Frankreich und Großbritannien nehmen diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Der Vietnam-Krieg geht zu Ende. Der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der Bundesrepublik wird abgeschlossen, der sowjetische Parteichef Leonid Breschnew besucht als erster sowjetischer Staatsmann die Bundesrepublik. Gegen die westlichen Industrieländer wird ein Ölembargo verhängt, in Deutschland gelten Tempolimits und Fahrverbote. Der Spritpreis steigt auf 69 Pfennig pro Liter.
Meldungen aus der Steinzeit?
Genau 40 Jahre ist das her. Im gleichen Jahr, 1973, am 12. Mai starten an der Hohen Sonne bei Eisenach die Freunde Hans-Joachim Römhild, Jens Wötzel , Wolf-Dieter Wolfram und Hans-Georg Kremer (alles Studenten bei der Uni Jena, Kremer Assistent) zu einem Lauf mit unbekanntem Ausgang und Ziel. Nach etwa 10 Stunden markierte bei Masserberg Dietrich Saalfelds „Wartburg“ eine planmäßige Raststelle. Wie weit man wohl gelaufen sei, war hier die Frage. „Etwa 100 km“, ergab die Recherche. Damit war man zufrieden und keiner wollte auch nur einen Meter weiterlaufen.
Das war die Geburtsstunde des Rennsteiglaufes, der in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag feiert und längst zum Kultlauf und Europas größtem Crosslauf avanciert ist. 16.723 Aktive aus 36 Ländern sind für die verschiedenen Wettbewerbe angemeldet.
„Schwabenalter“ nennt man bei uns die 40er Lebensjahre. Ab dann wird der Mensch gescheit. Raucher werden zu Nichtrauchern, Säufer zu Abstinenzlern, Couch-Potatoes zu Sportskanonen und Hallodris zu treusorgenden Familienvätern. Und was wird aus dem Rennsteiglauf, wenn er jetzt 40 ist?
Marcus Clauder, neuer Geschäftsführer der Veranstalter-GmbH und gleichzeitig Schmiedefelds Bürgermeister, gibt auf der Eröffnungsfeier, die anlässlich des Jubiläums parallel zu den traditionellen und legendären Kloß-Partys in Eisenach und Neuhaus in Schmiedefeld stattfindet, die Antwort: „Es ändert sich nichts!“ Damit ist „nichts Gravierendes“ gemeint. Das beruhigt die riesige Fangemeinde. Und für die Verantwortlichen ist die Aufgabe, den Kultlauf dort zu halten, wo er ist, groß genug.
Kommt man zum Rennsteiglauf, scheint es für den Läufer tatsächlich so zu sein, als sei die Zeit stehen geblieben. Außer der Einführung der elektronischen Zeitmessung und des Finisher-Shirts aus Funktionsfaser scheint sich in all den Jahren nichts geändert zu haben. Das Kunststück, dass tausend Optimierungen mit-, aber nicht wahrgenommen werden, ist geglückt.
Kein Kunststück ist es, fast die gesamte Thüringer Sportprominenz, darunter viele Olympiasieger und Weltmeister, ins Festzelt zu locken. Thüringer halten zusammen. Helmut Recknagel (Olympia-Gold 1960 im Skispringen), Marlies Göhr (erste Frau unter 11 Sek. über 100 m/1983) – schon mal gehört? Bestimmt aber von Sven Fischer und Jens Weißflog. „Täve“ Schur muss man nur den Wessis vorstellen, in den Neuen Bundesländern kennt den Radrennfahrer jedes Kind. Der zweifache Friedensfahrt-Sieger gilt als der bekannteste und größte Sportler der ehemaligen DDR überhaupt.
Der Samstag beginnt mit einer logistischen Meisterleistung. 35.000 Läuferinnen und Läufer und ihre Begleiter müssen zu den verschiedenen Startplätzen gebracht werden. Die Bus-Rally beginnt um 3.00 Uhr, denn der erste Start ist um 6.00 in Eisenach. Der Supermarathon ist trotz der Rekordbeteiligung nicht der teilnehmerstärkste, aber populärste Wettbewerb. Zumindest bei den Wessis zählt nur die 72 km lange Distanz. Auch für Bernie, der Euch von dort berichten wird.
Die Ossis (und ich) kennen sich da besser aus. Ihnen fällt die Wahl zwischen Marathon und Supermarathon schwer. Denn bevor man in Neustadt um 9.00 Uhr auf die 43,5 km (!) geht, hat man schon zweimal kräftig gefeiert. Die Kloßparty am Vorabend ist ja obligatorisch. Das zweite Fest feiert man dann vor dem Start. Und das geht so:
Zwei Stunden vor dem Start ist die GutsMuths-Halle am Apelsberg schon gut besucht. Wegen der Kälte wagt sich aber keiner nach draußen. Das stört dort aber weder das Gesangs-Duo, noch die Lichter Blasmusik, die einen LKW zur Bühne umfunktioniert haben und auf dem menschenleeren Sportplatz unermüdlich Thüringer Liedgut zum Besten geben. Auch Hans-Peter Müller ( „die Stimme des Marathons“), ist in seiner unnachahmlichen Art, Stimmung und gute Laune zu wecken, längst aktiv.
Drinnen stellt man sich am riesigen Büffet ein zweites Frühstück zusammen, trifft seine Vorbereitungen, hängt seinen Ritualen nach oder macht ein Nickerchen. Ein kleines Beispiel, das klar macht, welcher Aufwand sich hinter den Kulissen abspielt: für die Helferinnen und Helfer ist eine separate Verpflegungsstelle angerichtet, an der pausenlos Brötchen geschmiert werden.
Dann entschließt man sich doch, seinen Kleiderbeutel abzugeben und den Volksmusikern im Freigelände Gesellschaft zu leisten. Die legen sofort noch einen Zahn zu. Bald gleicht das neue Sportgelände nicht dem Startplatz zu einem Marathonlauf, es erinnert mich eher an ein Open-Air-Gelände mit ganz anderem Hintergrund. „Wer hat heute Geburtstag?“ Der wird gleich bejubelt und besungen. Jubilare werden begrüßt und einer denkt, seine Holde wird ihn vor so vielen Leuten schon nicht blamieren und macht ihr einen Heiratsantrag.
Riesenbeifall für Jörg Brömel, der nach 15 Jahren die Gesamtleitung des Unternehmens „Rennsteiglauf“ an den schon erwähnten Marcus Clauder abgibt und gleich den Marathon mitlaufen wird. Beifall auch für Bürgermeisterin Marianne Reichelt, der man den Stolz, die Freude und die Dankbarkeit ansieht, mit ihrer Stadt wesentlicher Bestandteil des Rennsteiglaufes zu sein.
Wer dann nicht mitsingt, muss ein Wessi sein. Das Rennsteiglied. Außer mir (ich halte die Kamera fest) haben alle die Hände oben. Strahlende Gesichter. Dem Rock n‘ Roller läuft es kalt über den Rücken. Auf die Ansage: „Und jetzt, liebe Freunde, kommt das, auf das Ihr so lange gewartet habt – der Schneewalzer!“ fangen 3500 Läuferinnen und Läufer und tausende Zuschauer an zu schunkeln. Der Hammer! Wer, um Gottes Willen, kam auf die Idee? Tut mir leid, liebe Freunde in Eisenach. Aber das kriegt ihr nicht hin.