Zwanzig Jahre ist es her. Mein erster Berglauf führte mich einst zum Großglockner, seinerzeit noch schlicht „Großglockner Berglauf“ genannt. Überaus beeindruckt war ich damals, sofort vom Berglaufvirus infiziert und bis heute nicht davon kuriert.
Auch wenn nun ein anderer Veranstalter am Zug ist und sich der Lauf internationaler „Großglockner Mountain Run“ nennt: Auf letztlich gleichen Pfaden führt der Parcours noch immer über gut 13 km und 1.300 Höhenmeter von Heiligenblut zur 2.379 m hoch gelegenen Kaiser Franz-Josefs-Höhe zu Füßen von Österreichs höchstem Berg. Aber warum sollte man auch etwas ändern, was einfach perfekt ist? Das denken sich jedenfalls viele hundert Läufer, die jährlich zu diesem Event pilgern.
Schon die Anreise ist ein besonderes Erlebnis, führt Sie mich doch über die nur im Sommerhalbjahr geöffnete Großglocknerhochalpenstraße. War die Maut anno 2004 noch im Startgeld inbegriffen, muss ich jetzt stolze 43 € - einfach - berappen, um mein Auto über den berühmten Pass zu lenken. Aber wenn schon, denn schon: Man könnte zwar auch deutlich länger außen herumfahren, aber dieses Intro zum Lauf sollte man sich schon gönnen. Ein wenig passt das zum gleichfalls stolzen Startgeld von 80 bis 100 €. Andererseits: Das ist heutzutage auch nicht mehr als die Kosten einer Tankfüllung. Unter diesem Blickwinkel relativiert sich das schon wieder.
Zweiräder, entweder mit großem oder gar keinem Motor, beherrschen die sich in Höhen bis über 2.500 Meter empor mäandernde Straße. Düster-bedrohliche Wolken, in der schwülen Hitze der Täler entstanden, umwabern zunehmend die Gipfel der kargen Bergwelt. Ein imposantes Bild.
Die Anfahrt nutze ich sogleich zu einem Abstecher zum Ziel des Laufs: der Kaiser Franz-Josefs-Höhe. Just im Entstehen sehe ich den Zielbogen am Rande des Abhangs, dort, wo die Läufer morgen nach unzähligen finalen Stufen aus der Tiefe kommend keuchend ankommen werden. Dahinter das in seinen Dimensionen geradezu monströse Berghaus samt noch gewaltigeren Parkdecks, ausgelegt auf täglichen motorisierten Besucheransturm. Doch landschaftlich wahrlich sensationell gelegen ist dieser Ort. Mit Panoramablick auf das mächtige, in ewigem Weiß erstrahlende, wenn auch gerade wolkenverhangene Großglocknermassiv, die ins Tal quellende Pasterze und die Gletscherseen in deren Auslauf.
Sehr charmant und idyllisch gelegen ist auch der einige Kilometer entfernte Startort Heiligenblut. Weithin sichtbar überragt die spitze Haube der Pfarrkirche das Dorf. Touristenquartiere und Lokalitäten im Landeslook gruppieren sich locker verteilt um die Kirche, alles sehr adrett und beschaulich.
Etwas tiefer am Ortsrand auf dem Parkplatz des Sporthotels Heiligenblut gelegen ist die „Mountain Running City“. Das mit der „City“ muss man nicht zu ernst nehmen, aber neben dem Startgelände findet man hier die gesamte Infrastruktur der Laufveranstaltung, inklusive Bühne und großem Zelt. Für mich heißt das insbesondere zunächst einmal, hier am Samstagnachmittag meine Startunterlagen zu holen und dann eine üppige Portion Pasta zu genießen.
Für 20 handverlesene Eliteläufer aus dem gemeldeten Feld startet am Samstag um 17 Uhr als Prolog ein kleines Laufevent der speziellen Art. Auf einem 1,5 km- Rundkurs durch und um Heiligenblut werden vier Runden gelaufen. Mit einem ganz speziellen Modus: Nach jeder Runde scheiden die letzten 25 Prozent des Feldes aus. Mit im Feld fünf ranke Kenianer. Die schnellsten Läufer auf der letzten Runde: fünf … - ´na klar. Sollte man meinen. Wäre da nicht der ebenso ranke Lukas Ehrle, gerade einmal 19 Jahre jung und aus dem Schwarzwald, der es tatsächlich schafft, als Vierter in die kenianische Dominanz einzubrechen.
