Wie letztes Jahr nach dem GutsMuths-Rennsteigmarathon schon avisiert, sind Judith und ich dieses Jahr wieder auf dem Weg nach Thüringen, um die andere Seite des Rennsteigs kennenzulernen.
Diesmal also geht es nach Eisenach im Nordwesten. Die 42.000 Einwohner zählende Wartburg-Stadt, einst Wirkungskreis von Martin Luther, erwartet uns mit einem sehr schönen alten Zentrum, das den Krieg unbeschadet überstanden hat. Vielen Couch-Potatoes ist Eisenach aus der TV-Serie „Familie Dr. Kleist“ bekannt. Mir nicht, denn ich decke meinen Bedarf an Arztfilmen mit dem „Bergdoktor“, der immer auf hoch dramatische Weise mit den seltensten Krankheiten konfrontiert wird.
Auf dem Markt hat der Rennsteig-Laufverein ein großes Zelt aufgebaut. Die Startunterlagen gibt es jedoch im Stadtschloss aus dem 18. Jahrhundert. Dort erwerben wir auch gleich noch die Fahrkarten für den Bustransfer vom Ziel hierher zurück. Ob schon Läufer den Rückweg von Ziel zu Fuß bewältigt haben, ist nicht überliefert.
Im Zelt erwartet den ausgehungerten Reisenden bereits das Abendessen, das traditionsgemäß aus Schweinegeschnetzeltem mit Blaukraut und Klößen besteht. Also Knödel, wie es auf Bayerisch heißt, doch man klärt mich auf, dass der „Kloß“ eben noch ein Stück Brot im Kern enthält. Die freundliche Dame, die abräumen möchte, bemerkt beiläufig, dass ein Nachschlag möglich wäre. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
Vor dem Zelt genießen viele Sportler noch den warmen Sommerabend. Gut, dass die Musik der Band auch draußen zu hören ist. „Alt“ werden wir an diesem anstrengenden Arbeits- und Reisetag nicht und brechen früh zu unserer Ferienwohnung auf, um am Samstag um 5:30 Uhr halbwegs ausgeschlafen wieder vor Ort zu sein. Parkplätze in den vielen Straßen gibt es anscheinend genügend. Lobenswert die große Anzahl von Dixi-Toiletten hinter dem Schloss. Judith und ich stellen uns beim Start weit hinten an, denn wir können nicht genau einschätzen, wie leistungsfähig wir sechs Tage nach dem Liverpool Marathon sind. Ebenfalls in M4Y-Dienstkleidung erschienen ist die Familie Fender, inzwischen auch Stammgast beim Rennsteiglauf.
Die Moderatorin erzählt, dass man im Thüringer Wald nur zwei Jahreszeiten kennt: vor dem Winter und nach dem Winter. Und dann wird passenderweise auch gleich der Schneewalzer gespielt. Heute haben wir anscheinend den einzigen Sommertag zwischen den Winterperioden erwischt.
Der Start entlässt uns auf die Fußgängerzone in der Karlstraße. Einige Läufer haben Schlachtenbummler mitgebracht. Es geht an schönen Fachwerkhäusern vorbei, dann über den Karlsplatz. Vor uns das Nikolaitor aus dem Jahr 1170, das einzig erhaltene der fünf Stadttore. Die Via Regina von Frankfurt/Main nach Krakau führte im Mittelalter durch Eisenach. Rechts von uns dann das Hotel Kaiserhof. Dort wurde am 19. Januar 1901 der Verein Deutscher Motorfahrzeug-Industrieller (VDMI), heute Verband der Automobilindustrie (VDA) gegründet. Und damit ist auch klar, dass hier schon lange Automobile produziert wurden. BMW hat seinen Ursprung übrigens in Chemnitz.
Und endlich nach 700 Metern der erste Anstieg. Genau dort erwartet uns ein Straßenschild, das die Parole für die nächsten Stunden ausgibt: 73,9 km bis Schmiedefeld. Hier soll auch einer der Gründerväter des Rennsteiglaufs wohnen.
Wir schrauben uns langsam bergauf. Natürlich sehen wir bekannte Gesichter, so Manfred aus Österreich, mit dem wir schon einige Läufe absolviert haben und der am Ende immer schneller war. Und Judith, also die andere, die mit ihrer guten Laune wenigstens mich immer mitreißt. 2.500 Supermarathonis sind heute unterwegs und prompt gibt es nach nicht mal zwei Kilometern einen Stau. Gut, dass ich mich gerade mit Manfred so gut unterhalte. Vor uns scheint die Sonne durch die Bäume und kurz danach kommen wir auf eine große Wiese. Rechter Hand leuchtet das Burschenschaftsdenkmal in der Morgensonne. Es wurde 1902 zur Erinnerung an die im 1870/71 gefallenen deutschen Burschenschafter errichtet. Dann verschluckt uns der Nadelwald.
Kurze Zeit später sehe ich vor mir eine Ansammlung von Läufern, die alle gebannt ihre Handys in eine Richtung halten: Durch eine Lichtung kann man in der Ferne die Wartburg in der Morgensonne leuchten sehen. Ich hoffe, dass meine Kamera hier wenigstens ein gutes Bild zustande bringt. Der Legende nach erblickte Graf Ludwig der Springer im Jahr 1067 während der Jagd diesen 411 Meter hohen Hügel, woraufhin er rief: „Wart Berg, du sollst mir eine Burg tragen“. Nachdem er nicht Eigentümer des Grundes war, musste er sich etwas ausdenken: Er verstreute Heimaterde auf dem Berg und schwor dann vor dem Kaiser mit 12 seiner Spießgesellen, dass der Berg sein Grund und Boden sei. Anscheinend ging die Sache für den rechtmäßigen Eigentümer schlecht aus und Ludwig konnte sich eine schöne Burg bauen.
