"Hey, der Mario macht jetzt wohl Tempo, was? Also, ich hab jetzt erst mal Hunger", rief mir Peter belustigt aus der stets gutgelaunten Menge zu. Mit seiner dicken Winterjacke knabberte er sichtlich schadenfroh an einer Bratwurst. Ich gönnte ihm ausnahmsweise den Spaß. "Frag den Wirt doch noch nach nem Glühwein", entgegnete ich und steuerte Nicole an, die mir die Trinkflasche reichte. "Du hast jetzt Kilometer 29 erreicht, nicht mehr lang", versuchte mich meine Frau aufzumuntern. "Hm, mein Tacho zeigt mir bereits 31 an, da kann was nicht stimmen...", grummelte ich bloß. Daraufhin entgegnete Sie: "Michael meinte, hier auf der Insel kann man die GPS-Uhren eh vergessen". So, so.
Nun ja, meinen Kampfgeist hatte ich zwar vor einigen Runden neu entfachen können, aber die Bratwurst-Attacke saß noch tief. Verstohlen blickte ich zum mampfenden Peter rüber. Just in diesem Augenblick lief Cabanaut Captain Jack alias Milos Mihailovic an mir vorbei, und ich musste grinsen. "Nun weiß ich endlich, was das Geheimnis der Caba´s ist: Zieh Dich kostümiert an, und du erstickst jeglichen mentalen Tiefpunkt im Keim" Ich hängte mich an den Piraten dran und es ging weiter. Am voll verspiegelten Glashaus vorbei laufend fragte ich innerlich gelangweilt, wer der schönste im ganzen Land sei. Ein Millisekunden-Gedanke huschte vorbei, antwortete: "Geh aus dem Bild, du fette Sau, ich seh nix..."
Irgendwo zwischen "nur noch 8 Runden" und "ist doch vollkommen egal"
Kopftechnisch hatte ich mich zum Spiegel-Glashaus gewandelt: ich reflektierte alles und jeden, konzentrierte mich einzig und allein auf die Strecke, um wenigstens mit einer einigermaßen konstanten 6er Pace abzuschließen. Die ständigen Überholmanöver sowie die ununterbrochenen Wechsel des Untergrunds zwischen Erdreich, Wiese und Schotter hatten zwar schon lange mürbe gemacht, aber nun galt es wenigstens, durchzuhalten, um nicht wenige Kilometer vor dem Ziel leistungstechnisch vollends einzubrechen.
Der Großteil in meinem Inneren schrie sekündlich nach Ende, zwang mich mit jeder Faser meines Körpers, doch endlich mit diesem ewigen Kreisgelaufe aufzuhören. Die Minderheit war jedoch innerlich fasziniert von diesem abstrusen Lauf. Sei es ein Ultramarathon im Oberharz oder ein Untertage-Marathon in Sangerhausen: stets hatte ich meine Kräfte physisch und psychisch in Griff gehabt. Ich erinnerte mich, dass ich hier meine bisherige Marathon-Bestzeit von 3:57 verbessern wollte. Ich war meilenweit entfernt davon, noch etwas zu reißen. Es ging mir einzig und allein darum, dass meine jetzige Gesamtzeit nicht mit meinem allerersten Marathonlauf von vor anderthalb Jahren korrelierte.
"Nur noch 8 Runden, Mario", rief mir Michael entgegen. Entschlossen lief ich weiter und biss dabei mit der Kauleiste tief in mein eigenes imaginäres Beißholz. Alexander Lauer begrüßte mich bei den Motorbooten. Ich hatte Bock auf einen Handshake-im-Vorbeilauf. Zielsicher verfehlte ich seine Hand. "Macht nix, ich komme wieder", rief ich bloß zurück und gab nochmals Kette.
