Das Starterfeld setzte sich jubelnd in Bewegung, endlich ging es los! Vorbei an den Gästehäusern der Insel führte die erste Linkskurve an der Anlegerstelle der Motorboote vorbei, wo Alexander Lauer seinen Nachnamen alle Ehre machte und die Ersten der über 6800 Marathonis, die im Laufe des Tages noch folgen würden, Hände klatschend begrüßte. Ich dankte ihm mit einem Grinsen, danach ging es erst einmal ein kleines Stückchen geradeaus. Auf der rechten Seite das Meer, auf der linken registrierte ich nur flüchtig ein zersplittertes, durchsichtiges aber ansonsten leer stehendes Glashaus. Ich hatte jedoch kaum Zeit, mich darüber zu wundern, da ich zunächst einmal darauf bedacht war, anderen Läufern auf dem nur wenige Fuß breitem Rundweg auszuweichen. Oftmals war ich gezwungen, zum Überholen über die grasbewachsenen Grünflächen zu laufen.
Das klingt zwar jetzt leicht, sollte sich aber in zunehmendem Maße noch als nicht zu unterschätzender Akt zwischen Kraft und Konzentration herausstellen. Aktuell machte es mir jedoch noch keine größeren Probleme, da ich mich fit fühlte.
Erster, kurzer Blick auf meine GPS-Uhr: Annähernd 13 km/h. Oha, so schnell wollte ich das Ganze aber nicht angehen. Ich zügelte mein Tempo. Dann kam auch schon die nächste Linkskurve, ich befand mich jetzt auf der Rückseite des imposanten, sternförmigen Festungsbauwerkes. "Gut 175m dürftest du nun hinter Dir haben, Mario...", ging mir der Erste von vermutlich tausend nachfolgenden Gedanken millisekundenschnell durch den Kopf. "Kaum die Hälfte der ersten Runde geschafft, denkst du abstruses Zeug´s, Mario..." Na, da war er schon, der Nächste. Prima, das konnte ja bei diesem Kreisgelaufe echt noch heiter werden.
Auf der rechten Seite erhaschte ich einen schnellen Blick auf das Nordufer des Steinhuder Meeres, auf der linken...mich selbst ?! Kaum eine Sekunde lang blickte ich einen erschrockenen Läufer an, der mir optisch stark ähnelte...dann war diese Fratze auch schon wieder weg. Danach gelang es mir gerade noch so, eine Kollision mit bunten Cabanauten zu verhindern, indem ich zwischen der fröhlichen Truppe und einer Festungskanone am Inselufer gerade noch so eine Lücke im Weg erspähte, die breit genug war, um aalglatt durch zu hecheln. Okay, das war knapp!
Die vermutlich längste Gerade der Insel wurde dann durch eine dritte Linkskurve unterbrochen. Erneut registrierte ich flüchtig eine weitere Festungskanone auf der Meerseite, aber auch ein weiteres Glashäuschen auf der Linken, hinter einer hüfthohen Wand aus Büschen. Dieses war jedoch nicht leer. "Was sich im Innern des Glashauses verbirgt, wirst Du in den folgenden 119 Runden noch herausfinden...".
Arg, die erste Runde war fast vorbei und mir kam es so vor, als würde sich mein Schweinehund jetzt schon mit perfiden Gedankenspielchen für all meine bisherigen Läufe der letzten zwei Jahre rächen wollen. Ich musste den Blick wiederholt nach vorn richten, es blieb keine Zeit für Sightseeing. Dieser Abschnitt war sowohl tückisch als auch tricky. Auf der linken Seite des letzten, geraden Abschnittes eine zunächst durchgehend hüfthohe Hecke. Kurze Zeit später auf der rechten Seite ebenfalls eine Buschmauer, dazwischen der kaum zwei Mann breite Rundweg. Es galt also, dieser Lücke in den nachfolgenden Runden besondere Aufmerksamkeit zu schenken, denn ein Überholen war zwischen beiden Buschwänden kaum möglich. Vor mir markierte ein breiter Baum die letzte Linkskurve, zwischen Hecke und Baum eine recht große Lücke. Brav umrundete ich den Baum, vorbei an dem Toilettenhäuschen auf der rechten Seite. Wieder ging es geradeaus, dem Start und Zielbereich entgegen.
