Schnell wird es eng. Nicht nur auf dem Weg, sondern auch um uns herum. Über einen aus dem Fels gehauenen Steig werden wir stetig ansteigend durch die schmale Dabaklamm gelotst. Unter uns donnert, gischtet, schäumt der Kalserbach, über uns spritzt das Wasser von den senkrecht abfallenden Felswänden. Holzgitter schützen uns vor dem jähen Absturz. Das ist gut so, denn der Weg ist bisweilen feucht und rutschig. Ein Special Highlight zwischendurch ist eine auf Stahlgittertritten über der Klamm ruhende Aussichtskanzel, nur sehe ich sie leider erst, als ich schon vorbei bin.
Das intensive Klammerlebnis währt nur ein paar Minuten, schon weiten sich die Felswände und öffnen den Blick in ein liebliches, weites Tal mit nadelwaldumrahmten, saftigen Almwiesen. Durch das Dorfertal führt uns der Streckenkurs auf einem gut ausgebauten Almenfahrweg ohne nennenswerte Steigungen. Auf Tafeln kann man sich über die Geschichte und Besonderheiten des Tals informieren und sogar akustisch berieseln lassen. Aber so viel Zeit ist dann doch nicht. Kaum zu glauben ist, dass dieses pittoreske Hochtal einmal unter den Wassermassen eines gigantischen Stausees verschwinden sollte. Bürgerbegehren und ein allgemeines politisches Umdenken ließen das Projekt zum Glück scheitern.
Überaus entspannend lässt es sich über Kilometer dahin traben. Und so erreiche ich, gerade einmal eine gute Stunde unterwegs, nach 11 km schon das urtümliche Kalser Tauernhaus, auf 1.755 m üNN in traumhafter Lage im Talboden des oberen Dorfertals gelegen, umgeben von Zirbenwäldchen und sich in Wasserfällen von den Berghängen stürzenden Bächen. Ein paar Hüttengäste beklatschen unser Ankommen. Zwei Wassertanks sind vor der Hütte zur Befüllung bereit gestellt. Aber noch hat niemand Bedarf.
Die Steigung nimmt nun zu, der Weg wird unwegsamer. Geradezu verschwenderisch sprießt die Flora zu unseren Füßen, gut durchfeuchtet von zahllosen Rinnsalen. Entsprechend matschig ist der Weg, wären da nicht die vielen Steinplatten, die uns, solange man achtsam ist, ein fußtrockenes Durchkommen ermöglichen.
Der Zahl wie der Größe nach nimmt das Felsengewühl um uns herum zu. Die Landschaft mutiert zum Zyklopenspielplatz. Streckenmarkierungen weisen uns den Weg durch das Felsenlabyrinth. Einen Heidenspaß macht die Kraxelei durch die Überreste eines einstigen Felssturzes. Ein weiteres Ergebnis dieses Naturereignisses tut sich wenig später vor unseren Augen auf: Der blau-grün schimmernde Dorfer See (1.929 m üNN). Das Wasser ist so still und klar, dass man weit in die Tiefe blicken kann. Fast noch schöner ist das völlig unverzerrte Spiegelbild der Bergwelt im eisigen Wasser.
Am Ostufer entlang passieren wir den See und treten ein in das sich dahinter fortsetzende, aber nun immer steiler empor strebende Hochtal. Hochgebirgseinsamkeit umgibt uns. Ja, die Almen sind noch immer herrlich grün, aber außer den Grasmatten gedeiht hier nicht mehr viel und das Geröll gewinnt mit zunehmender Höhe die Oberhand. Andererseits: Das Panorama hinter uns, ins weite Tal hinab, und hinauf, zu den immer näher rückenden schroffen Kämmen der Berge, ist eine motivierende Entschädigung für die Mühen.
9 Uhr ist es mittlerweile und trotz strahlend blauem Himmel war ich bislang nur im Schatten der Berge unterwegs. Das ändert sich nun von einem Moment auf den anderen. Ich durchschreite die Schatten-Sonnengrenze und es ist so, als hätte jemand einen Lichtschalter angedreht: Plötzlich erleuchtet die gesamte Bergwelt mit all ihren Farben und Kontrasten und den Läufern mittendrin. Die Kehrseite der Medaille: Es wird trotz der Höhe schlagartig wärmer und der Schweiß fließt in Strömen. Lindwurmartig schlängelt, nein: schleicht die Kette der Läufer auf dem ausgesetzten Singletrail in die Höhe. Niemand spricht, niemand überholt, außer mich: Denn Fotostopps geben mir immer wieder ein Alibi zum Zurseitetreten und Durchschnaufen. Ich kann mich gar nicht sattsehen. Je höher wir kommen, desto unwirtlicher, schroffer und gleichsam grandioser wird die Kulisse. Fast schon künstlerisch wirkt auf mich das Bild, das grüne Wiesen, grauer Fels und weißer Schnee auf den steilen Abhängen zaubern.
Eine kleine Ewigkeit dauert es, bis auch ich mich nach knapp 18 km zu unserem ersten „Gipfel“, die auf 2.518 m üNN gelegene Passhöhe Kalser Tauern, empor gekämpft habe. Ein Bergwachtler harrt hier aus und beobachtet die Szenerie. Ich tue es ihm wie so manch anderer Läufer gleich. Den Großglockner wie das Kitzsteinhorn soll man von hier sehen können. Bei all den 3000ern um mich herum fällt es mir jedoch schwer, mich zu orientieren. Macht nichts. Der Gesamteindruck zählt und der macht richtig Laune. Vor und tief unter mir kann ich schon mein nächstes Zwischenziel erspähen: Die türkisblaue „Pfütze“ des Weißsee mit der über seinen Gestaden thronenden, aus der Ferne winzig kleinen Rudolfshütte, rundum eingebettet von mächtigem Gestein.
Einen letzten Blick werfe ich zurück und was ich da am Himmel sehe, gefällt mir gar nicht. Binnen kürzester Zeit, fast wie aus dem Nichts, hat sich im Süden eine bedrohlich düstere Wolkenwand aufgebaut. Und die zieht leider in meine Richtung. Zeit wird es weiterzukommen. Schon pfeift ein zunehmend kräftiger Wind über den Pass.