Senkrechte Felswände, nebelverhangene Regenwälder, steinige Lavawüsten und dichter Dschungel. Dazwischen Dörfer, ach was, Dörfchen, so abgeschieden, dass sie nur zu Fuß oder per Helikopter zu erreichen sind. Dieses Szenario kann man auf La Reunion, dem französischen Übersee-Department 800 Kilometer östlich von Madagaskar, erleben. Einmal im Jahr wird die Insel Schauplatz eines der härtesten Ultra-Cross-Rennen der Welt. Bei der „Diagonale des Fous“ (Diagonale der Verrückten), wie dieser Lauf ehrfurchtsvoll genannt wird, gilt es fast 150 Kilometer und über 9.000 Höhenmeter einmal quer über die Insel zurückzulegen.
Es ist Freitag, 24. Oktober 2008, 22 Uhr Ortszeit. Im Stadion von Saint Phillippe, im Süden der Insel, haben sich knapp 2.300 Läufer (Raider) eingefunden, um die 16. Ausgabe des Grand Raid anzugehen. Das Thermometer zeigt angenehme 20 Grad Celsius und der anfängliche Regen hat sich verzogen. Mein Lauffreund Bernie Conradt und meine Wenigkeit sitzen auf dem steinigen Untergrund des Stadions und fiebern dem großen Rennen entgegen.
Noch zwei Stunden bis zum Start. Eine kreolische Band gibt einheimische Musik zum besten. Kurz vor dem Start wird ein Fackeltanz, begleitet von lautstarkem Trommeln, aufgeführt. Die Anspannung steigt. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Dann endlich, um Punkt Mitternacht, fällt der Startschuss. Die ersten fünf Kilometer läuft man, quasi als Warm-Up, auf einer asphaltierten Strasse, bevor es dann vorbei an Zuckerrohrfeldern auf einem breiten Forstweg ganz gemächlich den Hang hoch geht. Bis zum ersten Verpflegungspunkt bei Kilometer 15,9 kann man noch nicht wirklich von einem der anspruchsvollsten Crossläufe reden.
Dann geht aber der Grand Raid richtig los. Auf den nächsten fünf Kilometern gilt es 1.400 Höhenmeter zu bewältigen! Dabei geht es steil, sehr steil, durch den Regenwald. Der Untergrund ist schlammig, glitschige Wurzeln und Baumstämme liegen im Weg. Häufig muss ich meine Hände zu Hilfe nehmen, um überhaupt voran zu kommen. Ich ziehe mich an Ästen und Bäumen den Hang hoch. Am Wegesrand findet man schon zu diesem frühen Zeitpunkt des Rennens Raider, die sich vor Erschöpfung ausruhen oder sich gar übergeben. Unbeirrt dessen bewege ich mich Meter für Meter diesen steilen Anstieg hoch. Ich fühle mich ausgezeichnet. „Kletterpassagen“ sind meine große Stärke. Dies habe ich vorher, auch bei Nacht, zigfach im Training geübt. Doch man kommt nicht wirklich voran. Ständig bilden sich, bedingt durch das noch dichte Läuferfeld, Rückstaus, die mich zu Zwangspausen anhalten.
Kurz nach fünf Uhr wird es langsam wieder hell. Bis zum Gipfel habe ich es nicht mehr weit. Bei Kilometer 23,7 ist der Verpflegungspunkt Foc-Foc am Rande des Vulkans Piton de la Fournaise erreicht. Dieser zählt zu den aktivsten Vulkanen der Welt. Alle 18 Monate bricht er im Schnitt aus. Die Umgebung hier oben präsentiert sich, fast ohne Vegetation, als wahre Mondlandschaft. Vorbei an scharfkantigen Lavaplatten und durch knirschenden Lavasand passiere ich die Plaine des Sables, eine riesig anmutende Sandwüste. Der Boden hier ist so porös, dass Regenwasser sofort versickert und erst weit entfernt im Canyon des Riviere de l’Est wieder austritt. Ich treffe hier meinen Lauffreund Bernie wieder. Wir genießen diese einzigartige Landschaft in vollen Zügen.
