„Diesen Weg auf den Höh'n bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder. Bin ich weit in der Welt, habe ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir.“
Viele von uns kennen ihn, diesen Refrain des Rennsteiglieds, aber auch den Rennsteig selbst. 170 km lang zieht er sich als Kamm- sowie historischer Grenzweg im Thüringer Wald, Thüringer Schiefergebirge und Frankenwald entlang. Ein wahrer Marathon- und mehr noch Ultraläufer ist nicht komplett, ohne das selbsternannte schönste Ziel der Welt in Schmiedefeld auf eigenen Füßen erreicht zu haben. Aber es ist nicht nur der meistbegangene Weitwanderweg Deutschlands, der mich immer wieder nach Thüringen zieht. Ob Weimar, Kyffhäuser, Suhler Brückenlauf, untertage in Sondershausen und Merkers oder kürzlich in Altenburg – immer wieder lohnt sich wegen der schönen Landschaft und toll restaurierten Orten mein Weg in den Nahen Osten.
Der ist diesmal, weil ganz im Westen nahe der hessischen Grenze gelegen, in der Tat nicht ganz so weit entfernt. In verkehrsbedingt letztlich dann doch vier Stunden ist unser aktuelles Ziel erreicht. In der Wander-Weltmeisterstadt Gumpelstadt gilt es, den Rennsteig nicht längs, sondern quer, garniert mit 1.300 HM, zu erobern. Und da wir noch immer ganz begeistert von unserem Aufenthalt in der Skatstadt Altenburg sind, quartieren wir uns erneut das ganze Wochenende, diesmal im nahe gelegenen Bad Liebenstein in einem ganz schnuckeligen Hotel, einer ehemaligen Kirche, ein. Samstägliche Ausflüge, u.a. zur Wartburg – um schon mal nach dem Rechten zu sehen – und ins Bio-Bad Schweina, steigern die Vorfreude.
Gleichermaßen bedauerlich wie unverständlich ist die sehr überschaubare Beteiligung an der, wie wir hinterher festgestellt haben werden, schönen und mit Herzblut durchgeführten Veranstaltung: Ganze 32 Voranmeldungen für den Marathon hat es gegeben, und zu Elkes Viertelmarathon mit 450 zu bewältigenden HM finden sich 5 (fünf) Personen am Start zusammen. Das wird jedoch durch die Anwesenheit unserer chinesisch/deutschen Freunde Hang Ann und Sven (sowie den Münchnern Natasha im Halbmarathon und ihr Jörg) mehr als wettgemacht, die in der vergangenen Woche bei uns zu Gast waren und auch den Bärenkopplauf erfolgreich unter die Füße genommen haben. Ann und Sven werden mir auf dem langen Kanten deutlich davonlaufen.
Man verspricht uns den wohl schönsten Trail zwischen einem National- und Naturpark mit mehrfachen Rennsteigquerungen auf stillen und schattigen Waldwegen. Sein Name Höllwand entstammt der beeindruckenden Felsformation des Großen Drachensteins mit seiner Klamm Mosbacher Hölle. Um 9:30 Uhr werden wir Marathonläufer vor dem schönen Veranstaltungszentrum Kulturscheune gestartet, der Halbmarathon folgt eine Viertelstunde, der Viertelmarathon mit Elke eine halbe Stunde später. Besonders freue ich mich, heute wieder zeitweise von Heike begleitet zu werden. Am Bilstein haben wir uns kennengelernt, hier in Gumpelstadt hatte sie im vergangenen Jahr ihren 200. Marathon zelebriert.
Der Höllwand-Marathon führt zunächst geradeaus durchs 900 Seelen-Dorf. Als ich die erste Höhe aufgrund des vorher gemachten Startfotos als Letzter erklommen habe, sehe ich die Spitze - stehen! Nach kurzer Diskussion wird gewendet und an der vorher offenkundig übersehenen Markierung abgebogen. Schon sind die ersten Körner, die wir heute bei der zu erwartenden großen Wärme besonders nötig haben werden, verbraucht. Über den Pummpälzsteg wechseln wir auf den gleichnamigen, 28 km langen Weg, den wir aber nicht komplett belaufen werden.
Mit dem Pummpälz kannst Du (noch) nichts anfangen? Dann hast Du aber Glück gehabt, denn der Kobold der Thüringer Sagenwelt soll Wanderern aufgelauert haben und ihnen in den Nacken gesprungen sein, um sich tragen zu lassen. Dabei soll er auch noch kräftige Watschen verteilt haben. Auf den Bildern ist er in voller Schönheit als Schnitzerei auf der Starterklappe zu bewundern.
