Das Rollen hat dort ein Ende, wo die Strecke scharf rechts abzweigt und zuerst über einen Wiesen-, dann einen matschigen Waldweg recht steil zum Kilometerschild 20 hinunterführt. Es geht noch einen weiteren Kilometer auf einem Fahrweg, dann ist wieder befestigter Untergrund und eine fast ebene Strecke unter den Füßen. Diese führt uns nach Parpan, wo ein umfangreiches Verpflegungsangebot den längsten autonomen Abschnitt - auch der nur 5,5km – beendet.
Das Dorf gibt unserem heutigen Ziel, dem Rothorn, den Namenszusatz und das Dorfwappen zeigt, welche Beziehung früher zu dem noch im Nebel liegenden Berg bestand. Der Goldene Bergmannschlägel oder Stollenhammer weist auf die 130 Jahre Kupferfahlerzabbau am Rothorn hin, der 1618 abrupt zu Ende ging, als die sich im Besitz der Schürfrechte befindliche Familie beim Bergsturz von Plurs (Bergell) ums Leben kam.
Größer als die Gefahr eines Bergsturzes ist die Gefahr eines Wurzelsturzes auf dem folgenden Waldstück. Gänzlich unbemerkt bleiben die bisherigen 25 Kilometer von den Muskeln nicht, doch die folgenden, praktisch flachen, geben nochmals die Möglichkeit zur leichten Regeneration, bevor es ernst gilt. Valbella, „Schönes Tal“, heißt die Ortschaft, ein lautmalerischer Name, welchem man jegliche Übertreibung absprechen kann. Auch dann, wenn das schöne Tal nicht von Sonne geflutet, sondern wie jetzt nur angeblinzelt wird.
Vor der teilweisen Umrundung des Heidsees gibt es Verpflegung, während ihr ein paar fragende Blicke von Spaziergängern. Die Schlaufe führt in nächster Nähe an der Talstation der Gondelbahn vorbei. Wenn ich dann dort aussteige, habe ich 1400 Höhenmeter mehr in den Knochen. Nach einer kurzen Begegnungsstrecke werden wir in Lenzerheide in einer weiteren Schlaufe zum Sportplatz geführt, wo die Zwischenzeit genommen und Verpflegung angeboten wird. Feines Bauernbrot und Cola sind meine Diät, die mich hoffentlich den Berg hochbringen wird. Gut dreieinhalb Stunden habe ich für die gut 30 Kilometer bis hierher gebraucht. Wie lange werden die restlichen dauern?
Im Dorf nimmt man nicht groß Notiz von uns Verrückten, da gebe ich mir selber Zuspruch und münze das „Bravo“ auf dem Kasten mit den Hundekot-Beuteln um zur Anerkennung für uns tapfere Läufer. Echte Belohnung gibt es aber schon wenig später im Anstieg. Der Wanderweg führt in einen idyllischen Bergwald, so richtig nach meinem Gusto. Der Wanderwegweiser kündet eine Marschzeit von 4 Stunden bis zum Gipfel an. Mit welchem Schnitt dabei zu rechnen ist, zeigt das Kilometerschild kurz danach: Die Zahl der verbleibenden Kilometer ist nur noch einstellig!
Irgendwo in diesem Wald ist an einem lauschigen Platz zwischen Nadelbäumen und Felsbrocken eine Verpflegungsstelle eingerichtet. Wer die Getränkebehälter bis hierhin geschleppt hat, ist mir ein Rätsel. Der Ort gefällt mir und ich würde gerne noch etwas länger hier verweilen, doch der Berg ruft. Noch ein paar Salzstangen in die Hand und weiter. Ein Trail vom Feinsten führt durch den Wald zu Alpweiden bei der Mittelstation Scharmoin. Von weitem kündet der Klang von Treicheln an, wohin wir zu laufen haben.
Vor der Mittelstation fülle ich meine Speicher wieder mit leckeren Bauernbrot und Cola und freue mich, dass sich meine Beine noch verhältnismäßig locker fühlen. Die sechseinhalb Kilometer bis zum Ziel sollte ich eigentlich problemlos schaffen. Obwohl ich schon lange unterwegs bin, habe ich den Eindruck, die Kilometer seien bis jetzt nur so an mir vorbeigeflogen, trotzdem gehe ich den Rest so an, wie wenn ich noch die Hälfte eines Marathons vor mir hätte.