Nach dreißig gelaufenen Kilometern erreichen wir die Route du Volcan, den ersten Cut-Off-Punkt. Unsere Uhr zeigt 7 Stunden 41 Minuten. Das bedeutet: fast zwei Stunden Puffer auf das Zeitlimit. Der folgende Streckenabschnitt bis zum Piton Textor ist relativ einfach zu bewältigen. Nur kleinere An- und Abstiege müssen wir meistern.
Das faszinierende am Grand Raid und an Reunion ist, dass sich die Landschaft und Vegetation ständig verändert. Nachdem wir bereits dichten Dschungel, einen Vulkan und eine Sandwüste passiert haben, tauchen nun saftig grüne Weideflächen mit Kühen auf. Wir sind in der Plaine des Caffres angekommen. Immer wieder müssen wir über sogenannte Weidezaunleiter klettern. Ich fühle mich wie im Schweizer Jura! Die alpenähnliche Landschaft um mich herum genieße ich in vollen Zügen. Körperlich wie mental fühle ich mich nach wie vor topfit. Auch der einsetzende Nieselregen kann meine gute Stimmung nicht beeinflussen. Zusammen mit Bernie erreiche ich bei Kilometer 50 den Kontrollpunkt Mare a Boue. Wir bedienen uns von dem reichhaltigen Läuferbuffet. Hähnchenschenkel, Käsebrote und die Nudelsuppe stehen auf meinem Speiseplan. Den hohen Energieverbrauch gilt es, zumindest teilweise, wieder auszugleichen. Angeblich entspricht der Energieverbrauch beim Grand Raid der von acht Marathonläufen!
Das nächste Teilziel des Grand Raid lautet Caverne Dufour, auf dem Weg zum Piton des Neiges, mit 3.070 Metern der höchste Berg der Insel. Bis auf wenige Ausnahmen ist wieder „Klettern“ angesagt. Nicht ganz so steile, dafür aber lange, zermürbende Anstiege warten auf uns. Da es immer noch regnet, sind die Pfade aufgeweicht. Das Vorwärtskommen ist mühsam. Plötzlich bildet sich wieder ein Stau. Nach einigen Minuten ungeduldigen Wartens erkenne ich auch warum. Es geht senkrecht den Berg hinunter!! Mit Hilfe von Leitern steige ich 5-6 Meter in die Tiefe. Über spitze, rutschige Felsen bewege ich mich weiter Schritt für Schritt vorwärts.
Mir ist spätestens in diesem Moment klar, warum der Veranstalter explizit ein Einsatz von Trekkingstöcken verboten hat. Man benötigt schlichtweg seine Hände! Ich stütze mich mit beiden Händen an Büschen und Ästen ab, um sicher und ohne Verletzung diese kurze, sehr steile Bergabpassage zu bewältigen. Kurze Zeit später erreiche ich die Berghütte am Piton des Neiges bei Kilometer 62. Meine Uhr zeigt 15:30. In gut zwei Stunden wird es wieder dunkel. Das nun kommende Teilstück ist ohne Frage eines der anspruchsvollsten während des gesamten Rennens. Auf nur 4,6 Kilometer geht es 1.100 Meter bergab! Ich habe allergrößten Respekt vor dieser Passage, die ich unbedingt bei Tageslicht bewältigen will. Mit höchster Konzentration bewege ich mich Schritt für Schritt den Berg hinunter. Immer wieder „schießen“ lebensmüde Raider an mir vorbei. Einen Moment der Unachtsamkeit lässt mich wegrutschen. Zum Glück lande ich sanft auf meinem Allerwertesten. Glück gehabt!
Nach guten 90 Minuten „Höllenabstieg“ laufe ich in Cilaos, der Ortschaft des gleichnamigen Cirques, ein. Nach gelaufenen 70 Kilometern ist distanzmäßig fast Halbzeit. Mir geht es nach wie vor gut. Ich ziehe mich um und stärke mich. Im Verpflegungszelt treffe ich endlich wieder Bernie. Es ist bereits stockdunkel und es regnet weiterhin am laufenden Band, als ich Cilaos wieder verlasse. Der Rat meines Lauffreundes Eberhard kommt mir in diesem Moment in den Sinn: „Bis Cilaos ist zeitmäßig erst 1/3 des Rennes vorbei. Für die zweite Hälfte benötigt man gut 2/3 an Zeit.“ Was wird da wohl noch kommen? Motiviert von diesem Gedanken nehme ich die nächsten steilen Kurven bergab in Angriff. Ich bin ganz alleine. Außer dem Lichtstrahl meiner Stirnlampe ist es stockdunkel um mich herum. Eine beängstigende Stille umgibt mich – keine Stimmen, keine Musik, nur das sanfte Rauschen des Windes nehme ich wahr. Bin ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg?