Der erste Aufstieg zur Rennsteigquerung erfolgt über den Schindrasen bei Waldfisch, so, als wolle dieser Name eine Botschaft geben. Allzu sehr schinden werde ich mich aber hoffentlich nicht müssen, auch wenn der fast 11 km lange Permanentanstieg bis auf 700 m zum Felsenmeer am Glöckner, einem beliebten Aussichtspunkt, das härteste Stück des Weges sein soll. Wir passieren die Wüstung Gauchsthal, das ehemalige Dorf wurde wohl schon vor Jahrhunderten aus unbekannten Gründen verlassen. Republikflucht wird’s damals wohl noch nicht gewesen sein. Weiter geht’s entlang des Kroatengrabens, wo im dreißigjährigen Krieg eine marodierende Bande durch die einheimische Bevölkerung bis auf den letzten Mann niedergemacht wurde.
Eine erste wunderbare Aussicht belohnt uns für den Aufstieg, bevor wir bei etwa km 5,2 zum ersten Mal verpflegt werden. Himmel, ich habe vergessen, einen Becher mitzunehmen, in der Ausschreibung stand’s unübersehbar. Aber man rechnet offenbar mit Spezialisten wie mir und hat einen Handvorrat parat, danke. Weiter geht es für uns am Wegekreuz Ruhlaer Häuschen – hier gab es in grauer Vorzeit einige Gebäude inkl. Jagdhaus und Küche - zunächst hinunter über Hohe Sonne. Dieser Name geht auf ein ehemals herzogliches Jagdschloss zurück, das allerdings auch schon bessere Zeiten gesehen hat und eingezäunt auf eine Wiederbelebung hofft. Gegen den schon beschlossenen Abriß laufen engagierte Bürger Sturm.
Eine Zeitlang bin ich u.a. mit Heiko unterwegs, wir diskutieren das Thema fehlende Freude an langen Läufen ohne Startnummer und stellen beiderseits beruhigt fest, daß wir gleich ticken: Läuft man genügend lange Kanten, reicht im Training ein halber, um einen Marathon zu überleben. Am zweiten VP wird bestens aufgetischt, man weiß gar nicht, wo man zuerst zulangen soll.
Ja, Kyrill hat auch hier kräftig zugeschlagen, aber das neue Grün ist schon im Werden. Trotzdem bin ich froh, wieder in den deutlich kühleren Wald eintauchen zu können. An Holzschnitzereien, Quellen und Wassertretbecken vorbei naht die Alte Weinstraße und führt in die Mosbacher Hölle. Bereits 1522 erwähnt, verbargen die Mosbacher Bauern in dieser winzigen Klamm (leider ist sie vom Weg nicht zu sehen) im Krieg neben ihren Familien auch ihr Vieh. Der Eingang zur Schlucht war nämlich leicht zu versperren und zu tarnen.
An der berühmten Hohen Sonne entdecke ich endlich mal den früheren Startort des Rennsteiglaufs in Form eines Gedenksteins mit markanter Plakette. Wieder werden wir versorgt und – ich wäre vorbeigelaufen, wenn Jörg mich nicht auf die phantastische Aussicht zur Wartburg aufmerksam gemacht hätte. Hilfe, die ist ja immer noch unangenehm weit entfernt und liegt auf einem sehr markanten Hügel! Na ja, die zahlreichen Höhenmeter kommen natürlich nicht von ungefähr. Noch vor der Sängerwiese, so etwa an km 16,17, beginnen mir die führenden Marathoner entgegenzukommen. Alle grinsen, also dürfte wohl nicht unmittelbar Lebensbedrohliches auf mich warten. Singen muß ich an der Wiese erfreulicherweise nicht, denn das haben andere schon für mich erledigt: Hier soll es im 13. Jahrhundert einen Sängerwettstreit gegeben haben, von dem man heute noch weiß.
Wieder im Tal kommt es dann zum finalen Anstieg zur im Jahre des Heils 1080 erstmals erwähnten, auf 411 m thronenden Wartburg. Deren Name leitet sich wahrscheinlich von Warte, also Wach(t)burg, ab, sie ist der vom Start am weitesten entfernte Punkt. In wesentlichen Teilen erhalten, wurde sie 1999 unter anderem als Zeugnis des Feudalismus in Mitteleuropa und als Schaffensort des Reformators Martin Luther in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. Der lebte hier vom 4. Mai 1521 bis zum 1. März 1522 als „Junker Jörg“ versteckt, denn natürlich wollten ihm die Katholiken ans Leder. An diesem Ort übersetzte er in nur elf Wochen das Neue Testament komplett ins Deutsche, ein unerhörter Vorgang, ja Sakrileg, denn die Sprache des Katholizismus war natürlich das Lateinische.