Ich rannte durch den Transponder-Messbereich, es machte ein letztes Mal Biep! Endlich gefinisht ! Überglücklich ließ ich mir die wunderschöne und von Michael höchstselbst in penibler Handarbeit angefertigte Medaille um den Hals hängen. Mit einem Endergebnis von 4:04:15 war ich zwar einerseits unzufrieden, mein Grinsen wollte jedoch andererseits nicht verschwinden. Und zunächst registrierte ich meine gute Laune nicht einmal an mir selbst. Erst, als ich wir uns mit Getränken zum Aufwärmen ins Cafe gesetzt hatten, spürte ich, warum es mir so gut ging. Sehr gut konnte ich mich in diesem Moment an die kräftezehrende Entbehrung meines allerersten Laufes von vor zwei Jahren erinnern. Der Inselmarathon hatte mir diese im Nachhinein schöne Erfahrung erneut ins Bewusstsein gerufen.
Als wir wieder nach draußen gingen, liefen in regelmäßigen Abständen weitere Marathonsieger ins Ziel und wurden vom Veranstalter stets persönlich in Empfang genommen. Es war unschwer zu erkennen, dass dieses Laufevent sowohl ihm als auch seiner Freundin Susanne Holz sichtlich Spaß machte. Ich wechselte derweil meine Klamotten auf dem Spitzboden des Gästehauses und wollte dann zusammen mit meiner Frau ebenfalls bis zum allerletzten Finisher warten. Aktuell bekam ich mit, wie Anja Beinling ins Ziel gelaufen kam. Sie hatte ihren ersten Marathon absolviert und strahlte überglücklich bis über beide Ohren. Bedingt durch die begrenzte Zahl von Teilnehmern spürte jeder bei dieser Laufveranstaltung unentwegt den familiären Charakter. Daher war es auch kein Wunder, das einige prompt zu Anja hin liefen und sie spontan umarmten.
Wenig später jonglierte eine der Therapeutinnen im Zielbereich spielend mit drei Halben in einer Hand und wartete geduldig auf das als Kellner verkleidete Trio Randolf Hass, Ingo Redeker und Detlef Fimmel. Die nahmen das Bier entgegen und ließen sich ebenfalls feiern. Grandioses Flair! Ich bekam nun ebenfalls wieder Durst, besorgte mir ein zweites alkoholfreies. Gerade lief die letzte Finisherin Heike Matthias in 6:23:18 ins Ziel, gefolgt von einer stattlichen Eskorte von Läufern, begrüßt und gefeiert von geduldig wartenden und Beifall klatschenden Teilnehmern.
Anschließend packte jeder mit an: der Müll wurde weggeräumt, die Zelte abgebaut, das technische Equipment verstaut. "Vorher bleibt die Küche kalt...", warnte Michael augenzwinkernd. Die Gastronomie auf Wilhelmstein bot mit dem Restaurant-Haus INSEL¬KÜCHE ländlich maritimes Ambiente. Es erwartete uns bereits ein lecker dampfendes Nudel-Buffet. 50 Plätze bot das Restaurant im Inneren, weitere 50 Plätze konnten wohl an wärmeren Tagen auf der herrlichen Freiluft-Terasse unter einem riesigen Sonnensegel zum Verweilen und Genießen genutzt werden.
Gekonnt ignorierte Micha die knurrenden Mägen seiner Gäste und hielt erst einmal eine kleine Ansprache. Einleitend bedankte er sich zunächst bei seiner ganz speziellen Truppe... "Ich hab hier außerdem ein paar weitere Medaillen zu vergeben...", fügte er geheimnisvoll hinzu, und ließ diesen Satz für ein paar Sekunden in der Luft hängen. "Ja, wir haben noch genug dieser schicken Dinger...und es ist mir eine Freude, sie den lieben Helfern zu verleihen!" Damit überraschte er die daraufhin jubelnden Partygäste und verteilte die Medaillen an die überraschten Therapeuten.
"So, kommen wir zur eigentlichen Siegerehrung. Da der Erstplatzierte Tino Schulze, der 3:24:48 gelaufen ist, leider nicht an der Party teilnehmen kann, hatten wir ihm bereits seine Trophäe nach dem Zieleinlauf überreicht. So sieht der schicke Preis aus...", und damit hielt er die Inseltrophäe für jeden sichtbar in die Höhe: eine Original Kanonenkugel der Inselfestung, gestiftet von der fürstlichen Hofkammer Bückeburg, welche auf einem Marmorsockel mit glänzender Plakette ruhte.
