An diesem Samstag steht wieder einmal eine „Im Frühtau zu Berge…“-Operation an. Das frühe Aufstehen hat den Vorteil, dass die Straßen leer sind und ich die Fahrt ins Bündnerland mit gesetztem Tempomat ganz flott und entspannt bewältige. Der anstrengende Teil wird schon noch folgen.
Es ist das erste Mal, dass ich nicht mit dem Zug anreise, weshalb ich direkt nach Lenzerheide fahre und das Auto dort lasse. Der Vorteil ist der, dass ich nach dem Lauf auf keinen Fahrplan Rücksicht nehmen muss und direkt zu weiteren Verpflichtungen abreisen kann.
Der Postbus zum Startort Chur ist für die Teilnehmer kostenlos und bringt uns zum Bahnhof, von wo es ein kurzer Fußmarsch zum Stadttheater ist. Vor dem Theater ist eine Public Viewing-Arena aufgebaut, unter deren Dach auch die Startnummernausgabe und zusätzliche Toiletten angesiedelt sind. Dadurch ist im Theater selbst viel Raum fürs Umziehen und die Warteschlangen bei den Toiletten sind vernachlässigbar kurz. Den Veranstaltern würde ich es gönnen, wenn sich mehr Leute da einreihen würden. Von der Tribüne aus ist das Starterfeld gut überblickbar.Über den Daumen gepeilt dürften es rund 250 Teilnehmer beim Marathon sein, dazu noch gut 100 bei den 20miles.
Vor dem Start benutze ich die Gelegenheit, mich mit Denise Zimmermann zu unterhalten, frisch gekrönte Schweizermeisterin über 100km und auch heute wieder Mitfavoritin fürs Podest. Vom Moment des Startschusses an werde ich sie sowieso nicht mehr sehen…
Marathonneulinge sind auch heute dabei und mit entsprechendem Herzklopfen an der Startlinie. Zumindest im Fall von Jörg wird sich das Herzklopfen auf der Strecke schon bald normalisieren, während es bei mir exponentiell zunimmt.
Entgegen der vergangene Woche verbreiteten Prognosen zeigt sich das Wetter von seiner Sonnenseite und bringt uns beim Lauf durch und aus der ältesten Stadt der Schweiz heraus einige Zuschauer. Leute sitzen in den Straßencafés und lassen den kurzen Spuk an sich vorbeiziehen, eine Kellnerin balanciert ganz mutig eine Tasse Kaffee quer durch das Läuferfeld und ich habe mittlerweile einen neuen Akku in die Kamera geschoben. Wenn nur ich nicht im gleichen Stil von einem Moment auf den anderen schlapp mache.
So sonnig habe ich diesen Marathon noch nie erlebt und deswegen die erste Verpflegungsstelle bei Passugg auch noch nie so hoch geschätzt. Immerhin sind auf den ersten vier Kilometern schon fast 200 Höhenmeter dazugekommen.
War vorher schon ein ansehnlicher Streckenteil nicht mehr asphaltiert, kommt jetzt ein Waldweg mit unterschiedlichen Steigungen, welche uns zum nächsten Etappenort Churwalden bringen. Schilder verkünden, dass der Polenweg wegen Bauarbeiten auch für den Langsamverkehr (also Fahrrad, Wanderer und mich) gesperrt sind. Die kritische Stelle können wir auf einer Ausweichstrecke passieren, welche allerdings nochmals ein paar Höhenmeter draufpackt. Auf einem teppichweichen Serpentinenweg hinunter zur Landwasser und dann wieder hoch zur gewohnten Strecke. Die zusätzliche Anstrengung wird schon bald mit einer weiteren Verpflegungsstation besänftigt. Ich greife kräftig zu, denn schon jetzt verspüre ich dieses ekelhafte Durstgefühl im Mund. Ich merke, dass mein Körper nicht mehr gleich funktioniert, seit ich mit mehr als einem Medikament leben muss. Dazu kommt die Kurzatmigkeit wegen meines leeren Eisenspeichers. Aber: Ich kann wieder laufen und spüre keine Rückenbeschwerden. Und das ist es, was zählt.
Der Polenweg ist übrigens nur einer von vielen in der Schweiz mit diesem Namen. Erbaut wurden sie allesamt von polnischen Soldaten. Im Juni 1940 flüchteten um die 13‘000 Soldaten der 2. polnischen Infanterieschützen-Division in die Schweiz, nachdem sie in der Gegend von Belfort die 8. französischen Armee unterstützt hatten, dann aber vom Nachschub abgeschnitten wurden. Als Internierte wurden sie im ganzen Land in Barackenlagern untergebracht und zu Arbeitseinsätzen herangezogen.