Der Wetterfrosch hatte es schon prophezeit und leider recht behalten. Am Samstag Hitze und dicke Wolken - am Sonntag nur noch dicke Wolken und dafür Regen. Schon auf dem Fußweg hinab ins Zielgelände kann ich testen, ob meine Regenjacke noch dicht ist. Ist sie nicht, aber egal: Der Schweiß unter der Jacke führt zum selben Ergebnis.
Den dicht an dicht im Zelt harrenden Läuferscharen kommt die Laune dennoch nicht abhanden. Musik schallt draußen laut aus den Boxen, der Startmoderator gibt sich optimistisch und tatsächlich macht eine Regenpause Hoffnung. Der Zeiger rückt auf neun Uhr und der erste der vier im Zehnminutentakt startenden Starterblöcke formiert sich hinter dem Startbogen. Ganz vorne: fünf Kenianer – und Lukas. Hands Up heißt es, donnernde Musik begleitet den Countdown, während der Himmel mit voller Kraft wieder die Schleusen öffnet und der Pulk völlig unbeeindruckt davon prescht.
Dem dritten Block zugeordnet flüchte ich wieder in den Schutz einer Überdachung und hadere ein wenig mit der Situation. Die wunderschöne Landschaft wollte ich erleben, noch schönere Bilder machen und jetzt das: Perspektivisches Dauergrau und Regen bis zum Ziel. Aber es hilft nichts, ich ergebe mich in mein Schicksal und als es endlich durch den Regen auch für mich losgeht, sind die trüben Gedanken schnell verflogen.
Auf Asphalt mit reichlich Platz geht es zunächst flach entlang der Möll durch üppiges Grün dem Talschluss entgegen. Entspanntes Einlaufen ist angesagt und das erste Schild, mit dem jeder einzelne Kilometer bis zum Ziel markiert ist, flott erreicht. Auf Asphalt geht es auch jetzt noch weiter, nun aber erstmals konditionstestend in langen Serpentinen den Hang hinauf. Schon diesen Test bestehe ich nicht, aber damit bin ich zum Glück nicht allein. Über Almen und vorbei an einsamen Gehöften gewinnen wir schnell an Höhe. Mystisch hängen die Wolkenschwaden im Gebirgswald über und auch unter uns. In der Ferne fällt ein letzter Blick auf Heiligenblut.
Über einen Forstweg setzt sich unser Kurs stetig bergauf führend fort. Der Nadelwald schließt uns blickdicht ein und öffnet sich erst wieder, als ich nach 3,7 km auf der Sattelalm (1.606 m üNN) die erste von vier Verpflegungsstationen entlang der Strecke erreiche. Wasser, Iso, Bananen bilden das effektive Standardrepertoire.
Durch dichten feuchten Wolkennebel führt uns die nächste Etappe. Geradezu erholsam ist der Crosslauf in leichtem Auf und Ab über die Hochalm, vorbei an der in die Bergeinsamkeit eingebetteten Bricciuskapelle. Aber es ist läuferisch nur die Ruhe vor dem Sturm.
Ein schmaler, steiniger Pfad führt kurz bergan, um sodann steil die in Tiefe abzustürzen. Vorsicht ist auf dem schlammig-rutschigen Untergrund ist geboten, aber Geländer und auch Seile sichern den Weg. Lautstarkes Rauschen ertönt aus dem Off durch den Wald. Es ist der für uns noch unsichtbare Leiterbach, der sich inmitten des Waldes aus großer Höhe in die Tiefe ergießt.
Beeindruckend ist die dschungelartige Natur entlang der felsigen Schluchtwände, durch die ich bis zum Schluchtgrund hinabsteige. Eine schmale Holzbrücke überspannt in sicherer Höhe die zwischen den Felsen gischtenden Fluten. In steilen Stufen führt der seilgesicherte Pfad auf der anderen Seite wieder empor. Durch die Bäume erhasche ich nun endlich auch einen Blick auf den neben mir etwa dreißig Meter in die Tiefe tosenden Bach. Die Abbruchkante des Leiterfalls bedeutet aber keineswegs das Ende des steilen Anstiegs. Weiter und weiter und in immer neuen Windungen steige ich schwer keuchend in die Höhe.
Bis dieser Pfad ganz plötzlich endet: Die 1.862 m hoch gelegene Trogalm ist erreicht und mit ihr die dort nach 6,2 km einsam im Wolkennebel positionierte zweite Verpflegungsstelle.
Die Trogalm markiert den Eintritt in das Gletschertal der Pasterze. Vom selbigen ist im kühl-feuchten Wolkengebälk allerdings weder etwas zu sehen noch auch nur etwas zu erahnen. Umso mehr können wir uns unserem Pfad widmen. Gut laufbare flachere Passagen und extreme Steigungen wechseln einander ab und fordern durchaus die Konzentration. Steine, Wurzeln, Löcher und reichlich schlammige Passagen verzeihen keine Unaufmerksamkeit.