Er fuhr fort: "...aber wir küren ja nicht nur den schnellsten Mann, sondern auch die flinkeste Frau. Gabi Winck ist als Achtplatzierte mit 3:48:35 ins Ziel gelaufen. Kommst Du bitte nach vorn, Gabi?", grinste er und überreichte diesen in beharrlicher Handarbeit gefertigten Preis der staunenden Gabi.
Abschließend hielt Micha noch ein Beißholz in die Höhe. "Für Detlef Fimmel...", rief er in die Runde, "...der Bursche hatte sich erst kürzlich von einem Fieber erholt, wollte dennoch an diesem Lauf teilnehmen, und musste sich dann arg durchquälen. Kaum nachahmenswert. Drum hatte die Rennleitung entschieden: das Ding muss an ihn!" Beide umarmten sich. "So, und nun langt endlich rein...sonst wird noch alles kalt!"
Nach dem fröhlichen Gelage wurde an allen Tischen ausgiebig geschwatzt, diskutiert, erzählt, denn jeder hatte mindestens eine spannende Laufgeschichte zu erzählen. Später strömte ein Großteil der Gäste nach draußen, um einen wirklich grandiosen Sonnenuntergang zu bewundern. Ich genoss wie alle anderen dieses besondere Privileg...der wahrhaft krönende Abschluss eines tollen Tages!
Fast schweren Herzens stiegen wir in eine der beiden Auswanderer, welche uns um Punkt 10 Uhr am frühen Morgen wieder hinüber zum Festland bringen sollten. Michael Neumann, Susanne Holz und Britta Kröger unterhielten sich noch vereinzelt mit den abreisenden Gästen. Susanne rief mir noch zu, dass wir uns ja in zwei Wochen wiedersehen würden. Genau, dachte ich grinsend, der Eulenburgtrail, ist ja nicht mehr so lang hin. Als die Holzjollen dann fast gleichzeitig losfuhren, winkte jeder zum Abschied. Beide Schiffe fuhren nun fast parallel zueinander. An Bord des zweiten Holzsegelbootes stand plötzlich Captain Jack auf und hielt sein Entermesser weit überm Bug. "Rudert, ihr Hunde, rudert, wir holen sie ein!" Anschließendes Gelächter! Ob sich nun beide Boote wirklich ein Rennen geliefert hatten oder es lediglich den Anschein erweckte...nun, ein echter Kapitän behält derlei Sperenzien vermutlich für sich.
Diese Laufveranstaltung darf rückblickend tatsächlich mit Fug und Recht als eine der verrücktesten der Welt bezeichnet werden. Seien wir ehrlich: Welche Marathonveranstaltung bietet 120 Verpflegungspunkte, 120 Toiletten und 120 Mal die Möglichkeit, sein Spiegelbild zu analysieren...um sich dann jedes Mal kopfschüttelnd zu fragen, ob man nicht doch an seiner Lauftechnik feilen sollte ?
Organisation:
Indie-Trail Zeitnahme: Von Veranstalter entwickelte und programmierte Zeitmessung mittels Transponder
Streckenlänge:
42,195 km (Nicht bestenlistenfähig) Strecke: Rundweg 351,87m (120 Runden, die erste Runde ist verkürzt) auf befestigtem Weg.
Auszeichnung:
Jeder Finisher erhält eine Urkunde (wird mit der Post zugestellt) und eine Medaille. Der/die Schnellste erhält einen Sonderpreis.
Verpflegung:
Läufergerechte Marathon Verpflegung (Wasser, Iso, Tee)
Unkostenbeitrag:
hängt jährlich von der Teilnehmerzahl ab. Enthalten ist die Überfahrt, die Verpflegung, Zeitmessung, Medaille und Urkunde.
Ergebnisse Inselmarathon 2013
Männer
1. Tino Schulze 03:24:48
2. Matthias Schwarze 03:30:29
3. Michael Brehe 03.35.33
Frauen
1. Gabi Winck 03:48:35
2. Gisela Hollstein 03:55.31
3. Karin Bieler-Boppert 03:59:27
51 Finisher