“Europas größter Cross”, so werben die Macher des Rennsteiglaufs für ihre Veranstaltung. Ob der Begriff “Cross” tatsächlich passt, nun ja: Darüber könnte man diskutieren. Nicht jedoch darüber, dass im Thüringer Wald seit nunmehr schon 39 Jahren “das” kontinentale Megaevent im Landschaftslauf steigt.
Der Rennsteiglauf ist ein Phänomen. Es gibt ja durchaus auch andere landschaftlich reizvolle Laufveranstaltungen durch die Natur. Aber es gibt keine, die auch nur annähernd solche Massen in ihren Bann zieht. Um die 15.000 sind es, die alljährlich in das Herz des Thüringer Waldes pilgern, um bei einer der vielen Lauf- und Wanderveranstaltungen, vom 17 km-Walk bis zum Supermarathon, dabei zu sein. Hauptanziehungspunkt ist mittlerweile der Halbmarathon. Mit über 6.000 Teilnehmern ist er einer der teilnehmerstärksten Deutschlands. Auch der Marathon, der mit seinen 43,5 km bereits ein klitzekleiner Ultra ist, rangiert mit knapp 3.000 Startern in den Top Ten der Republik. Die Königsdisziplin ist und bleibt jedoch der Supermarathon, der „lange Kanten“ über hügelige 72,7 km von Eisenach nach Schmiedefeld, der für dieser Distanz mit einer Höhenmeterbilanz von +1.470 m / -969 m stolze 2.000 Läufer/innen mobilisiert.
Aber was erklärt dieses Phänomen? Die Tradition mag ein Punkt sein. Nur wenige Laufveranstaltungen können mit so viel Geschichte und Geschichten aufwarten, sogar Bücher wurden schon darüber geschrieben. Der vielleicht entscheidende Punkt mag aber sein, dass man sich bei kaum einem Lauf dermaßen wie in einer großen “Familie” fühlen darf. 25 Vereine sind in den Wettbewerb integriert. Die Betreuung ist überaus herzlich und bodenständig (hoher “Mutti”-Faktor), die Verpflegung kräftig-deftig, über jeden “Carbo-Iso-Wahn” erhaben. Gefeiert wird vor und nach dem Lauf, das Köstritzer Schwarzbier fließt in Strömen. Und: Tradition wird groß geschrieben. In mancher Hinsicht erscheint der Lauf, schon wenn man die nicht bestenlistenfähige Marathondistanz betrachtet, wie ein Anachronismus im modernen Marathonzirkus. Aber gleichzeitig macht ihn all das einmalig, prägt dies die Marke “Rennsteiglauf”.
2006 habe ich am Rennsteig meine Ultra-Premiere gefeiert. Erst der Rennsteiglauf zeigte mir, dass Ultras auch für mich machbar sind und öffnete mir die Tür für weitere Laufabenteuer jenseits des Marathonhorizonts. So gesehen ist mein Start 2011 fast schon so etwas wie eine Rückkehr “back to the roots”.
Wer den Supermarathon laufen will, der muss zunächst nach Eisenach. Da sind die Ultras erst einmal ganz unter sich, denn die Marathonis starten in Neuhaus, die Halbmarathons in Oberhof. Erst im Ziel in Schmiedefeld kommt es zum großen “come together”. So bleibt der Auflauf am Start noch halbwegs überschaubar.
Eisenach ist ein beschauliches Städtchen mit 43.000 Einwohnern, eingebettet in das üppige Grün sanft geschwungener Hügel. Hoch über der Stadt thront fast schon ein wenig entrückt die berühmte Wartburg, im Mittelalter Sitz der thüringischen Landesfürsten, später Fluchtort Martin Luthers, heute UNESCO-Weltkulturerbe und der Touristenmagnet der Region. Untrennbar verbunden ist der Name Eisenach zudem mit der automobilen Geschichte - BMW, Wartburg, Opel, all das sind Marken, die eng verbunden mit der Stadt sind.
Eisenach hat allerdings noch mehr zu bieten, unter anderem eine hübsche Altstadt mit viel Fachwerk und historischer Substanz. Und hier, auf dem zentralen Marktplatz vor dem Stadtschloss, sammeln sich die Ultras im Festzelt zur traditionellen Kloßparty mit Gulasch und Blaukraut. Die Kloßnachfrage ist so groß, dass die Kloßköche kaum mit der Produktion nachkommen und sich eine lange Schlange vor dem Zelt bildet. Aber niemand stört es und so mancher überbrückt das Warten bereits mit einem ersten Fläschlein Schwarzbier von Sponsor Köstritzer, um damit schon die richtige Grundlage für das Weiterfeiern im Zelt zu haben. Es ist kaum zu glauben, dass die Feiernden am kommenden Morgen einen Ultra laufen wollen. Aber dass Ultraläufer weitaus weniger divenhaft als Marathonläufer sind, ist mir auch schon bei anderen Läufen aufgefallen. Die Mehrheit scheint ohnehin der Kategorie Stammgast anzugehören. Gleich nebenan im historischen Creutznacher Haus bekommen wir so ganz nebenbei auch unsere Startunterlagen.
Wer das kommunikative Miteinander voll auskosten will, der übernachtet im kostenlosen „Massenquartier“, konkret: in den Klassenräumen bzw. der Turnhalle des Elisabethgymnasiums am Stadtrand. Hier sammeln sich etwa 200 Gleichgesinnte zum kollektiven Wettschnarchen. Ein Shuttlebus sorgt am Morgen für eine bequeme Startanbindung.
2.255 Meldungen zum Supermarathon können die Veranstalter in diesem Jahr verbuchen. Darunter sind allein 287 kurzentschlossene Nachmelder, was den Veranstalter so überrascht, dass ihm die Startnummern am Freitagabend ausgehen. Aber mitlaufen dürfen natürlich alle.
So sind es weit über 2.000 in diesem Jahr, die sich im ersten Morgenlicht auf dem Marktplatz einfinden. Es ist kühl, aber nicht kalt, die Stimmung ist prächtig. Sonne ist vorhergesagt, Gewitter aber auch. Musik schallt durch die Luft, übertönt vom launigen Startmoderator. Ein Hubschrauber zieht knatternd seine Runden über uns, mit der Kamera die Szenerie aus der Vogelperspektive einfangend. Kurz vor 6 Uhr ist es so weit: Traditionell wird das volkstümliche Rennsteiglied gespielt, ertönt der traditionelle Gruß der Rennsteig-Wanderer: “Gut Runst!”.
Dann erlöst der Startschuss die gespannt wartende Meute.