An Tagen wie diesen ist es leicht, Komplimente zu machen. Gerade bin ich zum fünften Mal auf der Kleinen Scheidegg ins Ziel gelaufen, 4130 Finisher und noch mehr Zuschauer strahlen mit der Sonne um die Wette. Musik spielt, es wird gefeiert am Fuße von Eiger, Mönch und Jungfrau. Mir geht es super, das Zeitlimit hat mich unterwegs zwar beschäftigt, aber nicht tangiert. Meine Zeit ist nicht viel schlechter als vor zwei Jahren und, was mir viel wichtiger ist, der Chip ist voll mit tollen Bildern.
Auf dem Bahnsteig treffe ich Claudia Landolt, Blumen geschmückt. Sie ist mindestens genau so glücklich wie ich: „Ich kann es nicht glauben, ich habe gewonnen“. Auch Stunden nach ihrem Zieleinlauf kann die sympathische Schweizerin ihren Erfolg nicht begreifen.
Vor dem Start ist sie nervös wie immer. Plötzlich kriegt sie Panik. „Mir ist zu warm, ich habe zuviel an“, stammelt sie. „Was mach ich bloß?“ „Komm, zieh das Hemd aus, meine Frau nimmt es mit nach oben“, biete ich ihr an. Schnell ist sie das überflüssige Hemdchen los, dazu die Handschuhe. Jetzt ist ihr wohler.
Hab ich es nicht schon mal erzählt? Claudia Landolt hat wie ich 2002 ihren ersten Marathon gemacht. Sie lief in Lausanne 3:48, ich in Berlin 4:21, ein paar Monate später immerhin 3:56. 8 Minuten, so dicht lagen wir nie mehr beieinander. Heute sind es Stunden ...
Der Jungfrau-Marathon hat eine treue Fangemeinde. Auch in diesem Jahr werden wieder 77 Läuferinnen und Läufer für ihre 10. Teilnahme ausgezeichnet. Zum ersten Mal dabei, und das gleich im Dreierpack, ist der Südtiroler Rungger-Clan. Beflügelt durch die Erfolge von Hermann Achmüller (Zweiter und Vizeweltmeister 2007, Sieger 2008) treten Renate (Berglauf-Vizeweltmeisterin 07, Ital. Meisterin und EM-18. in Göteborg über 10.000 m) und ihr Bruder Hannes (Mitglied in der Ital. Berglauf-Nationalmannschaft) erstmals zu einem Bergmarathon an. Betreut werden sie von ihrem Vater, Albert Rungger, dem Südtiroler Laufidol. Selbstbewusst sind das Mädel und der Bursch. 3:30 ist die Richtzeit für Renate, 3:00 Stunden für den Hannes. Letztes Jahr hätten sie damit gewonnen.
Der legendäre Ruf des Jungfrau-Marathons macht es, aber auch das Preisgeld, dass weitere Neulinge am Start sind, um sich mit dem Favoriten und Seriensieger Jonathan Wyatt zu messen. Seit Jahren ist er auf der Langdistanz am Berg ungeschlagen. Irgendwann wird sich das ändern. Warum nicht heute? Hermann Achmüller ist nach eigener Aussage so gut wie nie auf ein Rennen vorbereitet. 2:55 hat er sich vorgenommen und angreifen will er den in den Dolomiten lebenden Neuseeländer.
Ganz bestimmt nicht auf Zeitenjagd sind die Mitglieder des 100-Marathon-Clubs aus Korea, die sich vor dem Start den Fotografen stellen.
Um 9.00 Uhr geht es vor einer grandiosen Zuschauerkulisse los mit einer kleinen Ehrenrunde durch Interlaken. Nach 3 Kilometern wird das Startgelände erneut erreicht und die Läuferinnen und Läufer mit tosendem Beifall endgültig auf die Strecke verabschiedet. Ruhig wird es erst im Industriegebiet, wenig später wird die erste Getränkestelle erreicht. Wie immer ist der erste Tisch leer geräumt, die armen Helfer haben gegen die anstürmenden Läufermassen keine Chance. Ich suche mir am letzten Tisch unter hundert gefüllten Bechern zwei aus und mache mich auf den Weiterweg.
In den letzten Wochen bin ich sehr wenig gelaufen und kann meine Fitness schlecht einschätzen. Eines weiß ich aber: ab Lauterbrunnen, wenn es fast nur noch bergauf geht, werde ich keine Zeit gutmachen können. Deshalb darf ich auf der ersten Streckenhälfte nicht bummeln. In Bönigen (568 m – km 7) lichte ich schnell den herrlich blauen See mit den Wolken vergangenen Bergen im Hintergrund ab, natürlich auch die Burschen mit ihren Treicheln, deren sonorer Klang mir noch lange in den Ohren liegt, dann stecke ich die Kamera aber schon wieder weg.
Ein schmaler geteerter Weg führt uns entlang dem Flüsschen Lütschine Richtung Wilderswil (585 m – 10 km). Hier warten nicht nur viele Zuschauer auf die Läuferinnen und Läufer, sondern nach der alten Holzbrücke auch die erste Steigung. Mit dem Schwung der Guggemusik ist das aber kein Problem. Bis Gsteigweiler geht es leicht wellig weiter, dann kommt der Ort, der wegen des Zusammenflusses der Schwarzen Lütschine (kommt aus Grindelwald) und der Weißen Lütschine (kommt aus dem Lauterbtunnental) Zweilütschinen (652 m – 15 km) heißt. Hey, da ist mir ja ein echter Zungenbrecher gelungen.
Die Stimmung in den Orten ist wie jedes Jahr – phantastisch, einmalig! Auch Lauterbrunnen (810 m – 19/25 km) macht seinem Ruf als Marathondorf wieder alle Ehre. Beim Anstieg am Parkhaus geht es schon los. Von wegen marschieren, die Leute brüllen dich nach oben. Durch den ganzen Ort steht links und rechts der Straße eine geschlossene Menschenmenge. Glocken und Treicheln werden geschwungen, Gugge- und Blasmusik spielt. Die Läuferinnen und Läufer schauen sich an, schütteln den Kopf, sagen nichts. Man würde sein eigenes Wort nicht verstehen. Das geht so, bis der Ortsausgang am Campingplatz erreicht wird. Dort ist Halbzeit (nach Kilometern, nicht nach Stunden) und man kann etwas durchatmen.