Die von Michael und Programmierer Peter Brause selbst erstellte Zeitmessung feierte bei dieser Veranstaltung Premiere. Vorn erspähte ich jedenfalls den gut drei Meter breiten Durchgang, welcher von beidseitig aufgestellten, kniehohen Messgeräten durchlaufen werden musste. Wer vorbeiläuft hat Pech, und dreht dann eine Extrarunde. Wäre mir jedenfalls bereits wenige Sekunden vor Ende der ersten Runde schon passiert. "Lauf nicht vorbei, hier geht´s durch", rief mir Läufer Thosten Bierwirth vom ASFM noch zu. Dann waren die ersten 350m geschafft. Ein kurzer Blick auf GPS-Uhr, Verpflegungszelt, der klatschenden Zuschauermenge, der frierenden Ehefrau, und schon ging es wieder von vorne los. Jawoll, ich war hochmotiviert!
Die Insel kannte ich mittlerweile wie meine Westentasche: Jede Wurzel, jeden Baum, jede Linkskurve, jeden Busch, jeden Stein. Mir war die Anzahl der Festungskanonen auf diesem Rundweg ebenso bekannt wie bisher nicht aufgefallene Details: Die Statue mit Fernglas in der Hand, die Krananlage, die alte Boje. Auch die Eigenarten eines jeden Glashäuschens neben dem Rundweg waren mir nicht mehr neu: Das durchsichtige Häuschen mit den Vogelmotiven und der teilweise zersplitterten Außenfassade war lediglich gefüllt mit einem dünnen Belag von feinen Kieselsteinchen. "Tjaja, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen...", war da noch einer meiner vielen, flüchtigen Gedanken während all der Runden.
Die zweite Hütte war von außen vollkommen verspiegelt, und als ich vorbeilief, verdiente das Spiegelbild einen kecken Gruß von der Seite. Das Innenleben der letzten Glashütte bestand einzig und allein darin, dass es mit einem Haufen Gläser sowie Elektronik (Beleuchtung?) gefüllt war. Schnell wurde mir klar, dass es sich nur um eine Kunstausstellung handeln konnte. Später erfuhr ich dann, dass die Realisierung dieses Werkes des deutschen Totalkünstlers Timm Ulrichs zahlreichen Handwerkern zu verdanken war.
Jedenfalls schien es die gefühlt 60te, verließ ich mich doch hauptsächlich auf meine GPS am Handgelenk, die mir mit einem kurzen Vibrieren Kilometer 21 signalisierte. "Halbzeit, na endlich!", dachte ich bloß. "Wenn drei Runden etwas mehr als einem Kilometer entsprechen, dann müssten es ja längst über 60 sein, die ich hinter mir hatte...", versuchte ich mich mental wieder aufzubauen. Längst ging mir die dämlichen Rechenspielchen auf den Senkel...ich konnte es trotzdem nicht lassen.
Ein wiederholter Blick auf die Uhr, die mir anzeigte, dass ich längst nicht mehr eine 5er Pace lief. Deprimierend! Ein Teil von mir merkte bereits, das ich im Begriff stand, die tieferen Kellerräume namens Niedergeschlagenheit zu erreichen. Darunter herrschten dann nur noch die archaischen Gewölbe namens Depression und Mutlosigkeit. In so tiefe Gefilde wollte ich nun wirklich nicht hinabsteigen. Ich hätte nicht gedacht, das ich diesmal gefühlstechnisch kurz davor stand, das Ganze einfach sein zu lassen. Wo war das Problem, sich beim Wirt jetzt ein Fischbrötchen mit Bier zu besorgen, am Südufer der Insel eine ruhige Sitzbank anzusteuern, die Beine lang zu machen und einfach nur die Ruhe zu genießen?
Als ich wieder eine dieser mental öden Runden hinter mich hatte, gönnte ich mir eine kurze Auszeit am Verpflegungszelt, und stopfte mir ein paar Salzbrezeln in den Mund. Dann flitzte ich zu meiner Frau, drückte ihr einen Kuss auf den Mund und lief weiter. "Du hast nun 19 Kilometer hinter Dir", rief Sie mir noch freudestrahlend hinterher. Ich blickte jedoch ab-so-lut entsetzt nach vorn, und im Kopf ratterte es wieder. "Wie jetzt, 19 Kilometer !?", dachte ich extrem verbittert, und guckte auf meine GPS, die mir mit 21 Kilometern immerhin eine geschaffte Halbmarathondistanz anzeigte! Ich wollte heulen, lief aber tapfer weiter!