Keine zwei Kilometer und einige Alpenrosen später gibt es schon wieder Getränke. Der Blick nach vorne und nach oben macht allerdings fast schon Lust auf heiße Schokolade. Nachdem der Wind schon aufgefrischt hat, wartet nun das Nebelband darauf, bezwungen zu werden. Die Hoffnung, dieses durchbrechen und in der Höhe noch ein paar Sonnenstrahlen erhaschen zu können, gebe ich nicht auf. In dem Bereich, wo der Nebel sitzt, muss das Gras immer mehr Steinen und Geröll Platz machen, welches schon wenig später immer wieder unter Flecken von Schnee verborgen liegt.
Eben waren wir in einer High-Heels-tauglichen Fußgängerzone der Kantonshauptstadt, schon sind wir in dem der harschen Witterung ausgesetzten Gebirge. Und das per pedes, nicht per Hubschrauber. Ein solcher wurde benötigt, um die Verpflegung zu Kilometer 40 zu bringen. Der Ausblick dort kam von selbst. Zur körperlichen Stärkung genieße ich die Aussicht, die sich zwischen letzten Wolkenfetzen bietet. Auch die Frage, die mich seit dem Studium des Streckenplans beschäftigt, bekomme ich beantwortet. Foil Cotschen heißt dieser Punkt. Dass das romanische Wort „cotschen“ rot bedeutet, so viel wusste ich, doch das Wort Foil konnte ich im Online-Wörterbuch nicht finden. Nun bekomme ich es übersetzt und gleichzeitig vor Augen geführt. Die Strecke führt nach dieser Wegbiegung nunmehr ziemlich eben unterhalb eines Bergkamms weiter. Das ist also der rote Grat, auf dessen Suche ich so weit gelaufen bin.
Seit Parpan hat sich das eine und andere Gespräch ergeben. Gespräche, welche mir unter anderem den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Läufern wieder so richtig deutlich aufzeigen. Ausgerechnet Frauen, die sich mit einem entspannten Gesichtsausdruck und einem Lächeln auf den Lippen mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks und anscheinend mühelos die Spitzkehren hochschrauben, würden sich einen Berglauf über die doppelte Distanz nicht zutrauen…
Nebelschwaden und blauer Himmel wechseln sich beim Erklimmen des Gipfels ab. Sturm des Gipfels ist mindestens von der äußeren Erscheinungsform eine absolute Übertreibung. Die Höhenluft lässt keinen Exploit auf den letzten Metern zu, aber das Gefühl der Eroberung ist beim Überschreiten der Zeitmessmatte bei mir schon vorhanden. Als Erinnerung daran gibt es einen Pin, welcher im Gegensatz zu einer Medaille nicht nur unmittelbar nach dem Rennen getragen werden kann. Tragen darf ihn jeder mit Stolz, der ihn selbst in Empfang genommen hat.
Mit seriöser Vorbereitung ist der Graubünden Marathon zwar immer noch ein happiger, doch ein durchaus genussvoller Lauf mit Eindrücken, die man nicht so schnell anderswo in dieser Fülle geboten bekommt.
Anton erwartet mich mit ausgestreckter Zunge am Ziel. Ob er sie mir zeigt, weil ich nach ihm angekommen bin, oder ob sie noch draußen ist, weil er als Guide Patric hinterherhecheln musste, ist nicht ersichtlich. Wir werden es in seinem Bericht erfahren.
Im Tal hat sich in der Zwischenzeit die Sonne durchgesetzt und ermöglicht es uns nach der warmen Dusche, vor dem Festzelt zu sitzen und mit der hervorragend gekochten Pasta den Speicher aufzufüllen, bevor es auf die Heimreise geht.
17 Stunden nach Verlassen des Hauses bin ich wieder daheim und habe das Gefühl, die Fülle der Eindrücke stamme aus einem langen Urlaub in den Bergen. Was Marathon nicht alles kann.
Männer
1. Cox Martin, Anzère 3:50.12,6
2. Barz Michael, D-Durach 3:52.00,8
3. Heuberger Bruno, St. Margarethen TG 3:55.53,8
Frauen
1. Zimmermann Denise, Mels 4:25.15,6
2. Dalcolmo-Jegen Jeanette, Dürnten 4:47.40,0
3. Hegner Simone, Rüti ZH 4:53.04,1
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