ende des 17. Jahrhundert machte den Anfang, im Eisenbahn-, Ofen- und Kesselbau wurde die Familie über Generationen groß. Die Ruinen der ersten Eisenschmieden liegen direkt an unserem Weg.
Keine zwei Minuten währt unser Besuch Jaegerthals, schon schluckt uns an der jenseitigen Ortsseite erneut die Natur. Nur kurz erweitern saftig grüne Wiesen entlang des Pfades unseren Horizont, dann umhüllt uns schon wieder der Wald. Vereinzelt durchbrechen Flecken mit Tannen und Fichten das Buchenmeer, was man, auch wenn man nicht so genau hinsieht, gleich daran merkt, dass es merklich dunkler wird. Und an den Nadeln, die dem Pfad als dicke Auflage eine besondere Elastizität verleihen. Ein in die Hügel eingeschnittener laubbedeckter Schlammpfad fordert unsere Konzentration. Ein Auskommen zur Seite gibt es nicht. Es gibt daher nur eine Möglichkeit: Einfach mittendurch. Aber ist es nicht gerade das, was das Herz eines jeden Trailrunners höherschlagen lässt?
Wie ein Alien wirkt ein kleiner Schützenbunker, den wir an einer Abzweigung mitten im Nirwana des Waldes passieren. Die Natur hat den Beton längst überwuchert, aber das vielleicht 80 Jahre alte Gemäuer hält sich solide. Es erinnert daran, dass gerade die Vogesen Frontgebiet zweier Weltkriege waren. Teile der berühmten Maginot-Linie durchschneiden sie. 1930 bis 1940 wurde die nach dem französischen Verteidigungsminister Andre Maginot benannte Linie, ein aus zahllosen Bunkern bestehendes Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu den östlichen Nachbarländern, vor allem zu Deutschland, gebaut, um Angriffe aus diesen Nachbarländern zu verhindern bzw. abzuwehren. Praktisch genützt hat sie nicht viel, doch darf man davon ausgehen, dass die zahlreichen betonenen Relikte auch noch ein paar hundert Jahren von dieser Zeit künden. Der Geschützstand mag so etwas wie ein kleiner Außenposten gewesen sein, ansonsten bekomme ich von der Linie nichts mit, obwohl wir sie gemäß Streckenplan nahe Dambach direkt berühren.
Eine kleine Ewigkeit folgen wir einem sich durch den Buchenwald schlängelnden bequemen Forstweg, ehe uns ein wurzeliger Pfad erneut in die Höhe treibt. Bei km 16,5 erreichen wir mit 515 m üNN einen der Kulminationspunkte der Strecke. So steil wie es hinauf ging, stürzt der Weg nun hinab. Ein mächtiger aus dem Wald empor ragender Felsen erregt meine Aufmerksamkeit. Unnahbar wirken die senkrecht empor steigenden Wände. Ich weiß sofort: Das müssen sie sein, die Ruinen des Châteaux du Vieux Windstein (13. Jh.). Zwar sind nur noch Fragmente der zerstörten Burg Alt-Windstein erhalten, doch allein schon die halsbrecherische Lage auf den Felsklippen gibt ihr einen ganz besonderen Reiz. Vor allem weiß ich: Wir haben nach 18 km und damit einem Drittel der Strecke den ersten, von mir schon sehnlich erwarteten Verpflegungspunkt erreicht.
Auf einem kleinen Platz vor einem Ausflugslokal mit herrlichem Fernblick über die Wiesen ist er aufgebaut: der Verpflegungstisch, vor dem sich die durstigen und hungrigen Läufer drängen oder im Gras liegend entspannen. Zu Wasser und Cola werden Frisch- und Trockenobst, Honigkuchen und Schokoriegel geboten. Das kulinarische Highlight sind allerdings Käsewürfel, grobe Salami und Salzbrezeln, ideal, den schweissverlustbedingten NaCl-Mangel auf angenehme Weise zu kompensieren. Ungern, aber doch merklich wiederbelebt, verlasse ich diesen gastlichen Ort.