Immer dünner und karger wird die Bergvegetation, steiniger der Untergrund. Und auch das Gefühl, an einem Bergabhang zu laufen, wird immer ausgeprägter: Zur Linken geht es steil nach oben, zur Rechten steil nach unten. Aber während man sich zur Linken noch nahe der Natur wähnt. verliert sich der Blick zur Rechten schnell in der weißen Wolkenwand.
Je höher ich komme, desto mehr pfeift der Wind und lässt die Wolken wirbeln. Mehr noch: Zerreißt er zusehends die Wolkenmasse. Zunächst nur schemenhaft, dann immer deutlicher schälen sich die Konturen der gegenüberliegenden Talseite aus dem Weißbild. Und vor mir rückt allmählich sich verstärkend das lichte Türkis des Margaritzenstausees ins Blickfeld.
Schon seit 1953 staut der so malerisch auf 2.000 m Höhe ins Hochgebirge eingebettete Stausee mit seinen beiden Mauern das Schmelzwasser des Pasterzengletschers. Für den Lauf bedeutet er vor allem: Ab hier beginnt das läuferische „Filetstück“ der Veranstaltung, ein Hochgebirgskurs der optischen Superlative. Der Umstand, diese Kulisse trotz der bisherigen Wetterbedingungen nun doch auch wahrnehmen zu dürfen, beflügelt meine Euphorie.
Im Galopp eile ich durch üppige Blumenwiesen der nach 9,1 km nahe dem See positionierten dritten Verpflegungsstelle entgegen. Mit ihren bunten Schirmen und Fahnen setzt sie einen Farbtupfer in die weite einsame Landschaft. Durch die Hangflanke an der Rückseite des Sees geht es nun verstärkt wieder bergan. Immer weniger trüben Wolken den Blick auf die Berghänge um den See herum und besetzen rasch weiterziehend nurmehr die Höhenlagen.
Zunehmend felsig werden Umgebung und Untergrund. Der Stausee entschwindet hinter mir aus dem Blickfeld, die Wolkendecke rückt wieder bedrohlich nahe. Eine blaue Fahne markiert eine kleine Passhöhe, hinter der sich der Parcours relativ sanft und dann immer mehr in die Tiefe absenkt.
Und jetzt ist es soweit: Vor mir wölbt sich der gewaltige Bergstock des Großglocknermassivs. Die Spitzen der zahlreichen Dreitausender und des 3.798 m hohen Großglockners selbst bleiben meinem Blick zwar dauerhaft verborgen, aber das tut der grandiosen Kulisse keinen Abbruch. In der Ferne sehe die Pasterze bzw. das, was von ihr übrig ist, aus dem Berg quellen. Nochmals mächtig an Volumen und Länge hat der Gletscher in den letzten zwanzig Jahren verloren. Umso raumgreifender füllt der milchig-bläuliche Sandersee, in dem sich das abgeschmolzene Gletschereis sammelt, das Tal und unser Blickfeld. In schnellem Schritt laufe ich über die Felsen geradewegs dem See entgegen.
Ein spezielles Highlight wartet am Ufer auf mich: Die Querung der Möllnschlucht. Ein besonderes Gefühl ist es, im Laufschritt über die schwankenden Bretter einer Hängebrücke das gurgelnde Wasser des hier reißend in die Schlucht abfließenden Sees zu queren und im Anschluss über aufgeschichtete Steine durch einen weiteren Seeabfluss zu balancieren. Das macht Laune und das schon hoch über uns sicht- wie auch hörbare Ziel verliert sogleich seinen Schrecken.
Aber bis zum finalen Zielsturm ist es noch ein Wegstück hin. Auf welchem Boden im saftig grünen Ufersaum geht es zunächst weiter, bevor mich sich vor mir auftürmende, vielfach glattgeschliffene Felsen zu einer kleinen und durchaus reizvollen Kraxeltour einladen. Einmal mehr wundervoll ist der Rundumblick durch das Gletschertal vom Scheitelpunkt der Felsen und auch entlang des sich anschließenden Höhenwegs, der dem weiteren Verlauf des Sees folgt und uns noch ein Stück näher der Pasterze bringt. Aber wirklich nahe kommen wir dem Gletscher nicht mehr.
