Der Rennsteig geht weiter!
Die Nacht im Auto war kalt. Die Scheiben sind beschlagen, der Akku vom Handy hat sich verabschiedet, der Wecker hat also nicht geklingelt. Mit blinder Windschutzscheibe pflüge ich mich durch den Schlamm der Wiese in Schmiedefeld, sodaß die Klumpen auf die Zelte der noch Schlafenden fliegen. Die Reifen knacken bedrohlich, als ich durch die Scherben zahlloser Bierflaschen auf dem Festplatz brettere. 1,5 Stunden werde ich panikartig den Weg nach Neuhaus am Rennweg suchen, fahre kreuz und quer über einsame Wege durch den nebligen Thüringer Wald.
Wer in Schmiedefeld ankommt, der denkt er hätte den Rennsteig geschafft. Doch der Rennsteig ist viel länger. Das Teilstück von Schmiedefeld nach Neuhaus am Rennweg wird vom Rennsteig-Marathon abgedeckt. Und das Teilstück von Neuhaus bis nach Blankenstein an der Saale von der 50km Rennsteig-Wanderung, die jetzt gleich am Sonntag früh um 7 Uhr gestartet wird.
Fünf Minuten vor Startschuß komme ich an. Keine Zeit, um sich die Laufklamotten anzuziehen. Ist ja auch egal, sind ja nur 50 km. Mit schmerzenden Beinen laufe ich zur Guts-Muths-Halle, hole die Startnummer und den „Thüringenchip“, der an den Kontrollstellen eingescannt wird und reihe mich unter die etwa 100 Anwesenden Walker.
Offiziell ist diese Teilstrecke als Wanderung ausgeschrieben, doch der Rennsteig wäre nicht der Rennsteig, würde hier nicht heimlich gelaufen (siehe mein Bericht vom letzten Jahr). Und so mischen sich unauffällig 4 Ultras, die gestern schon die 72,4 km gelaufen sind unter die Menge: Sigrid, Hajo, Christian und ich.
Der Lauf wird uns an der ehemaligen Deutsch-Deutschen Grenze entlang führen, die hier einen östlichen Verlauf nahm, über alte Grenzbefestigungen bis zu unserem Zielort Blankenstein an der Saaale. Von Blankenstein sind es noch etwa 30 km bis zur tschechischen Grenze. Anstiege gesamt 394 m, Abstiege gesamt 764 m, höchster Punkt Laubeshütte 830 m, tiefster Punkt Ziel Blankenstein, Selbnitzsteg 415 m .
Heute habe ich als Läufer eine reele Chance auf den Sieg und als der Startschuß fällt, laufe ich so schnell es nach der gestrigen Tortur noch geht los und setze mich gleich an die Spitze. Ich sehe das große „R“ und laufe aufwärts, ohne zu wissen, daß ich die falsche Richtung des Rennsteiges in Angriff nehme. 30, 40 Sportler reisse ich mit, liege weit abgeschlagen an der Spitze. Erst nach etwa 2 Kilometern bekomme ich Zweifel. Kurze Diskussion, alle drehen um.
Zurück! Nun liege ich ganz hinten im Feld der Stöckchenschwinger und beginne eine verzweifelte Aufholjagd. Eine Gruppe Walker kommt von links, wir von rechts, aber der Weg ist gefunden. Wir laufen am Bahnhof Ernstthal vorbei, ich kämpfe mich wieder an die Spitze, wieder in den Wald nördlich von Ernstthal. Am Ehrenmal des Thüringer Wintersportverbandes (km 4,7) befindet sich schon die erste Getränkestelle, die ich aber nicht erreiche, weil ich und einige andere wieder einen weiteren „R“ Weg genommen hatten. Es gibt viele Teilstücke, die für wenige Meter oder Kilometer nebeneinander laufen. Es gibt sogar private „R“ Wege, von Menschen ausgeschildert, die meinen, sie hätten die Originalstrecke ausgeschildert.
Von rechts kommt eine große Gruppe Stöckchenschwinger, die haben den Schotterweg genommen, während „meine“ Gruppe durch den nassen Wiesenweg gestiefelt ist. Ich bin zurückgefallen ins Mittelfeld.
Von hier aus verläuft der Rennsteig vom Berggasthof "Brand" durch das Waldgebiet am Roten Berg (799 m) oberhalb von Spechtsbrunn. Die Strecke führt geradeaus auf einem Feldweg weiter bis zur Kurve der Straße von Piesau, auf ca. 1 km. Ich bin wieder einigermaßen im Spitzenfeld.
Der untere Teil des Rennsteigs hat einen ganz eigenen Charakter: Statt Hochwald, Moos und knorzlige Gipfelbäume besticht hier die Vielfalt von Wald, Heidelandschaft, Schieferhänge, Weidewiesen, Felder, Dörfchen und so viele Kleinigkeiten am Wegesrand, die in fürsorglicher Heimatliebe von den Menschen angefertigt wurden.
Ich erreiche die Verpflegungsstelle "Kalte Küche" (km 11,2). Endlich kann ich frühstücken, Cola und Fettbemme. Ich bin auch wieder im vorderen Teil der Sportler. Ja, ich begreife, daß hier Sportler sind. Als es bergauf geht und ich das Tempo nicht halten kann, da studiere ich die Männer, die an mir vorbeiziehen: Es gibt drei Maschierer. Zwei gehen mit schwerem Gepäck und dicken Schuhen, einer müffelt höllisch. Dann gibt es vor mir 4, 5 Männer, die die Stöcke elegant einsetzten. Es gibt sogar einige, die schon gestern auf einer der diversen Strecken unterwegs waren. Sie stoßen sich auf den Stöcken ab und erreichen an den Steigungen eine enorme Geschwindigkeit.
Der Rennsteig ist hier so ursprünglich , wie er auch mal oben auf der SM-Strecke gewesen sein muss. Steine und vor allem Wurzeln, viele, viele Wurzeln, ein wirklich schwieriger, schmaler Trail, der einem höchste Konzentration abfordert. Bei Gefällstrecken bin ich wieder im Vorteil, doch es geht sehr steil abwärts, meine Beine schmerzen noch von der gestrigen Anstrengung. Die Marschierer fliegen förmlich an mir vorbei, ich habe doch keine Chance.
Von hier aus führt die Strecke südlich des Glashügels auf einem schmalen Asphaltweg zur thüringisch-bayerischen Grenze, die dreimal kurz hintereinander überschritten wird. Die Schildwiese (km 13,8) ist erreicht und nach wenigen Metern wird die Straße nach Kleintettau überquert.