Bergab läßt der Dunst endlich etwas nach, die Sicht wird wieder besser. Glücklicherweise ist und bleibt es auch bis zum Ende trocken, allerdings läßt die Temperatur, insbesondere auf den Höhen, doch zu wünschen übrig. Meine Ärmlinge werde ich erst vor dem Duschen ablegen. Ein weiteres markantes Zwischenziel, die Grenzwiese, rückt näher. Zwischenzeitlich sind die Wanderer auf ihren 35 km von Schnepfenthal bis zum Grenzadler nach Oberhof zeitgleich mit uns unterwegs.
Man muß ja nicht alles toll finden, daher hadere (nicht nur) ich mit den nordischen Spaziergängern, die, wenn man nicht aufpasst, zu wahren Spießgesellen werden können. Andererseits beneide ich sie, denn teilweise sind sie parallel zu unserem festen Waldweg auf wunderbaren Trampelpfaden unterwegs. Klar, man meint es gut mit uns und viele Leute teilen sich auf einem breiten Weg besser auf. Aber so viele sind wir im beginnenden hinteren Drittel des Läuferfeldes doch gar nicht, hier hätte ich mich über manchen weiteren weichen km gefreut.
Die übernächste Verpflegungsstation ist die “Ebertswiese” (km 37,5 / 715 m NN), mit der gut die Hälfte der Strecke geschafft ist. Ich schwelge im wiederum reichhaltigen Angebot und bin begeistert über die Wiener Würstchen (warm). Ich lege jegliche Hemmung ab und verdrücke umgehend solch ein Teil mit Toast, Senf und Ketchup. Das ist keine Läufernahrung, sagst Du? Mir doch egal!
Zufrieden ziehe ich nach diesem Gaumensex gut genährt weiter. Mittlerweile lugt ab und an die Sonne hinter Wolkenlücken hervor und wärmt Körper und Seele. Jetzt ist es schade, im Wald zu laufen, der nur gelegentlich sein grünes Dach öffnet. Km 40 auf rund 760 m NN naht und damit eine für einen Marathon höchst wünschenswerte Zahl, heute jedoch liegt an dieser Stelle noch ein veritabler „Langer“ zwischen hier und dem Ziel. Die Spuren von Kyrill beginnen langsam zu verschwinden, die Schneisen, die der Orkan 2007 geschlagen hat, beginnen wieder zuzuwachsen.
Fünf Stunden und elf Minuten bin ich jetzt unterwegs und mache gerade den Marathon voll, damit wäre zumindest ein Notziel erreicht, falls es ganz eng würde. Das aber wird es nicht, ich beginne zwar müde zu werden, bin aber voller Zuversicht, es zu schaffen. Na ja, dann könnte der Sieger schon im Ziel sein, denke ich mir und bin völlig geplättet kurz darauf zu hören, daß der schon seit gut zwanzig Minuten fertig ist und mit 4:50 Std. einen Fabel-Streckenrekord aufgestellt hat. Christian Seiler ist dabei kein Profi, sondern lupenreiner Amateur. Und trotzdem der Rekordsieger in der über vier Jahrzehnte langen Tradition des Guts-Muths-Rennsteiglaufes. Der 30-Jährige Ingenieur für Kunststofftechnik kommt pro Jahr auf rund 6.000 Kilometer, gerne auf seiner Hausrunde von 20 Kilometern mit 500 Höhenmetern. Dreimal hat er jeweils den Halbmarathon und den Marathon gewonnen und in den beiden vergangenen Jahren dann den Supermarathon. Auf dem »langen Kanten« über 72,7 km hielt er den Rekord von 5:10:20 Std., bevor er heute diese sagenhafte neue Bestmarke aufstellte. Mit 50 (fünfzig) Minuten Vorsprung vor dem Zweiten!
Bald danach ist an der “Ausspanne Neuhöfer Wiese” (km 45,5 / 850 m NN) die nächste Verpflegungsstation erreicht. Im munteren Auf und Ab spule ich weiter km ab, hübsch garniert mit weiteren kulinarischen Schwerpunkten, wie der an der Neuhöfer Wiese. Etliche Kollegen sitzen auf den bereitgestellten Bänken und verschnaufen. Ich verkneife mir das tunlichst und will nicht aus dem Rhythmus kommen, den ich doch einigermaßen gefunden habe.
Ein weiterer 40 x Supermarathon-Held, Wolfgang Nadler, fragt mich nach Magnesium. Wer diesen Vornamen trägt, kann kein schlechter Mensch sein und hätte das Gewünschte auch sofort erhalten, nur habe ich zu meinem Bedauern keines dabei und kann ihm nur ein Gel anbieten. Mit km 50 ist eine weitere markante Wegstrecke absolviert, beim Albmarathon hätte ich es jetzt geschafft. Kurz darauf kann am “Gustav-Freytag-Stein” wieder nachgetankt werden.
