Seit meinem ersten Start beim Inferno Halbmarathon im Berner Oberland habe ich diesen als eine der schönsten Laufstrecken in Erinnerung. Aber auch einige unglaublich steile Aufstiege blieben dauerhaft in meinem Gedächtnis. Auf 21 km dürfen wir 2170 Höhenmeter bergauf steigen, das ist mehr als bei manchem Ultratrail-Wettkampf. Besonders ein Teil der Piste des Inferno-Skirennen sowie die 400 Höhenmeter auf den letzten 1,5 km zum 2950 m hohen Schilthorn-Gipfel sind legendär. Aber die grandiose Aussicht auf viele vergletscherte Berge entschädigt voll und ganz für die Strapazen.
Start ist in Lauterbrunnen, das viele vom Jungfrau-Marathon her kennen. Von hier führt der Marathon links hinauf nach Wengen und zur Kleinen Scheideck, beim Inferno Halbmarathon laufen wir rechts über Mürren auf das Schilthorn.
Da ich in Interlaken übernachtet habe und am Samstagmorgen schon früh in Lauterbrunnen ankomme, kann ich auf dem Weg vom Bahnhof zum Startgelände am Campingplatz in aller Ruhe den Staubbach-Fall bewundern. Dies ist mit 297 m der höchste freifallende Wasserfall der Schweiz.
Schnell bekomme ich meine Startnummer, einen Beutel für meine Bekleidung, die hinauf zum Ziel transportiert wird, sowie einen zweiten Aufkleber, den man auf seine eigene Sporttasche kleben soll, die zum Sportzentrum Mürren gebracht wird, wo nach dem Lauf die Duschen und die Pastaparty sind.
Anlässlich des 30. Jubiläums des Halbmarathons findet erstmals auch ein 30 km Lauf statt, der bis Mürren über eine ganz andere Strecke führt, zwischendrin einen sehr steilen Abstieg hat und dann ab Mürren über die Halbmarathon-Strecke zum Ziel führt.
Vor dem Start wird verkündet, dass dieser Genuss-Trail vielleicht auch zukünftig veranstaltet. Wegen der Hitze wird das Zeitlimit um eine Stunde verlängert. Außerdem werden wir mehrfach daran erinnert, dass wir bei dieser Witterung unbedingt genügend trinken sollen. Gelegenheit dazu gibt es an den vielen Verpflegungsstellen genug. Um 8:50 Uhr fotografiere ich den Start des Genuss-Trail.
Der Halbmarathon wird in drei Blöcken um 9.30, 9:45 und 10:00 Uhr gestartet. Ungewöhnlich ist, dass man selbst wählen kann, in welchem Block man startet.
Gleich nach dem Start durchqueren wir zuerst Lauterbrunnen, an einer Stelle sogar kurz bergab, was heute selten so sein wird. Ab km 1 führt ein Weg in moderater Steigung durch den Wald bequem bergauf, zuerst asphaltiert, dann geschottert. Schon bald erreiche ich die erste von nicht gezählten Verpflegungsstellen. Es gibt immer Wasser, Tee und Iso, später auch oft Bouillon, Cola und mehr.
Nach einigen Kilometern steige ich einen wurzeligen Trail bergauf, so wie ich es am meisten liebe. Immer öfter sehe ich nun das klassische Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau auf der anderen Talseite. Als ich vor 16 Jahren erstmals beim Inferno startete, vergeudete ich am Anfang zu viel Kraft durch häufigen Wechsel zwischen Laufen und Gehen und musste dies dann später bei den wirklich steilen Streckenabschnitten büßen. Heute bleibe ich vernünftig und beschränke mich von Lauterbrunnen (795 m) bis Grütschalp (1485 m) auf schnelles Marschieren.
Jetzt folgen sechs Kilometer mit nur relativ leichtem Aufstieg parallel zur Bahnlinie bis nach Mürren. Inzwischen ist es wie angekündigt sehr warm, aber die herrliche Aussicht lässt mich die Hitze vergessen. Vor mir sehe ich nun in der Ferne auch das 3562 m hohe Tschingelhorn.
Ab und zu rumpelt ein Zug an mir vorbei. Immer mehr Läufer des zweiten und dritten Startblocks sowie Staffel-Läufer überholen mich, doch das ist mir völlig egal. Heute will ich jeden Kilometer einfach nur genießen!
