Wer in Läuferkreisen vom Rennsteiglauf spricht, meint den Supermarathon über 72,7 km von Eisenach nach Schmiedefeld. Der Marathon kommt nicht vor. So ist es auch bei den m4y-Läufern. Noch nie hat sich einer für den Marathon von Neuhaus nach Schmiedefeld interessiert.
Dabei ist das Läuferfeld mit ungefähr 3000 Teilnehmern deutlich größer als beim Supermarathon (ca. 2000). Es wird also Zeit, das Marathon-Unikum mit den 43,5 Kilometern auf unserer Seite einmal angemessen zu präsentieren. Und wer macht’s? Wie immer: Was sonst keiner will, bekomme ich.
Aber ich bin neugierig genug auf den Lauf, um mich nicht als Opfer zu fühlen. Schon jetzt kann ich sagen: Gäbe es den Supermarathon nicht, wäre dieser Marathon das Maß aller Dinge bei den Landschaftsläufen und die Startplätze müsste man verlosen. Denn sehr viel mehr als die 3000 Läuferinnen und Läufer, die dieses Jahr an der Startlinie bei der GutsMuths-Halle in Neuhaus am Rennweg stehen, passen, zumindest auf einigen Passagen, nicht auf die Strecke.
Das Ganze heißt zwar „Lauf“, wird der Veranstaltung aber nicht gerecht. Es ist ein Festival, das sich über eine ganze Region verteilt. Egal, ob man in Oberhof (Halbmarathon), Neuhaus (Marathon, 50 km Marsch) oder Eisenach (Supermarathon) an den Start geht, immer gehören ein Fest „vor und danach“ dazu. Nirgendwo bereitet man sich auf einen Lauf mit so viel Bier und Kalorien vor, wie hier. Und nirgendwo wir danach dermaßen abgefeiert. Die Verletzungsgefahr ist beim Tanz auf Bänken und Tischen mindestens genauso groß wie auf der Strecke und mancher weiß am Sonntag nicht, woher er den Muskelkater hat: vom Laufen oder Tanzen?
Alles beim Rennsteig ist deftig und hausgemacht. Pastaparty? Kannst Du überall haben. Hier gibt’s Klöße, Rotkraut, Schweinebraten, Bratwurst. Musik? Ja, aber bitte live, von Hand und zum Mitsingen. Ich garantiere Euch: Bei den Marathons in den Fasnachtshochburgen (einer davon ist ja dieses Wochenende) würde man blass vor Neid, würde man diese Stimmung hier erleben. Kein Außenstehender würde auf die Idee kommen, dass diese Leute am nächsten Tag 42 oder gar 72 Kilometer laufen.
Neuhaus am Rennweg liegt auf 830 m Höhe. Am Freitag regnet es und es ist saukalt. „Mach Dir keine Sorgen, kälter als hier ist es nirgends am Rennsteig“, tröstet mich der Intersport-Verkäufer, als ich ihn nach einer langen Laufhose frage. Er ist nämlich wie ich ganz auf Sommer eingerichtet und hat nur „kurz“ im Angebot. Bei vier Grad eine ganz neue Erfahrung für mich. Nur oben rum bin ich gut eingepackt. Wenigstens scheint am Samstagmorgen die Sonne.
Der Startplatz ist unterhalb der GuthsMuts-Halle. Auf einem LKW hat es sich die Lichter Blasmusik bequem gemacht und begleitet ein Gesangs-Duo, ebenfalls aus einem Nachbarort. Unterbrochen werden ihre Darbietungen vom Sprecher, der mal Falschparker vor dem Abschleppwagen warnt, mal ein verlorenes Handy anpreist und schließlich die regionale Laufprominenz begrüßt. Und damit sind keineswegs etwa Spitzenläufer gemeint, sondern die für den Rennsteiglauf typischen Stammläufer. Es gibt wohl keinen Lauf mit einer ähnlichen „Kundentreue“. Stolz tragen die Jubilare, meist echte Haudegen, Shirts mit entsprechenden Aufdrucken. Von vielen glaube ich, dass sie nur am Rennsteig laufen. Jedenfalls begegnen mir sonst wesentlich mehr bekannte Gesichter.
Es wird Zeit, die Klamotten abzugeben, sich ins Läuferfeld zu stellen, das Rennsteiglied wird gespielt. Signal für den Start ist das aber nicht. Da kommt noch was … der Schneewalzer. Nicht dass ihr jetzt aber meint, das Lied wird gespielt und alles hört gespannt zu. Nee, Schneewalzer auf Thüringisch geht so: Kaum erklingen die erste Tackte, bekomme ich von rechts und links einen Stoß in die Rippen. „Einhaken“ wird mir signalisiert, und „Schunkeln“. Das machen jetzt 3000 Läuferinnen und Läufer und die Zuschauer - und singen und gröhlen dazu.
Sorry Bruce, sorry Mick, aber ich kann nicht anders. Als alter Rock’n’Roller schunkele ich mit Gänsehaut den Schneewalzer. Nächster Schritt. Arme nach oben und von rechts nach links wiegen. Der Läufer vor mir hat geile Handschuhe an mit Waldemar Cierpinski drauf. Ich will’s fotografieren. Dauernd gehen die Hände aus dem Bild. Beim dritten Versuch hab ich sie. Jetzt muss ich aber mitmachen, länger wird meine Passivität nicht toleriert. Warum wollen denn alle gleich in den Wald rennen? Es ist doch so schön hier. Leute, ehrlich, gönnt Euch das wenigstens einmal.