Bei km 54,2 ist der “Grenzadler” (837 m NN) bei Oberhof und damit die nächste Verpflegungsstation erreicht. Leider habe ich nur Augen für das wiederum reichhaltige Angebot und das Biathlonstadion, zudem stoße ich auf Klaus und seine Freunde, die hier auf ihn warten. Somit verpasse ich zu meinem späteren Bedauern den Grenzstein, den die Preußen seligen Angedenkens zur Markierung ihres Herrschaftsanspruchs nicht nur hier aufzustellen pflegten. Wer nicht mehr weiter kann, hat hier (die einzige) offizielle Ausstiegsmöglichkeit mit Wertung.
Wenig später gibt es erneut etwas Attraktives aufs Auge, nämlich das sog. Rondell. Hier hat man es ausnahmsweise mal geschafft, mit einer Straßenbrücke Funktion und Kunst optimal miteinander zu verbinden. In einer sanften Linkskurve schmiegt sich das Bauwerk um einen alten Obelisken herum.
Ab dem km 55-Schild geht es parallel wieder mit der „1“ los, die gilt für die Läufer des Halbmarathons, die hier schon heute Morgen durchgezogen sind, aber bis Schmiedefeld noch eine kleine Zusatzrunde absolvieren müssen. Gott sei Dank sind wir wenigstens diese Nahrungskonkurrenten schon mal los.
Jetzt steht uns mit dem Anstieg zum Großen Beerberg, mit seinen 982 m der höchste Punkt des Thüringer Waldes, der Gipfelsturm bevor.
Nach der Getränkestelle “Sommerswiese” (855 m NN) überqueren wir die Straße und ich komme ins Schleudern. Hatte die Entfernungsangabe meiner Suunto mit der an der Getränkstelle vermerkten km-Angabe (52,25) noch exakt übereingestimmt, kommt km 60 kurz vor der “Suhler Ausspanne” (922 m HH) exakt einen km zu früh. Nanu? Hier werden wir gegenüber dem üblichen Kurs anders geleitet, möglicherweise ist die Abweichung dadurch zu erklären.
Dann ist plötzlich jede Menge Wasser auf dem Weg, das uns entgegenfließt. Wo kommt das denn bei blauem Himmel her? Und was ist das Weiße am höchsten Punkt der Strecke, “Plänckners Aussicht” (km 62 / 973 m NN), unterhalb des Gipfels des Großen Beerberges? Da hat man hier doch tatsächlich jede Menge Schnee aus der Eishalle abgekippt, um diesen markanten Punkt stilecht zu garnieren. Tolle Idee, die selbst für das hintere Feld noch einigermaßen Bestand hat!
Glücklicherweise beginnt die zuletzt genommene Cola zu wirken und ich bekomme die zweite Luft, nachdem es die letzten km doch arg zäh geworden ist. Im Gegensatz zu allen mich umgebenden Mitstreitern bewege ich mich in einer Art und Weise, die man großzügig noch mit Laufen umschreiben kann, sogar leicht bergauf. Na also, geht doch! Eine längere Bergabpassage auf einem schmalen, weichen Weg parallel zur Straße tut den Füßen gut und läßt sich wunderbar belaufen.
An der letzten Verpflegungsstelle “Schmücke” (km 64 / 916 m) nehme ich nochmals das volle Programm auf und die abschließenden acht km unter die Füße. Dachte ich. Immer weiter abwärts winkt, hundert Meter tiefer, an km 68 die letzte Getränkestelle “Kreuzwege” auch “Bierfleck” genannt. Dank Markus bin ich vorbereitet, denn hier erhält man, dem Namen entsprechend, einen (nicht zu üppig) gefüllten Becher Köstritzer Schwarzbier. OK, das mit dem Bier unterwegs ist nicht unbedingt mein Ding, aber die Veranstalter wappnen sich ja heutzutage mit größeren Biervorräten, wenn es heißt, Marathon4you naht. Und da unser Protagonist nicht vor Ort ist und auch der Anton nicht immer überall sein kann, bin ich tapfer und trete in große Fußstapfen. Man gönnt sich ja sonst nichts!
