Leider ist die Nacht noch absolut dunkel, so dass ich die von hier aus bei Tageslicht faszinierende Silhouette des Großglockner nicht einmal erahnen kann. Zwischen den Wolken schimmern nur ab und zu ein paar einsame Sterne hindurch, der Halbmond ist längst hinter den Bergen verschwunden. Es folgt ein schneller Abstieg hinab zu einem kleinen Stausee. Beim Überqueren der beiden Staumauern kann ich kurz entspannen. Das brauche ich jetzt auch.
Schon während des Abstieges zum Glocknerhaus sah ich gegenüberliegend die Kette der Stirnlampen beim folgenden Aufstieg über 600 Höhenmeter. Dieser beginnt nun zuerst mit moderater Steigung, wird dann aber immer steiler. In und wieder treffe ich auf Helfer der Bergwacht. Wie immer wird meine Startnummer notiert und über Funk weiter gemeldet. So hat das Team jederzeit einen Überblick, wer noch wo auf der Strecke ist.
Manchmal plaudere mit einigen und werde dafür gelobt: „Endlich mal jemand, der noch gute Laune hat!“ Wieso sollte ich hier mit schlechter Laune vorbei kommen? Ich bin doch zum Vergnügen hier! Auch nach der Hölle auf der Pfandlscharte habe ich Spaß. Ich liebe es, auf Trails wie diesen unterwegs zu sein. Nur hoffe ich jetzt, dass es bald heller wird.
Endlich endet der steile Aufstieg. Vor einem kurzen Abstieg warnt mich ein Helfer, dass es direkt neben dem schmalen Pfad sehr steil in die Tiefe geht. Hier sollte man besser nicht stolpern oder ausrutschen! Es folgen auf dem schönen Wiener Höhenweg viele nicht besonders steile, manchmal sogar fast flache Trail-Kilometer. Den Streckenabschnitt zwischen Ferleiten und Kals kenne ich schon von meiner Fernwanderung von Zermatt nach Salzburg, den für heute Mittag geplanten Weg zur Rudolfshütte wanderte ich auf meiner Tour von Wien nach Nizza. So soll sich heute für mich auch ein Kreis zwischen meiner Vergangenheit als Wanderer und der Gegenwart als Trailrunner schließen.
Gegen fünf Uhr kann ich wieder die Landschaft um mich herum genießen. Noch ist es nicht richtig hell, aber egal, ich freue mich. Ich erreiche die kleine Salmhütte (2644 m), die nur per Hubschrauber mit Material versorgt werden kann. Da es recht kühl ist, betrete ich die Hütte, um drinnen etwas von meinem Proviant zu essen. Der Wirt ist nach einer fast schlaflosen Nacht schon wieder wach und kocht mir einen Kaffee. Herrlich! So fängt der Samstagmorgen perfekt an. Ich bin gut in meinem Zeitplan und muss mich nicht beeilen.
Ein kurzer Abstieg hinab in ein Tal, auf der anderen Seite wieder kurz hinauf. Von hier aus hätte man normalerweise auch einen guten Blick zum Großglockner, aber der verhüllt sich in Wolken. Nur den Ankogel in der Ferne kann ich einigermaßen erkennen. Als unmittelbar davor ein paar Sonnenstrahlen den Himmel verzaubern, sieht dies besonders reizvoll aus. Bis zur Glorer Hütte geht es nun recht einfach weiter. Jetzt erkenne ich, was der Ursprung der orangefarbenen Lichter war, die ich schon in der Nacht aus vielen Kilometern Entfernung sah: Fackeln, die uns die Richtung zeigen sollten.
Bei der Glorer Hütte am Berger Törl (2642 m) können wir unsere Wasservorräte auffüllen. Gelegenheit dazu hat man aber oft auch unterwegs an Brunnen oder Bächen. Der Schutz der Umwelt ist für solche Hütten nicht immer leicht. Von September 2011 bis Juni 2012 musste die Glorer Hütte bis zur Errichtung einer neuen Kanalisation und Anschluss einer Kläranlage geschlossen bleiben.
Wer nun glaubt, jetzt ginge es bald hinab nach Kals, der liegt völlig falsch. Stattdessen liegt ein besonders spannender Abschnitt des Wiener Höhenweges vor uns. Die Zeit dafür habe ich völlig falsch eingeschätzt.
Nach einer zum Glück wenigstens trockenen Nacht beginnt nun kurz nach 7 Uhr leichter Regen.