Plötzlich laufen ein paar Raider auf mich auf. Darunter auch mein Freund Bernie. Gemeinsam absolvieren wir die nächsten Kilometer. Es geht immer wieder bergauf und bergab. Dabei müssen wir mehrere Flüsse und Bäche durchqueren. Jetzt kommen also die gefürchteten Felssprungpassagen, von denen mich mein Lauffreund Bernhard gewarnt hat. Hochkonzentriert springen wir von Stein zu Stein und lassen auf diese Weise die „feuchten Hindernisse“ hinter uns.
Nach 76 gelaufenen Kilometern wartet schon die nächste Herausforderung auf uns. Den Gipfel des Col du Taibit mit seinen 800 Höhenmetern auf nur vier Kilometern Länge gilt es zu erklimmen! Ganz langsam nehmen wir Serpentine für Serpentine dieses steilen Aufstiegs. Ich merke zum ersten Mal die Müdigkeit. Nach fast 22 Stunden ununterbrochenen Laufens sehne ich mich nach einer Schlafgelegenheit. Links und rechts des Weges sehen wir ständig Raider, die sich eingehüllt in ihre Überlebensdecken eine Schlafpause gönnen. Doch wir gehen weiter.
Meter für Meter kommen wir voran, langsam aber stetig. Mir scheint es, als ob der Aufstieg kein Ende nehmen will. Wir sind beide froh, als wir das Schild mit der Aufschrift „Col du Taibit“ auf 2080 Metern sehen. Wer nun meint, nach diesem sehr anspruchsvollen Streckenteil käme eine angenehm zu laufende Passage, täuscht sich gewaltig. 500 Meter geht es nun auf nur zwei Kilometern Länge sehr steil abwärts! Bei Tagelicht ist diese Bergabpassage sicherlich noch gut zu bewältigen, aber in der Nacht und mit müdem Geist verlangt sie einem wirklich alles ab. Ich bin heilfroh, gesund und verletzungsfrei die Siedlung Marla zu erreichen. Meine Uhr zeigt 0:48. Ich gönne mir, eingehüllt in meine Überlebensdecke, eine Stunde Schlaf.
Es ist mittlerweile richtig frisch geworden. Durch die hinzukommende Nässe fange ich an zu frieren. Ich zittere am ganzen Leib! Nichts wie weiter. Mittlerweile haben wir den Cirque de Mafate, einen der drei Bergkessel der Insel, betreten. Keine einzige Strasse führt hier hinein. Die wenigen Einwohner des Cirques werden aus der Luft mit dem Hubschrauber versorgt. Ein bizarres System aus Schluchten, Plateaus und Steilwänden durchzieht diese wilde Landschaft. Die Mafate ist von tiefen Gräben zerfurcht und im Zentrum weitestgehend unzugänglich. Doch erst bei Tageslicht erschließt sich mir die Schönheit dieser Gegend. Ich treffe wieder Bernie, der sich in Marla etwas kürzer aufgehalten hat als ich. Die nächsten Kontrollpunkte Roche Plate und Grand Place passieren wir ohne größere Probleme. Die Strecke führt ständig bergauf und danach wieder bergab. Die aufkommende Hitze macht uns beiden schwer zu schaffen. Die Sonne scheint immer kräftiger und sorgt für Temperaturen um die 30 Grad Celsius. Besonders bei den steilen Anstiegen kommen wir nur ganz langsam voran.