Dann erreiche ich den autofreien Ort Mürren. Hier rennen wir teilweise im Slalom zwischen den Touristen hindurch. Einige von ihnen wundern sich über das vorbei eilende Volk, andere applaudieren. Am oberen Ende des Ortes komme ich am Alpinen Sportzentrum vorbei, wo später die Party stattfindet. Da ich hier 1,5 Stunden Vorsprung zum Zeitlimit habe, weiss ich, dass ich das Ziel auf jeden Fall rechtzeitig erreichen werde. Noch nie zuvor habe ich bei einem Lauf so viel getrunken wie heute. Vor allem über die Bouillon bin ich wegen dem Salzverlust sehr froh.
Bald sehe ich einen Gipfel mit Restaurant und Baukran vor mir. Dies ist aber nicht das Schilthorn, sondern die etwa 300 m niedrigere Station Bort mit der Baustelle der neuen Luftseilbahn, die irgendwann viel mehr Touristen viel schneller von Lauterbrunnen und Mürren zum Schilthorn bringen wird.
Nun wird die Strecke deutlich steiler. Und noch steiler! Und sogar noch viel steiler! Welch ein Glück, dass ich mir dieses Mal meine Kraft dafür aufgespart habe. Bequem kann ich woanders laufen! Ich freue mich über diese Herausforderung. Aber ich habe in den letzten vier Wochen auch auf exakt solchen Wegen trainiert.
Nun überholen mich immer wieder Teilnehmer der 30 km Strecke. Für sie wurde in der Ausschreibung die Benutzung von Stöcken ausdrücklich empfohlen, beim Halbmarathon sind Stöcke verboten.
Am heftigsten ist ein Abschnitt an der „Kanonenrohr“ genannten Stelle, an der beim Inferno-Abfahrtsrennen im Januar die Skifahrer in einem Höllentempo bergab sausen.
An einer Stelle ist der Weg so steil, dass für Wanderer eine Betonspur angelegt wurde. Vor mir krabbelt ein Läufer auf allen Vieren hinauf. Nach zwei Kilometern wird es ab der nächsten Verpflegungsstelle eine Weile wieder etwas moderater. Dann geht es sogar kurz bergab, anschließend wenige hundert Meter recht flach neben einem Bach weiter.
Und wieder wird der Weg steil. Fast bin ich überrascht, wie gut ich mich heute fühle. Nachdem ich vor gar nicht so langer Zeit vorhatte, ausgesundheitlichen Gründen mit der Lauferei aufzuhören, ist dies heute emotional mein großartiges Comeback! Für mich ist dies jetzt wohl der wichtigste Tag des Jahres! Und das Ziel rückt immer näher.
Hier oben ist es nicht mehr so heiß. Ab und zu weht sogar eine leichte Brise. Wegen dem großen Vorsprung zum Zeitlimit kann ich nun oft pausieren, um vorbei steigende Läufer zu fotografieren … und natürlich um die grandiose Aussicht zu bewundern.
Das Beste kommt zum Schluss. Auf den letzten 1,5 Kilometern gilt es, noch einmal etwa 400 Höhenmeter zu bewältigen. An manchen Stellen braucht man auch die Hände, um vorwärts zu kommen. Aber die Landschaft und die Aussicht sind unglaublich faszinierend. Was für ein geniales Abenteuer!
Zuletzt geht es noch über einen schmalen, mit Geländer gesicherten Felsgrat. Dann erreiche glücklich das Ziel. Am Eingang der Bergbahnstation bekommt jeder eine Finisherweste. Dann fahren alle mit dem Aufzug (!!!) zur übernächsten Ebene, wo uns am Rande des Restaurants die Zielverpflegung erwartet.
Das Piz Gloria war 1969 beim James Bond Film „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“eindruckvolle Kulisse für das Finale. Wohl jeder von uns setzt oder legt sich anschließend draußen auf die große Terrasse. Beim Halbmarathon erreichen 99 Frauen und 222 Männer das Ziel, beim Genuss-Trail 24 Frauen und 92 Männer.
Nun kommen auch Teilnehmer des Inferno-Triathlon oben an. Hinter ihnen liegen 3,1 km Schwimmen, 97 km mit 2145 m Steigung Roadbike, 30 km mit 1180 m Steigung Mountainbike und ein 25 km Berglauf mit 2175 m Steigung. Respekt!
Nach einiger Wartezeit fahre ich mit der Gondelbahn hinab nach Birg und dann nach Mürren. Auf der Pastaparty am Alpinen Sportzentrum plaudere ich noch lange mit lange nicht mehr gesehenen Lauffreunden bei schönstem Wetter. Dann geht es in einem proppevollen Zug nach Grütschalp und erneut mit einer Gondelbahn hinab nach Lauterbrunnen.
Nach monatelangem Zweifel an meiner sportlichen Zukunft bin ich heute so glücklich, dass ich schon auf der Heimfahrt die nächsten Wettkämpfe plane.