Ausgerechnet jetzt führt unser Trail über ein Gewirr aus losen Steinblöcken. Einen richtigen Weg gibt es hier nicht, nur ab und zu farbige Markierungen auf den Steinen, dazwischen muss man sich seine Route selbst suchen, von Felsblock zu Felsblock und von losem Stein zu losem Stein balancieren. Das macht zwar Spaß, aber man kommt verdammt langsam vorwärts und muss extrem aufpassen, dass man nicht stürzt. Garantiert ist das nichts für Neulinge! Es würde mich interessieren, wie die Eliteläufer diese Passage bewältigten.
Danach laufe ich eine Weile meist mit mäßiger Steigung auf brauchbaren Trails mal bergauf, mal bergab. Als ein Pfad in engem Winkel nach rechts abzweigt und entlang eines Baches abwärts führt, glaube ich, dass es nun endlich hinab nach Kals geht. Zwei Bergwacht-Leute fotografieren mich, dann überquere ich eine Brücke und schon wieder beginnt ein weiterer Aufstieg.
Schade, der Regen und die tiefen Wolken versauen nun die eigentlich schöne Aussicht. Der Weg führt durch vom Skizirkus und anderen Zivilisationsfolgen verschonte Natur. Bei schönem Wetter wäre dies eine ideale Umgebung, um zwischendurch "die Seele baumeln zu lassen" und sich vor den folgenden Herausforderungen noch eine Weile zu entspannen. Der Veranstalter hat neulich schon auf Facebook angekündigt, dass heute Mittag der Abschnitt zwischen Rudolfshütte und Alpincenter Kitzsteinhorn besonders anstrengend und anspruchsvoll sein wird und dass wir uns dafür noch genug Energie sparen sollten. Daher wandere ich jetzt auf einigen flachen Streckenabschnitten, die ich eigentlich auch gut hätte laufen können.
Kein Grund zur Eile, ich habe noch mehr als genug Abstand zum Zeitlimit. Obwohl ich inzwischen ahne, dass ich wohl doch nicht wie vor Stunden erhofft schon um 9 Uhr Kals erreichen kann, sondern eher wie ursprünglich geplant gegen 10 Uhr ankommen werde, mache ich mir keine Gedanken. Lieber jetzt Kraft sparen und sie beim letzten Abstieg einsetzten, ist meine vielfach bewährte Taktik.
Stunden später werde ich überlegen, ob dies, wie auch das Frühstück in der Salmhütte, ein Fehler war, oder ob mich vor größerem Übel bewahrte. Bei gutem Wetter könnte man von hier aus mal wieder einen schönen Blick zum Großglockner genießen, ich sehe aber nur Wolken. Weit unter mir liegt Kals.
Nur noch selten treffe ich auf andere Läufer. Entspannt laufe ich über die Berge und freue mich auf die bevorstehenden Abenteuer, insbesondere auf den abendlichen Abstieg von der Schmiedinger Scharte, von der aus es 1900 Höhenmeter fast ausschließlich bergab bis zum Ziel geht.
Doch jetzt beginnt erst einmal der eigentliche Abstieg nach Kals. Das lange Auf- und Ab ohne große Fortschritte hat ein Ende. Der Trail, der nun steil in die Tiefe führt, erinnert an den ersten Aufstieg gestern Abend. Der Boden ist manchmal recht rutschig. Mir geht es gut, der Regen hat vor einer Weile aufgehört, die Wolkendecke hebt sich, ich freue mich auf schönes Wetter. Jetzt wird alles gut! Ich werde in Kals genügend Zeit an der Verpflegungsstelle haben und danach auf dem Weg zur Rudolfshütte wieder mehr Abstand zum Cut Off heraus laufen.
Gut gelaunt erreiche ich Kals, steige eine Treppe hinauf, laufe auf die Verpflegungsstelle zu, über die Zeitmessmatte ….. und kann es kaum glauben, als ich am Eingang des Pavillons erfahre, dass das Rennen für mich nun trotz einer Stunde Vorsprung zum Cut Off schon vorbei ist. Vor einer halben Stunde wurde hier bereits das Rennen aufgrund einer Gewitterwarnung abgebrochen, drinnen sitzen schon zwei Dutzend Gestrandete.
In den letzten 16 Stunden bin ich etwa 59 km und 4500 Höhenmeter bei teilweise abenteuerlichen Bedingungen gelaufen, und nun war alles vergeblich. DNF, ganz ohne eigenes Dazutun! Die Stimmung in der Halle ist wie bei der Beerdigung eines guten Freundes. Genau das Gegenteil einer Finisherparty. In allen Gesichtern kann man die große Enttäuschung über das überraschende Ende erkennen.