Am Sonntag unternehmen wir mit Andreas Martin, der uns heute auf der Marathonstrecke entgegenläuft, eine Stadt- und Burgbesichtigung. Dabei beeindruckte mich vor allem ein nettes Badebecken der Ritter in den Katakomben der Burg, das auch heute noch zu einer Erfrischung einzuladen scheint. Dass „Junker Jörg“, so der Deckname Martin Luthers nach seiner Ächtung, hier vom 4.5.1521-1.3.1522 eine Bibelübersetzung in die deutsche Sprache erstellte, ist sicher bekannt. Nicht ohne Grund durften wir uns zum 500. Jahrestag der Reformation am 31.10. 2017 über einen bundesweiten Feiertag freuen.
Erste Verpflegungsstelle bei Kilometer 6,9. Die VP werden von Vereinen aus der Umgebung betreut und liegen meist so verkehrsgünstig, dass auch etliche Zuschauer auf uns warten. Bei diesem Lauf ist man gut versorgt und kann auf eine Pflichtausrüstung getrost verzichten. Ich bin mit Straßenlaufschuhen unterwegs, da ich am letzten Trainingstag vorsichtshalber die Trailschuhe testen wollte und mit einer schmerzenden Wasserblase nach Hause kam. Im Großen und Ganzen verläuft der Weg über breite Forststraßen und -wege sowie einige kurze Stellen auf Teer oder Beton.
Bei km 7,4 an der Hohen Sonne steht der Gedenkstein des Rennsteiglaufs. Hier befand sich in den ersten Jahren der Start, erst später wurde dieser nach Eisenach verlegt, was mir als Ouvertüre sehr gut gefallen hat.
Mit Andreas, gebürtiger Eisenacher und fast gleiches Baujahr, bin ich mir dann doch einig, dass man bei einem Bericht über den Lauf die deutsche Geschichte nicht außer Acht lassen kann. Natürlich gab es in der DDR auch Marathons. Öfters in Leipzig und Dresden. Aber erst die Betriebssportgemeinschaft Lokomotive Weimar entwickelte mit Studierenden des Leistungszentrums im Orientierungslauf die Idee eines Langstreckenlaufs über den Rennsteig.
Dummerweise lag der Rennsteig, der über den 170 km langen Höhenweg des Thüringer Waldes verläuft, recht nahe an der Grenze zur Bundesrepublik, sodass er auf einigen Karten der DDR gar nicht verzeichnet war. Wenigstens erzählt das ein Mittfünfziger im Bus auf der Rückfahrt. Außerdem erfahre ich noch, dass der Rennsteig auf bayerischer Seite geteert wurde, weil man einfach nicht wusste, wohin mit dem ganzen Geld aus der Zonenrandförderung. Aber so weit laufen wir heute ja nicht.
Der 13.5.1973 gilt mit einer Teilnehmeranzahl von vier Läufern als Geburtsstunde des Rennsteiglaufs. Mit den 100 Kilometern war man wegen der Länge unzufrieden, aber die Publikation in einigen Zeitungen führte zum vielstimmigen Wunsch nach einer Wiederholung. Prof. Dr. Willi Schröder, Sporthistoriker in Jena, schlug vor, den Lauf nach dem Sportpädagogen Johann Christoph Friedrich GutsMuths (1759-1839) zu benennen und auf 50 Meilen zu reduzieren. Zu GutsMuths` Zeit konnten auch schon längere Läufe dort nachgewiesen werden. Der Rennsteig wurde 1330 erstmals urkundlich erwähnt. 1829 unternahm der Topograf Julius von Plänckner die erste Rennsteigwanderung von Blankenstein nach Hörschel. Von 1897 bis 1942 veranstaltete der Rennsteigverein alljährlich um Pfingsten die große „Runst“, eine Rennsteigwanderung.
Zur vierten Auflage des Laufs meldeten sich schon 1.500 Interessenten an. Einer der ersten – illegalen – BRD-Teilnehmer war der Journalist Werner Sonntag, der auch einen langen Artikel in der Zeitschrift „Spiridon“ verfasste. Viele interessante Anekdötchen kann man in den Annalen finden. So beispielsweise, dass man sich um „Bezirkspapier“ für den Druck des Ergebnisheftes bemühen musste. Und die Kreisleitung der SED musste dafür Papier freigeben, welches für Propagandamaterial bestimmt war. Spannend war sicher der Lauf von 1990. Damals ging es vom südöstlichen Beginn des Rennsteigs in Blankenstein nach Neuhaus, wobei achtmal die innerdeutsche Grenze überquert wurde.
Ob die Geschichte des Rennsteiglaufs zu seinem nachhaltigen Erfolg beiträgt, kann ich nur schwer einschätzen. Immerhin gibt es sehr viele „Wiederholungstäter“, und dieses Jahr starten in allen Disziplinen zusammen (Halbmarathon, Marathon, Supermarathon und Nordic Walking) 16.666 Sportler, wie uns am Vortag verkündet wurde. Die meisten Teilnehmer/innen verzeichnet hierbei der Halbmarathon, der den letzten Teil der Supermarathonstrecke ab Oberhof abdeckt.
Weiter mit dem Lauf. Die Infobroschüre erwähnt die „Moosbacher Linde“. Aber irgendwie entgeht die meiner Aufmerksamkeit. Interessanter wäre bei den warmen Temperaturen sicher das Moosbacher Waldbad gewesen. Aber wir sind ja nicht zum Plantschen hier.