International geht es im kleinen Stil auch auf der anderen Talseite in Malix zu, ein Dorf, zu welchem ich seit einigen Monaten einen besonderen Bezug habe. Als Tierschützer mit besonderem Engagement für ein rumänisches Tierheim freue ich mich, dass an diesem Ort einer „unserer Schützlinge“ ein ganz tolles Zuhause gefunden hat.
Bald erscheint Churwalden im Blickfeld, welches entlang der Hauptstraße durchschritten wird. An der Abzweigung hat der Streckensprecher Zeit, die Namen und Herkunft der vorbei- und auf den Verpflegungsposten zusteuernden Läufer zu nennen – ein Vorteil, wenn man nicht in der großen, schnellen Meute unterwegs ist.
Ich weiß, was mich anschließend erwartet: Ein langgezogener Anstieg auf einer Teerstraße hinauf nach Foppa, zu flach um zu gehen, zu steil um zu laufen. Nicht immer, aber in meiner heutigen Verfassung. Ich lasse den Blick über die Landschaft und die saftig grünen Wiesen streifen, welche in anderen Jahren noch üppiger von farbigen Blumen durchsetzt waren. Ich finde es immer wieder spannend, solche Unterschiede in der jährlichen Entwicklung der Natur festzustellen.
Kilometer 15 ist vorbei und schon gibt es wieder Verpflegung. Zwei Kilometer später schon wieder. Mittlerweile bin ich auf dem vorläufig höchsten Punkt angekommen und kann es bis auf weiteres rollen lassen. Auf einem Abschnitt, welchen ich auch schon in der Gegenrichtung kennengelernt habe. Letztes Jahr beim Irontrail kämpfte ich mich hundemüde zum Churer Joch hoch; nach fast 36 Stunden ohne Schlaf, davon über 20 Stunden laufend unterwegs, schlief ich beim Gehen fast ein. Da fühle ich mich heute trotz allem etwas frischer.
Bei der Halbmarathonmarke ist fertig mit lustig, was konkret heißt, dass keine weiteren Höhenmeter abgebaut werden. Die Häuser von Parpan erscheinen zwar schon groß vor mir, aber nicht weil sie so nah sind, sondern so riesig. Es gibt eben viele Leute, welche im Winter hierher pilgern, um ihren Wintersportleidenschaften zu frönen. Ich beiße also drei Kilometer, ohne mich zu fragen „Wo führt das hin?“, denn das Ziel ist links vorne und hoch oben deutlich zu erkennen, das Parpaner Rothorn.
Wie bei einem Ultra verweile ich auch ultralang am Verpflegungsposten in Parpan, denn da gibt es nebst Laborfutter - Entschuldigung, Functional Sportfood – auch Brot und leckere Dörr- und sonstige Früchte.
Ein kurzer, knackiger Wurzelweg durch den Wald, an einem Weiher vorbei, in ein paar Kurven zwischen Häusern von Valbella durch und die Gestade des Heidsees sind erreicht. Bevor der beinah umrundet wird, gibt es nochmals zu trinken.
Der Spazierweg ist absolut rollator- und kinderwagengeeignet und ich bin reif für eines dieser Gefährte. Irgendwie ist die Luft bei mir raus, vielmehr, ich bekomme sie nicht ein. Weg vom See, an der Talstation der Rothornbahn vorbei und dann in den Wald, dessen Ausdehnung seit vergangenem Jahr massiv gewachsen zu sein scheint, bis dann die Zeitmessmatte in Lenzerheide kommt. Ganz ehrlich: Obwohl die ganz besonderen Abschnitte erst kommen, wünsche ich mir, dass ich mit einer blauen Startnummer zum 20Meilen-Lauf angetreten wäre.
Mit Bouillon, Brot und Cola stärke ich mich für den bevorstehenden Anstieg nach Scharmoin. Durch ein wunderschönes Stück Wald geht es kräftig hoch und zieht mich in ein Tief. Zum Glück geben mir die schönen Nadelbäume Sichtschutz, sonst müsste damit rechnen, dass Gian und Giachen, die beiden für Graubünden Tourismus tätigen Steinböcke mich beobachten könnten und sich in einem Werbespot darüber lustig machen würden. So wie sie es schon mit den Mountain Bikern und ihren hochroten Köpfen getan haben.