Über den einsetzenden Regen am Nachmittag sind Bernie und ich nicht unglücklich. Gegen 15 Uhr erreichen wir nach 113 gelaufenen Kilometern den Weiler Aurere. Von den leckeren Wurstbroten und der guten Nudelsuppe bediene ich mich großzügig. Ich sehne mich schon dem nächsten Kontrollpunkt in Deux Bras entgegen, von der wir noch neun Kilometer entfernt sind. Und diese neun Kilometer haben es in sich. Sehr steile Bergabpassagen über Geröll gilt es zu überwinden. Drahtseile am Fels dienen als Sicherung für nicht ganz so Schwindelfreie! Immer wieder ist auch „Steinspringen“ angesagt, wenn es einen Fluss zu durchqueren gibt.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir endlich den Kontrollpunkt Deux Bras. Bernie und ich freuen uns auf einen Kurzschlaf. Eine Stunde im Militärzelt – auf einer Liege mit Decke. Was für ein Luxus! Sofort schlafe ich ein. Danach wartet schon die nächste Herausforderung auf uns: der Anstieg nach Dos d’Ane. Das heißt in Zahlen: 735 Höhenmeter auf knapp 3,5 Kilometer! Doch dies gibt nur bedingt die Schwierigkeit dieser sehr steilen Bergaufpassage wider. Auf schmalen Bergpfaden, über Felsen und Wurzeln und über Steigleitern geht es steil den Berg hinauf. Für diesen Anstieg benötigen wir mehr zwei Stunden! Oben werden wir von unseren Frauen empfangen, die uns ein Stück begleiten. Was für eine Wohltat!
Wer nach diesem Monsterberg nun ein ebenes Stück erwartet, der sieht sich gewaltig getäuscht. Es geht weiter, sehr steil, auf einem schmalen Grad bergauf. Links und rechts des Weges geht es tief den Abhang hinunter. Ohne eine gewisse Trittsicherheit und Schwindelfreiheit hat man beim Grand Raid kaum eine Chance. Weitere 561 Höhenmeter auf nur drei Kilometer warten auf uns! Es ist kurz nach Mitternacht und es wird langsam wieder kalt. Der einsetzende Regen macht das ganze noch ein bisschen ungemütlicher. Die Wege sind sehr schlammig. Man läuft wie auf Schmierseife! Jeden Schritt müssen wir sorgfältig abwägen, um Stürze zu vermeiden. Jetzt wünsche ich mir spätestens meine Trekkingstöcke, die einem bei diesen katastrophalen Wegeverhältnissen sehr hilfreich sind. An Büschen abstützend und teilweise auf dem Allerwertesten bewege ich mich bzw. rutsche ich vorwärts!
Nur unendlich langsam kommen wir voran. Fast 50 Stunden sind wir nun schon unterwegs. Mit einem Schlag werde ich hundemüde. Bernie geht es ähnlich. Wir machen es uns links und rechts des Weges in unseren Überlebensdecken bequem. Der Regen und die Kälte nehmen zu, was nur einen kurzen Intervallschlaf zulässt. Nach 45 Minuten ziehen wir weiter. Wir sehnen uns beide nach dem Tageslicht. Nachdem wir den Verpflegungspunkt Kiosque d’Affouches bei Kilometer 134,8 verlassen haben, wird es langsam wieder hell. Auch die dritte Nacht ist überstanden. Gott sei Dank!
Durch dichten Dschungel kommen wir schließlich zum letzten Verpflegungspunkt vor dem Ziel. Noch fünf Kilometer liegen vor uns. Bei manch anderen Läufen bedeuten diese letzten Kilometer ein lockeres Auslaufen bis zum Ziel. Nicht jedoch beim Grand Raid. Es geht noch mal 600 Meter bergab. Nur jetzt nicht mehr ausrutschen oder umknicken. Doch auch diese letzte Hürde meistern wir bravourös. Um 8:42 Uhr laufen Bernie, Heinrich (den wir unterwegs getroffen haben) und ich im Stadion de la Redoute in Saint-Denis ein. Meine Uhr stoppe ich bei 56 Stunden und 42 Minuten. Es ist schwer in Worte zu fassen, was einem durch den Kopf geht. Selten zuvor erlebte Glücksgefühle überschütten meinen Körper. „J’ai survecu“ (Ich habe überlebt) lautet die Aufschrift auf meinem Finisher-Shirt.
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