Die Bergstation Švýcárna ist gut besucht, viele Wanderer und Ausflügler stehen im Freien, an der Labestelle sind erneut zwei Läufer anzutreffen. Für rund 22 km habe ich inzwischen 3:10 benötigt. Die Schlusszeit ist mit 6:30 Stunden festgelegt worden, das sollte sich ausgehen. Als Ausrede könnte ich ins Treffen führen, dass ich ja permanent stehen bleiben muss, weil ich für M4Y knipse. Daher halte ich mich an der Labestelle nur kurz auf, mische Wasser mit Iso und spüle mein zweites Gelpäckchen hinunter – der Medizinerfreund behauptet übrigens, dass auch Gels eine Art Dopingmittel sind. Muss ich jetzt meine inzwischen 158 Marathons – ca. 115 im Zeitraum 2009 bis jetzt – annullieren lassen? Aber nein, Gels sind Nahrungsmittel, man darf sich doch ab und zu etwas Nahrhaftes gönnen.
Ich trinke im Marschieren, Wanderer kommen mir erneut entgegen, ein Stück geht es nun auf Asphalt. Die beiden Läufer an der Labestelle eilen mir nach und überholen mich. Solche Unhöflichkeiten kenne ich zur Genüge – warten wir ab, wer mehr Puste haben würde. Der Weg hinauf zum höchsten Berg der Region, dem Praděd (deutsch: Altvater, 1491 m) ist noch lang. Trotz Naturschutzauflagen sind Teile der Region für den Wintersport erschlossen, man kann daher mit dem Auto auf den Berg hinauf fahren. In der Ferne erblicke ich den in den 1980er-Jahren am Gipfel erbauten, 145m hohen Fernsehsender. Es geht steil aufwärts, nach gut zwei Kilometern habe ich den schlankeren der beiden Ausreißer wieder eingeholt. Ich wundere mich, dass der etwas Vollschlanke weiter kämpft und 100 Meter vor mir bleibt.
Nun erreichen wir die breite, steile Asphaltstraße zum Fernsehturm hinauf – Hunderte Spaziergänger sind unterwegs. Oben ist eine Aussichtsterrasse mit Gaststätte. In der Ferne erblicke ich bei klarer Sicht das Riesengebirge und die Hohe Tatra. Während ich beim schnellen Aufwärtsgehen die Ausflügler überhole, kommen mir einige Läufer entgegen, die nach der Wende und Zählung beim Sender eine gut 5 km lange, steile Abwärtspassage nach Ovčárna (ca. km 33, 1300 m Seehöhe) vor sich haben. Für mich erneut die Chance, Boden gut zu machen. Nach der Wende laufe ich abwärts nach wenigen Minuten auf den fester gebauten Runner auf, der wie alle bisher von mir angesprochenen Läufer keine westliche Fremdsprache (im Gegensatz zum Quartiergeber Neubauer) spricht – so versetze ich ihm einen sanften Klaps auf den Hintern und sage „dobri“.
Es geht abwärts, wieder mit 12km/h – was aufwärts nur die besten Bergläufer schaffen, gelingt mir abwärts bestens – ist ja auch viel leichter. Wieder besteht die Möglichkeit, sich bei km 32 zu laben. Eine Frau, dem Akzent nach eine Südländerin, fragt mich an der Labestelle, ob ich Spanier sei – die sehen aber ganz anders aus, jedenfalls sind sie kaum 190 groß und wiegen 90+ Kilo. „No, Senora, vengo de Austria, pero hablo un poco de español…”
Nun folgen weitere drei Kilometer hinauf zum Vysoka hole, eine jüngere Frau in roter Jacke überholt mich urplötzlich. Diese Taktik passt mir gar nicht, ich werde nicht zulassen, dass am Schluss des Rankings nur Männer platziert sind. Daher hefte ich mich an ihre Fersen. Der inzwischen schon x-te Anstieg ist wieder sehr schwierig zu meistern. Wie schön haben es die Wanderer, die offenbar mit dem Auto rauffahren und dann gemächlich ins Tal hinunter marschieren. Aber die junge Läuferkollegin scheint mir davonzueilen, sie zieht die Windjacke aus und ist plötzlich flotter unterwegs. Bald geht es wieder abwärts, trotzdem komme ich an die Dame nicht heran. Ich knipse eifrig die Moorwiesen, eine für Botaniker interessante Gegend. Eine Pärchen mit einem weißen Pudel kommt mir entgegen. Ich nicke den jungen Leuten zu und sage „hodný“ (lieb) zum Hund. Die beiden freuen sich, offenbar ist die Bezeichnung korrekt.
Kilometer 35 ist in Sicht, Quellwasser sprudelt aus einem provisorischen Rohr, zwei Frauen und ein Kind befinden sich davor – auch die vorauseilende Läuferin steht da und trinkt. Jetzt habe ich die Chance, davonzueilen. Doch wohin, es bieten sich zwei Wege an, die beide gleich in grün markiert sind. Ich warte auf die Läuferin, sie weiß auch nicht, wohin. Wir gehen beide zurück und fragen die Labebetreuerinnen. Diese sind sich nicht ganz sicher, doch zum Gipfel von Ztracené kameny (ca. 1250 m) würde es geradeaus gehen.
Die junge Dame flieht vor mir, ich kann ihr Tempo nicht halten. Es gibt laufend kleine Gegenanstiege, die sie besser nutzt. Doch knapp vor km 40 kommt mein Auftritt: Es geht nun sehr steil über felsiges Gelände bergab nach Skřítek ins Ziel. Nach 300 Metern habe ich sie eingeholt. Sie sagt zu mir: „ I see, you have still energy“. Die Strecke verläuft über einer Geröllhalde, dort kann man nicht laufen, ich weiche aus. Ein Zuschauer hat sich dort mit Teleobjektiv postiert, ich mache ihm nicht den Gefallen zu stürzen. Das Ziel ist nicht mehr weit, vielleicht 500 m. Mit 6:17:21 laufe ich durch, immerhin 13 Minuten vor der Deadline.
Wieder einmal gibt es nur für die Altersklassensieger eine Medaille, alle Finisher bekommen ein Baumwollshirt. Viele Läufer sind schon geduscht, auch Ernst Fink sitzt da und wartet auf mich. Mit 5:01:21 ist er zufrieden, seiner Meinung hält sich der Jesenicky-Marathon mit dem Bergmarathon in Kainach die Waage, nur der Lauf im Riesengebirge wäre schwerer, meint Ernst.
Ich dusche mich kalt, das Warmwasser ist verbraucht. Auf die Gulaschsuppe verzichte ich, schließlich wollen wir am nächsten Tag einen weiteren Marathon laufen.
Es ist 16:49 als der „man in black“ einläuft, rund eine halbe Stunde nach mir. Auch die anderen, die ich überholt habe, dürften wohlbehalten angekommen sein.
eine Bilanz: Für 500 CZK Startgebühr (ca. 20 Euro) bekommt man abgesehen von der Versorgung nur ein Shirt, leider keine Medaille, die man sich für den sehr selektiven Marathon eigentlich verdient hätte. Es gibt keinen Shuttlebus zurück zum Start.
Wir haben Glück: Ich frage etliche Läufer, ob sie in die Nähe von Ramzová fahren, wo unser Auto steht. Zwei nehmen uns in ihrem PKW bis nach Jeseník mit, dort nehmen wir ein Taxi um 300 CZK für 12 km. Die erste Hälfte des Doppelpacks ist gelungen.