Ich bin sogar etwas verärgert, weil man uns nicht schon früher über diese Maßnahme z. B. per SMS informiert hat. Dann erfahre ich, dass ein hinzugezogener bekannter Experte, der u.a. auch für viele Himalaya-Expeditionen detaillierte Wetterprognosen erstellt, eindringlich vor Gewittern am Nachmittag warnte. Hubert Resch entschied spontan, niemanden mehr in Kals auf die Strecke zu lassen. Wie richtig diese Entscheidung war, zeigt sich am Nachmittag, als gegen 16 Uhr Gewitter und lang andauernder Starkregen einsetzen. Dieses Wetter hätte auch mir unterwegs den Spaß verdorben. Die Entscheidung zum Rennabbruch war also 100 % richtig. Niemand will später lesen: „Läufer von Blitz erschlagen“.
In der Halle in Kals gibt es, eigentlich als Verpflegung zur Stärkung für die restliche Strecke gedacht, u.a. auch Pasta. Ich esse etwas, trinke Bier und Cola, rede mit anderen Läufern und allmählich bessert sich unsere Stimmung. Das Wetter spielt bei alpinen Trails eben eine entscheidende Rolle.
Ich stehe als 135. von etwa 200 gestarteten Männern in der Zwischenzeit-Liste. Nach mir kommen aber nur noch 20 bis 30 Läufer an. Das bedeutet, dass vermutlich schon außergewöhnlich viele Teilnehmer bereits vor Kals ausgestiegen sind.
Natürlich betrifft dieser Zwangsstopp nicht nur die Läufer in Kals. Auch bei der Rudolfshütte werden welche gestoppt und manche erwischt es auch 12 km vor dem Ziel beim Alpincenter Kitzsteinhorn, was besonders schade ist.
Gegen 11.30 Uhr werden wir kostenlos mit einem Bus zurück nach Kaprun gebracht. Normalerweise hört man in einem Bus mit 50 Läufern viel lebhaftes Geplauder, dieses Mal ist es während der etwa neunzigminütigen Fahrt fast gänzlich still.
Als ich dann gegen 16 Uhr aus dem Hotelfenster den Gewitterregen sehe, bin ich wirklich sehr froh, jetzt nicht draußen zu sein. Auch am Abend schüttet es noch so sehr, dass ich darauf verzichte, die ca. 15 Minuten vom Hotel zur Siegerehrung zu marschieren.
Für die letzten 32 km ab der Rudolfshütte brauchten die beiden Sieger 5:11 Stunden, der Drittplatzierte schon 5:40. Das sagt viel über die restliche Strecke aus. Sehr viele der langsameren Läufer, bis dahin noch im Zeitlimit, wären wohl erst viele Stunden nach Zielschluss in Kaprun angekommen – wenn überhaupt.
Markus Amon und Klaus Gösweiner liefen nach 16:47 Stunden als Sieger gemeinsam über die Ziellinie, Dritter wurde Matthias Dippacher. Anna Strakova ist mit 21:37 Stunden schnellste Frau, Zweite wurde Laetitia Pibis, Dritte Kristyna Hajkova. Aber ganz egal welche Platzierung - für mich ist jeder, der es heute überhaupt bis zum Ziel geschafft hat, ein Gewinner! Insgesamt kamen auf der langen Umrundung nur 64 von ca. 200 Männern und 3 von 15 Frauen zum Ziel, von den ca. 200 Startern auf der 50 km Strecke schafften es 128 Männer und 21 Frauen, Jim Mann vor Benjamin Bublak und Matús Vnencák sowie Kerstin Erdmann vor Elisabeth Barker und Evelyne Lachner.
Trotz allem:
Der Großglockner Ultratrail hat das Zeug, ein großer Klassiker zu werden. Dass er nur für erfahrene Trailrunner in Frage kommt, steht ja bereits in der Ausschreibung.
Meine Meinung:
Bevor man hier startet, sollte man Erfahrung bei den zwar ebenfalls nicht leichten, aber nicht ganz so schwierigen Trails wie Eiger, Zugspitze etc. gesammelt haben. Selbst den UTMB schätze ich nicht so schwierig ein, wie den GGUT. Wer Erfahrung und weiterhin Lust auf abenteuerliche Herausforderungen in grandioser Landschaft hat, sollte sich den Großglockner Ultratrail ins Pflichtenheft schreiben. Fast alle, mit denen ich spreche, wollen im nächsten Jahr wieder starten, um die offene Rechnung mit dem Trail zu begleichen.
Das unvollendete Glockner-Märchen ist zu Ende. Der unfreiwillig nicht ganz ausgelastete Trailrunner sitzt am nächsten Tag fast ohne Nebenwirkungen in der Kutsche mit den hundert Rädern, die ihn – wie gewohnt mit großer Verspätung – nach Hause bringt und denkt über neue Abenteuer nach. Und wenn er nicht ….
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