An der Burg gelingen uns tolle Fotos. Das aber nur, weil wir den entscheidenden letzten Hinweis übersehen und daher – gut für Euch – über die Schokoladenseite und mitten durch die Touristen (die wir gestern selber noch gewesen waren) ankommen. Etwas unsicher ob des richtigen Weges sind wir zugegebenermaßen schon, dann aber entdecken wir den etwas versteckten hiesigen VP. Dort steht der Leibhaftige. Also nicht der mit den Hörnern, sondern der in Kutte und mit umgehängtem Kreuz. „Gut habt Ihr Euch gehalten, Herr Dr. Luther!“, entfährt es einem vorwitzigen Läufer. Um keine Antwort verlegen kommt es wie aus der Pistole geschossen zurück: „Ich war ja auch eingefroren!“. Quasi mit seinem Segen versehen und gut gestärkt treten wir den Rückweg an, den ich Euch nicht zu erklären brauche. Obwohl – am vorletzten VP schickt man uns in die Richtung, in die man auf dem Hinweg die Halblinge verwiesen hatte.
In praller Sonne und bei wirklich hoher Temperatur schlage ich also eine neue Richtung ein, dank reichlich Wasser und Cola muß ich keinen Einbruch befürchten. Derlei wohlgemut bin ich schon bald am letzten VP, dort, wo vorhin der Wendepunkt für die Viertelmarathoner war, tanke da nochmals auf und habe schon den Zieleinlauf vor dem geistigen Auge. Im 270 Grad-Winkel geht nach rechts ein schmalerer Weg ab, ich bleibe geradeaus. Schön fluffig komme ich immer weiter talwärts, was auch richtig ist, denn hinunter muß ich ja zweifellos. Gut, so ganz zweifellos bleibe ich dann doch nicht, erkenne aber hinter mir einen weiteren Läufer, der mir folgt. Das beruhigt.
Beunruhigend dagegen ist es, an der nächsten Wegekreuzung keine der kleinen Markierungen mehr zu sehen. Nanu, wurden die schon abgebaut? Wo ist eigentlich die Asphaltpassage, über die wir anfangs kamen? Wo der schöne Trail, auf den man uns nach etwa zwei km geleitet hatte? Ich werde doch nicht falsch sein? Jetzt wieder die ganze Strecke zum VP zurücklaufen? No way. Also tapfer weiter geradeaus, irgendwo muß ich ja rauskommen (Handy habe ich natürlich keines dabei, das wäre ja zu einfach gewesen). Da, Häuser! Lärm, also Zivilisation! Und dann fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren: Ich befinde mich am Bio-Bad Schweina, wo wir gestern Nachmittag noch vergnügt geplanscht haben. Sch…! Nicht wegen des Ortes, das Bad ist toll. Missvergnügen bereiten die ab hier noch fünf zurückzulegenden km ins Ziel nach Gumpelstadt.
Es hilft alles nichts. Ich wechsele auf die Landstraße und setze tapfer Fuß vor Fuß. Das Teufelchen in mir spricht von unauffälligem im-Auto-mitnehmen-Lassen und genauso unauffällig vorm Ziel wieder auszusteigen. Nein, das würde ich nie machen. Irgendwann bin ich dann am Ortseingangsschild angekommen und der Erlösung nahe. Aus der falschen Richtung erscheinend nimmt mich nach 47,2 km und knapp 1.200 HM mein Fanclub, leicht bis mittel irritiert, weil längst überfällig, aber doch beruhigt zur Kenntnis. Wohl bin ich auch nicht der Erste, der aus dieser Richtung kommt…
Nett ist die Party nach dem Lauf mit Live-Musik, Thüringer Würstchen und hübschen Präsenten für die Erfolgreichen. Daß ich heute erstmals bei einem Lauf Alterspräsident war, bleibt bitte unter uns. Sieger der M 65 liest sich doch deutlich besser. Elke macht mir die Nase lang, sie ist fulminante Siegerin der Mädels im Viertelmarathon und hält mir neben Urkunde und Holzmedaille einen fetten hölzernen Pummpälz-Pokal und eine Flasche Rotkäppchensekt zur Huldigung entgegen. Ihre potentielle Konkurrenz ist heute zuhause geblieben.
Was bleibt im Gedächtnis? Ein toller Lauf, der den Vergleich mit dem „richtigen“ Rennsteiglauf nicht zu scheuen braucht, und eine geradezu lachhaft niedrige, völlig unverdiente Beteiligung. Leute, in den heißen Sommermonaten konkurrieren doch nur wenige andere Veranstaltungen. Daher: Kommt 2025 nach Gumpelstadt!
Streckenbeschreibung:
Abwechslungsreicher, welliger Kurs mit einigen giftigen Anstiegen und etwa 1.200 Höhenmetern.
Startgebühr:
Traumhaftes Preis-/Leistungsverhältnis: Nur 24 oder 29 € für den Marathon, je nach Anmeldezeitpunkt.
Weitere Veranstaltungen:
Halb- und Viertelmarathonlauf, alle Disziplinen auch walkend.
Leistungen/Auszeichnung:
Medaille, Soforturkunde (die einem der Zeitnehmer sogar hinterherträgt!).
Logistik:
Alles bestens in der Kulturscheune.
Verpflegung:
Bestens, etwa alle 5 km.
Zuschauer:
Sehr übersichtlich bis kaum vorhanden. Mir haben sie nicht gefehlt.