Dermaßen für das letzte Stück noch einmal mit Energie versehen, ist das Ziel nicht mehr weit. Wohl aber das km 70-Schild. Wo ist dieses Sch…öne Teil? Links unter mir breitet sich schon Schmiedefeld aus, so weit kann das doch nicht mehr sein? Na gut, dann hängt halt keines oder ich habe es übersehen, immerhin habe ich ja seit dem 60er-Schild einen km weniger auf dem Tacho. Dann, als ich schon auf den Sportplatz spekuliere, kommt es endlich. Die sehr zuverlässige Suunto zeigt 70,9 und springt sofort auf 71. Erst einen km zu wenig, zehn km später einer zu viel? Aber egal, das ist mir doch so was von Conchita! „Noch 1.086 m bis zum schönsten Zeil der Welt“, heißt es jetzt. Ich sage Euch ehrlich – das bleibt aber unter uns – mir ist nach einem langen Lauf JEDES Ziel das schönste der Welt. Aber dieses ist hier und heute einzigartig und deshalb freue ich mich ganz besonders darauf.
Schmucke Häuser stehen hier in diesem Örtchen, in dem einmal im Jahr der Bär steppt. Ah, dann erscheint ein Hinweis, auf welcher Spur wer einzulaufen hat, die zweite von links ist meine. Shirt nochmal geradegezogen, Rücken durchgedrückt, Startnummer parat gezogen und der Showteil kann beginnen. Viele Fans stehen noch an der Strecke, und so gibt es auch für mich noch einen würdigen Zieleinlauf. Ein paar rustikale Cheerleader puscheln wie wild in grün, dann nehme ich die leicht abfallenden letzten hundert Meter in leicht federndem Schritt und entspanntestem Lächeln in Angriff. Zu meiner Linken huldigt ergriffen der eigene Fanblock, Klaus knipst meinen Einlauf, dann ist es geschafft und ich kann nach GPS- bzw. barometrisch gemessenen 73,67 km und 1.824 Höhenmetern die Maske fallenlassen. Mann, bin ich platt!
Markus und Klaus sind wenige Minuten zuvor eingetroffen, so nehmen wir die finalen Schritte zusammen in Angriff: Medaillenempfang, Gemeinsames Heldenfoto, Bier trinken (Gutschein), Stützstrümpfe ausziehen (Krampf, Kacke), Duschen (warm, perfekt!), Suppe essen (Gutschein), die Frauen vereinnahmen und viel Läuferlatein erzählen. Dann tun wir etwas, für das uns manche steinigen würden: Wir schwänzen die Abschlußparty, fahren nach Eisenach zurück, gehen lecker essen und schauen uns gemütlich mit hochgelegten Füßen das DFB-Pokalendspiel an. Die Bayern gewinnen 2:0. Der einzige gravierende Makel eines perfekten Tages.
Weitere Bilder und Berichte vom Rennsteiglauf
gibt es hier auf Marathon4you.de
Streckenbeschreibung:
Streckenverlauf weitestgehend im Wald über verschiedenste Untergründe, beim SM über offizielle 72,7 km 1.470 Höhenmeter.
Startgebühr:
Für den Supermarathon je nach Anmeldezeitpunkt 50 bis 60 €.
Rahmenprogramm:
Im Startgeld enthaltene Kloßparty (!) am Vortag mit attraktivem Rahmenprogramm für Teilnehmer und Zuschauer (gegen Bezahlung). Startnummernausgabe in Eisenach. Abschlußparty in Schmiedefeld ab 19 Uhr.
Weitere Veranstaltungen:
Marathon (43,5 km), Halbmarathon, Junior- und Special-Cross sowie Wander- und Walkingstrecken
Auszeichnung:
Medaille, Urkunde (sofort und online), Finishershirt
Logistik:
Gepäcktransport zum Ziel.
Verpflegung:
Ca. alle 5 km Getränke und alle 10 km reichhaltig zu essen.
Zuschauer:
Nur an den gut anfahrbaren Punkten.
Supermarathon (72,7 km)
Männer
1 Seiler, Christian (GER) GutsMuths RSLV - 04:50:56
2 Lynas, Matthew (NOR) GutsMuths RSLV - 05:40:52
3 Jurkschat, Wolf (GER) GutsMuths RSLV - 05:44:06
Frauen
1 Kern, Karin (GER) LAV Stadtw. Tübingen - 06:16:47
2 Jakob, Anja (GER) Klingenthal/Vogtland - 06:22:25
3 Wagner, Carola (GER) Delligser SC - 06:23:13
2147 Finisher
Marathon (43,5 km)
Männer
1 Ludewig, Heiko (GER) LTV Erfurt - 02:42:16
2 Stengel, Oliver (GER) Uni Giessen - 02:49:29
3 De Franceschi, Luigi (GER) SV Ohmenhausen - 02:53:25
Frauen
1 Kruhme, Nicole (GER) GutsMuths RSLV - 03:07:28
2 Hempel, Kristin (GER) USV Erfurt - 03:15:26
3 Rottenbach, Christina (GER) KS-Sportsworld - 03:18:55
3036 Finisher