Ich steige auf einem schmalen Trail steil bergauf. Doch nicht der anstrengende Aufstieg ist das Problem, sondern der Sturm, der uns nun mit brutaler Gewalt entgegen bläst. Den ganzen Tag über war es fast windstill, doch nun tobt ein Wind fast mit Orkanstärke über den Pass und durch das Tal. Selbst auf ebener Strecke wäre es anstrengend gewesen, gegen diese Naturgewalt anzulaufen. Ich war noch nie bei einem Wettkampf und auch nur sehr selten bei einer Wanderung bei so einer Windstärke unterwegs. Und immer nur von vorne! Das kostet Kraft und Zeit. Andererseits muss ich zugeben, dass mir dieser Kampf gegen den Sturm auch Spaß macht. Mal eine neue Erfahrung bei einen Ultratrail!
Nun bin ich sehr froh über meine Windstopper-Jacke. Kurz überlege ich, ob ich zum Schutz vor Unterkühlung auch lange Hosen anziehen soll, bevor es oben am Grat richtig heftig wird. Ich will mich bei dem Sturm aber auch nicht zum Umziehen hinsetzen. Also weiter!
Der Trail wird immer steiler. An einigen Stellen brauche ich auch die Hände, um voran zu kommen. Immer wenn ich glaube, dass die obersten Stirnlampenlichter den Pass erreicht haben, sehe ich eine Viertelstunde später erneut weit über mir Lichter. Aber der Blick hinab zu den weit hinter mir steigenden Teilnehmern hat irgendwie etwas Befriedigendes.
Der Veranstalter hat uns schon vor Tagen darauf hingewiesen, dass wir in diesem Jahr auch Ende Juli noch vereinzelt Schneefelder auf der Strecke haben werden. Schön! Ich mag Schneefelder eigentlich wirklich gerne! Aber bei dem, was nun in stockdunkler Nacht vor uns liegt, kann ich verstehen, wenn einige Teilnehmer umkehren. Das ist mehr als nur Laufsport, mehr als normales Trailrunning, das ist Abenteuer pur! Jetzt bin ich sicher, dass dieser Lauf unbedingt in die Liste der Strecken muss, die ich nur sehr erfahrenen Freunden empfehlen werde.
Im Licht meiner Stirnlampe erkenne ich vor mir ein steiles Schneefeld, an dessen oberem Rand wir uns auf kaum wahrnehmbaren Fußspuren entlang des Steilhanges balancieren müssen. Kritisch wird die Sache vor allen dadurch, dass direkt neben unser Spur deutlich sichtbar schon Leute mit den Füßen zum darunter liegenden Hohlraum eingebrochen sind. Einbrechen kann zu Knochenbrüchen führen, Abrutschen wäre hier auch kein Vergnügen. Also extrem aufpassen und sehr, sehr vorsichtig Fuß vor Fuß setzen! Adrenalin und Nervosität bilden für mich eine krasse emotionale Mischung. Einesteils will ich hier nicht rüber, andererseits reizt mich diese großartige abenteuerliche Herausforderung. Schade, dass das Licht der Stirnlampen nicht ausreicht, um Fotos zu machen. Blitzen will ich auch nicht, da ich an dieser heiklen Stelle niemanden erschrecken will.
Ich kann nicht mehr sagen, wie lange diese Querung ist, vielleicht 50, vielleicht 100 Meter oder mehr, es kommt mir auf jeden Fall sehr lang vor. Anschließend steigen wir inmitten des Schneefeldes auf meist schuttbedecktem Boden bergauf. Noch immer tobt der Sturm von oben herab, doch ich komme recht gut voran. Dann sehe ich oben die Stirnlampen der Läufer und die Scheinwerfer der Bergwacht. Geschafft!