Vom Ufer weg führt der Pfad nun direkt dem steilen Abhang entgegen. Vom Gletscher rund geschliffene Felsen jeglicher Größe bedecken den Boden. Bodenmarkierungen weisen den Weg durch das Felsenlabyrinth. Auch hier kommen immer mal wieder meine Hände als Stütze zum Einsatz. Schnell gewinne ich wieder an Höhe, aber ebenso schnell lässt mein Tempo nach. Weithin sichtbar signalisieren bunte Fahnen im immer heftigeren Wind nach 11,8 km einen letzten Verpflegungsposten inmitten der Felsenhaufen. Höchsten Respekt zolle ich den Helfern, die den Posten in diesem unwegsamen Gelände eingerichtet haben.
Das Finale steht an. Und was für eines. Hoch oben im Hang ist das Ziel deutlich auszumachen: die Kaiser Frank Josefs-Höhe, in fast 2.400 Metern Höhe gleich einem Adlerhorst scheinbar uneinnehmbar im Fels thronend. Während man die steilen Wegpassagen in ihrer Länge bislang nie von vornherein abschätzen konnte, bekommt man hier die zu bewältigende Aufgabe schonungslos offengelegt. Und so reihe ich mich ein in die Karawane der erschöpft im Zickzackkurs über 522 steile Stufen nach oben schleichenden Läufer.
Der letzte Kilometer zieht sich hin wie kein anderer. Immer wieder halte ich inne, erschöpft zum einen, begeistert vom überwältigenden Panorama zum anderen und die Gelegenheit nutzend, ein Foto nach dem anderen zu schießen. Zum Stopp nötigt mich, je höher ich komme, jedoch noch etwas anderes: Der die Wolken treibende Wind entwickelt bisweilen Böen in einer Stärke, die mich fast aus dem Gleichgewicht bringen und mich an den Fels klammern lassen.
Aber irgendwann habe auch ich es geschafft: Eine letzte Treppenfolge, eine letzte Kurve, eine letzte asphaltierte Rampe und ich blicke dem blauen Zielbogen entgegen.
Kaum habe ich den Zielbogen durchquert, glücklich meine Medaille entgegengenommen, ein wenig Luft geholt, nimmt der Sturm erneut an Fahrt auf, jagen Wolkenfetzen heran, prasselt unvermittelt Regen. Das in dieser Umgebung optisch so unpassende Parkhaus ist nun auf einmal gar nicht mehr so unpassend, bietet es doch im Erdgeschoss zugleich Schutz, heiße Bouillon und für jeden Zieleinläufer ein großes, wärmendes Mountain Run-Handtuch zum Umlegen. Selten fand ich ein Finishergeschenk so nützlich. Ganz entspannt kann ich durch die große Wandverglasung das Wettertohuwabohu draußen beobachten. Das war eine Punktlandung! Die Helfer im Zielbereich halten trotz bedrohlich wackelndem Zielbogen wacker durch und begrüßen weiterhin jeden dem Wetter trotzenden Ankömmling mit anfeuernden Worten und Musik.
Das Parkhaus-Erdgeschoss ist nur „Chilling area“: Die „Party area“ ist ein Stockwerk höher. Auch hier sind die Fahrzeuge heute ausquartiert und zahllose Bierbänke und -tische besetzen die Parkplätze. Bei frisch gemachtem Kaiserschmarrn und Musik lässt es sich gut aushalten, während vorne auf der Bühne die Siegerehrungen zelebriert werden. Draußen sorgen Sturm, Wolken und Regen weiterhin für Ungemütlichkeit. Umso gemütlicher erscheint dieser Ort und motiviert viele Läufer, etwas länger zu bleiben. Mittels Shuttlebus ist auch der warme und trockene Rücktransport nach Heiligenblut bestens organisiert.
Sonne pur durfte ich hier vor zwanzig Jahren erleben. Aber die Wetterkapriolen haben mir heute ein vielleicht noch eindrücklicheres, ja geradezu spektakuläres Lauf- und Naturerlebnis beschert. Genau eine Stunde schneller war ich vor zwanzig Jahren unterwegs, sportlich gesehen ein Quantensprung. Aber ich sehe es heute anders: Dafür durfte ich die traumhaften Trails eine Stunde länger genießen. Und in der Erinnerung wird dies sehr viel mehr wert sein.
Der Lukas Ehrle wird das sicher noch etwas anders sehen. Als Gesamtfünfter hat er sich auch beim Hauptlauf wacker im Feld der kenianischen „Gazellen“ geschlagen. Eine Zeit von 1:13 Std. für diese schwere Strecke entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Und sicher bin ich mir, dass man von diesem jungen Ausnahmeläufer in Zukunft noch mehr hören wird.