Die Schnapszahl im Dreißiger ist erreicht und ich hoffe, dass bei der Verpflegungsstelle beim Wasserfall wieder ein paar salzige Knabbereien angeboten werden, eine Hoffnung, die nicht umsonst ist. Für längere Zeit setze ich mich auf einen Stein, trinke Wasser und kaue auf Salzstangen herum, während einige Läufer vorbeiziehen. Nach einiger Zeit fühle ich mich wieder fit genug, die Reise fortzusetzen. Ich habe erst 35 Km auf dem Zähler, da kommt mir Denise entgegen – die heutige Siegerin ist zu Fuß unterwegs hinunter nach Lenzerheide und ich keuche hier herum und habe noch ein Sechstel Weg und 1000 Höhenmeter vor mir.
Bei der Mittelstation fülle ich nochmals die Speicher und ziehe weiter in der baumlosen, hier noch grünen Landschaft. Je höher es geht und steiler es wird, umso mehr bin ich auf einem persönlichen Kreuzweg. Statt Bildstöcken kommen Hinweisschilder. Kilometertafeln für den Marathon, andere für den Rothorn Run und Ankündigungen der Verpflegungsstationen. Von denen gibt es noch drei; als Kriterium für den Abstand zählen nicht Kilometer, sondern die Zeit, welche vom einen zum anderen benötigt wird, und das wird bei mir immer mehr.
Der Himmel verdunkelt sich und der Wind nimmt zu. Erste Regentropfen sind zu spüren, doch wenigsten ist es eine harmlose Entladung der feuchten Fracht der Wolken und besteht keine Gewittergefahr. Wobei, mit meinem leeren Eisenspeicher würde ich die Blitze kaum anziehen.
Bei Foil Cotschen, romanisch für roter Grat, ist die zweitletzte Verpflegung und von hier sind es noch zwei Kilometer bis zum Gipfel. Als Erstes ziehe ich die Jacke an, dann nehme ich nach einigem Zögern ein paar Schlucke Cola. Auch der Magen meint, dass es jetzt dann reicht. Leichter Schwindel bringt mich zum Überlegen, ob ich nicht da die Segel streichen soll.
Ich entscheide mich dagegen. Solange mich mein Kopf nicht auf die Bretter schickt, lässt er es nicht zu. Ich habe Zeit und die Streckenposten sind strategisch gut platziert und zudem mit Quads ausgerüstet, für welche der Weg breit genug ist und auf welche ich notfalls meinen Kadaver schmeißen könnte.
Zwischen Geröll und Schneemauern setze ich einen Fuß vor den anderen, mal langsam, mal im Schneckentempo. Es ist hartes Brot, das ich heute da esse und es lehrt mich Demut. Aber ich bin dankbar um diese Erfahrung und dafür, dass ich dieses Brot überhaupt essen darf und kann. Nein, so schnell gebe ich nicht auf. Auf eine gewisse Art ist es frustrierend, auf andere Weise aber ungeheuer motivierend, um mit der für mich neuen gesundheitlichen Situation so umzugehen, dass ich wieder in der Lage sein werde, trotz gewisser Einschränkungen Marathons und Ultras uneingeschränkt laufen und genießen zu können.
Mit diesem Drang überquere ich – nach so langer Laufzeit, dass ich sogar das Zeitgefühl verloren habe – die Ziellinie auf dem Gipfel des Parpaner Rothorns. Das Ego gestreichelt hat natürlich die Erwähnung, dass ich für Marathon4you unterwegs bin, wo immer wieder so toll über diesen Marathon berichtet wird.
Die Chance, dass ich auch ein weiteres Mal darüber berichten werde, steht gut. Ich habe noch eine Rechnung offen. Ponyhof und Kindergeburtstag gibt es anderswo, hier gibt es Körner am Kolben. Vielleicht finden sich noch mehr Mitstreiter ein, verdient hat es der Graubünden Marathon alleweil.
Die zierliche Medaille und das dezent dunkelblaue Funktionsshirt werden mich in meiner großen Sammlung an einen besonders denkwürdigen Marathon erinnern, einen der mich erst recht angestachelt hat, weiterzumachen. Und so stoßen die Schilderungen Joszefs aus Vancouver von Ultraläufen in British Columbia bei mir auf weit offene Ohren. Ich bleibe dran.
Männer
1. Epiney Lucien, 1981, Vercorin 3:45.52,0
2. Birchmeier Ralf, 1982, Buchs SG 3:46.11,2
3. Bundi Gion-Andrea, 1976, Davos Platz 3:51.32,9
Frauen
1. Zimmermann Denise, 1975, Mels 4:30.54,8
2. Kessler Nadja, 1980, Rapperswil SG 4:40.02,0
3. Dalcolmo-Jegen Jeanette, 1967, Dürnten 5:01.30,5
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