Den ersten Anblick, der sich mir oben an der Unteren Pfandlscharte (2663 m) bietet, werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen. Das ist einer der Momente, wegen denen ich heute trotz des frustrierenden Endes sage, dass sich der Start gelohnt hat. Von der anderen Seite des Berges kommen ein paar kleine, wild zerrissene Wolkenfetzen heraufgeschossen und sausen in steilen Winkel mit etwa 100 km/h über den Köpfen einiger Bergwachtleute in den Himmel. Grandios!
Ich bewundere diese Helfer, die uns verrückten Läufern ein Abenteuer ermöglichen und die Nacht, statt gemütlich daheim im Bett zu liegen, in Sturm und Kälte auf dem Berg ausharren. Eigentlich müssten wir nach jedem Ultratrail an die Streckenposten Dankesbriefe schreiben. Verdient hätten sie es.
Was nun folgt ist wirklich megakrass! Das Schneefeld auf der anderen Seite der Scharte ist so steil und die Oberfläche so weich, dass die Schuhe keinen Halt beim Abstieg finden. Daher hat die Bergwacht hier ein Seil gespannt, an den wir uns hinab hangeln können. Ist das noch Trailrunning? Egal, es ist auf jeden Fall eine Herausforderung! Aus den besorgten Fragen der Helfer, wie es uns geht, schließe ich, dass dieser Passübergang nicht bei jedem auf Begeisterung stößt.
Die restlichen Schneeabstiege sind gegenüber den bisher erlebten nicht mehr ganz so heftig. Noch ein kurzer Abstieg, ein kurzer Gegenaufstieg, dann geht es auf meist gut laufbaren Trails etwa 500 Höhenmeter schnell hinab in Richtung Glocknerhaus. Ein paar Mal umgibt mich für zum Glück nur für kurze Zeit dichter Nebel. Jeder, der schon nachts bei Nebel mit Stirnlampe gelaufen ist weiß, wie doof das ist. Das Licht der Lampe wird von winzigen Wassertröpfchen reflektiert, so dass man hier eine sehr deutlich geringere Sichtweite hat, als es bei Tageslicht der Fall wäre. Oft kann ich nur zwei bis fünf Meter des Pfades vor mir erkennen und muss entsprechend langsam laufen, um nicht von der Route abzukommen. Unsere Strecke ist aber hervorragend markiert. Vor allem die sehr vielen Reflektoren, die uns bei Nacht schon aus großer Entfernung anzeigen wo es weiter geht, bewähren sich vorbildlich.
Glücklich und zufrieden erreiche ich gegen 3 Uhr das Glocknerhaus (2132 m), unsere zweite Verpflegungsstelle. Der 1875 begonnenen Bau der heute an der Großglockner Hochalpenstraße ein Stück unterhalb des Endpunktes stehenden Alpenvereinshütte wurde wegen Geldmangel auf ungewöhnliche Weise fertig finanziert: Durch eine Lotterie. Im Laufe seiner wechselhaften Geschichte war das Haus zeitweise geschlossen und verwahrlost, von 1945 bis 1948 nutzte die englische Besatzungsmacht es als Hochgebirgsschule für Offiziere. Heute ist das inzwischen gut und auch umweltfreundlich ausgebaute Haus unter anderem für seine gute Küche bekannt, wovon wir in der Nacht draußen am Zelt der Verpflegungsstelle natürlich nichts haben.
Obst, Tee, Kuchen, Salzstangen, Tee, Cola - eine Mischung, schnell durcheinander konsumiert, belastet meinen Magen. Drinnen im Haus kauern schon etliche entkräftete oder entmutigte Läufer und wollen nicht mehr raus. Ich gespannt, was mich noch erwartet, packe meine Stöcke (ohne die ich auf dieser Strecke kaum eine Chance hätte) und lasse beim Abschied der Cut Off Stelle wie vorgeschrieben meine Startnummer scannen. 1:45 Abstand zum Zeitlimit, damit bin ich sehr zufrieden, vor allem angesichts der Verhältnisse.