Ich habe ein ganz anderes Problem: die Zeit. Der Jungfrau Marathon hat bis km 25,5 (Lauterbrunnen/Ey) nicht mehr Höhenmeter (ca. 350), als ein mittelprächtiger Landschaftslauf. Entsprechend sind die Durchgangszeiten kalkuliert. 3:05 Stunden sind dafür nicht üppig und auf den folgenden Berg-Kilometern darf sich unsereiner keine Schwäche leisten. Sonst ist bereits in Wengen (km 30,3/4:10) Schluss.
Ehrlich gesagt, ich habe auch ziemlich Stress. Der ist aber erfreulich. Jede Menge lohnende Fotomotive an und auf der Strecke zum Beispiel. Oder die vielen Kontakte („Tolle Seite habt ihr!“ „Wann kommt Dein Bericht?“ „Mach von mir auch mal ein Bild!“).
Nachdem man es bis Wilderswil (km 10) hat rollen lassen, lässt man sich jetzt in der Kurve beim „Hirschen“ feiern, läuft über die alte Holzbrücke und bekommt endlich die erste Steigung des Tages präsentiert. Irgendwann müssen die Höhenmeter ja abgearbeitet werden.
Gsteigweiler ist ein kleiner, liebenswerter Ort mit herrlichen alten Holzhäusern und vielen Blumen in den Gärten. Anderswo ist es lauter und es stehen mehr Zuschauer an der Straße. Aber mehr Leute wohnen hier halt nicht. Irgendwie gefällt es mir hier besonders gut. Ich bin auch sicher, ich kenne die Leute alle aus den vergangenen Jahren. Ganz besonders die „Gsteigbrügg Örgeler.“ Bleibt ja gesund, Freunde!
Wieder können wir ein paar Höhenmeter abhaken, dann geht es auf einer Schotterpiste („Promilleweg“) so rasant abwärts, dass es richtig staubt. Wo die Schwarze Lütschine aus Grindelwald und die Weiße Lütschine aus dem Lauterbrunnental zusammenkommen, liegt Zweilütschinen (km 15). Auch die Bahnlinien aus Grindelwald und Lauterbrunnen treffen hier zusammen.
Ende August 2005 gab es schwere Regenfälle in den Alpen, die auch hier zu Hochwassern führte. Es war mehr als fraglich, den Jungfrau Marathon wie geplant durchführen zu können. Aber alle Anwohner hielten zusammen und schafften das Unmögliche. „Ihr“ Jungfrau Marathon konnte stattfinden. Die Läuferinnen und Läufer dankten den Bewohnern für den enormen Einsatz. Und umgekehrt wurde den Marathonis für ihr Kommen gedankt. Spätestens da wurde ein weiteres Erfolgsgeheimnis des Jungfrau Marathon offenbar: Er ist tief in der Region und Bevölkerung verwurzelt. „Welcome Runners“ ist kein auf ein Banner gekritzelter Spruch. Er ist gelebte Wirklichkeit.
Auch dieser Sommer muss ziemlich feucht gewesen sein, denn die Lütschine führt viel Wasser, das natürlich aber längst nicht an unsere Laufstrecke heranreicht. Ich laufe so nahe wie möglich am Wasser, da ist es angenehm kühl auf dem meist schattenlosen Weg. Nach ein paar Kilometern erreichen wir Lauterbrunnen, das für die Dauer des Laufes für den Verkehr gesperrt ist. Das Parkhaus ist belegt, sämtliche Busparkplätze sind es auch und auf der Straße bildet sich eine lange Autoschlange. Die Stimmung im Marathondorf hat den Höhepunkt hinter sich, die Zuschauerkarawane ist bereits nach Wengen weitergezogen. Was bleibt ist dennoch mehr, als man von jedem anderen Bergmarathon her kennt. Viel mehr. Und dann der Jungfrau-Sound, dunkle, alte Holzhäuser, bunte Fahnen, die Wasserfälle, die Berge, phantastisch.
Wir laufen ein Stück weiter taleinwärts, immer fast eben, immer noch gut, um Tempo zu machen, wenn man denn noch was drauf hat. Ich habe ja meine Fotostopps zum Verschnaufen und bin froh, als die abschüssige Teerstraße zu Ende ist und der Anstieg hinauf nach Wengen beginnt. Jetzt kann ich ungeniert marschieren. Es wird gleich ziemlich steil und die Muskulatur schreit auf. Bei vielen reagiert sie sofort mit heftigen Krämpfen, anderen macht mehr der Kreislauf oder der Magen zu schaffen. Ich fürchte, hier gibt es jede Menge Ausfälle.
„Another Brick in the Wall“ klingt es von oben. Kein Zufall, denn „Wand“ oder „Mauer“ nennen die Marathonis die26 Serpentinen hinauf nach Wengen. Nur 3:21 Minuten dauert das Stück ja im Original. In dieser Zeit schaffen noch nicht einmal die Schnellsten die Wand. Deshalb läuft das Stück in einer Dauerschleife. Das hilft. Die Leute haben Ahnung. Ab km 28 wird die Steigung gemäßigter, bei km 30 ist man dann in Wengen.
Der Skiort hat sich mal wieder herausgeputzt, wie man es in den Orten im Rheinland im Karneval macht. Und so feiert man auch. Auch hier sind schon viele Zuschauer weitergezogen und doch reicht es für Gänsehaut bis zum Ortsausgang. „Noch zwei Minuten, dann wird die Strecke geschlossen“, höre ich über Lautsprecher. Da bin ich aber schon längst außerhalb der Gefahrenzone. Das wäre ja der Hammer, jetzt, wo der Jungfrau Marathon so richtig beginnt, aus dem Rennen genommen zu werden.
Nach einem einigermaßen bequemen Stück wird es bis Allmend (km 33) ziemlich steil. Dort drehen die „Gugge Motzer“ mächtig auf. Jungfrau-Sound auf der grünen Wiese. Die Physio‘s bei der Hanegg-Brücke haben alle Hände voll zu tun. Wollte ich mir was Gutes tun, müsste ich warten. Also weiter. Ein Becher Wasser muss reichen. Oder besser zwei? „Bitte nicht,“ sagt die Helferin. „Das Wasser wird knapp und soll für alle reichen.“ Perfekt, so muss es sein. Wie oft muss man es erleben, dass man zuschaut, wie sich die Läufer die Taschen vollpacken und die Letzten leer ausgehen. Einen Kilometer weiter kommt sowieso eine Verpflegungsstelle.
Die Verpflegung beim Jungfrau Marathon ist ein Kapitel für sich. An 15 Getränke- und Verpflegungsstellen gibt es Wasser, Iso, Cola, Riegel, Gel, Obst, Salz, Magnesium usw. Standort und Bestückung sind wohl durchdacht, nichts ist hier zufällig oder „eben so.“ Der Jungfrau Marathon gehört zu den ganz wenigen Läufen, bei denen ich mich ohne eigene Verpflegung auf die Strecke wage.
Manche Veranstalter haben ja Mühe, bei einem Landschaftslauf jeden Kilometer anzuzeigen. Beim Jungfrau Marathon wird ab km 26 alle 250 m die Distanz angezeigt, dazu die Koordinaten und die Notruf-Nummer.