Bereits vor 10 Jahren war er da, der Traum, den Jungfrau Marathon zu laufen. Aber schon damals gab es den gnadenlosen Cut-Off bei km 38. Wixi brannte sich bei mir ein. Der Traum wurde lange beiseitegelegt, musste ich doch merken, dass Höhenmeter nicht mein Ding sind. Doch dann gab es im Verein erst einen Trailkurs und im Anschluss einen, der speziell auf Höhenmeterausgelegt war. Ich war so weit, nichts konnte mich mehr stoppen… Doch dann kam die Absage wegen so einem blöden Virus. Zutiefst enttäuscht nahm ich mir vor, das Fitness Level einfach ein Jahr lang zu halten. Doch dann erwischte eben dieses blöde Ding mich auch. Mir blieben nur 3 Monate Vorbereitung, um der Phönix aus der Asche zu werden.
Donnerstag früh, ab ins Auto und gen Süden nach Interlaken. Einen Tag zwecks Akklimatisierung habe ich eingeplant. Zur entsprechenden Vorbereitung ging es den Freitag ganz relaxt mit den Schweizer Bergbahnen bis auf 3571 m Höhe. Top of Europe benennt sich die höchste Bahnstation Europas (3454m) auf dem Jungfraujoch, welches zu den bedeutendsten Reisezielen der Schweiz mit jährlich rund 1 Millionen Besuchern zählt. Die letzten Meter bis zum Sphinx Observatorium geht’s mit einem Express Aufzug senkrecht hinauf. 107 Höhenmeter in 27 Sekunden, davon kann ich morgen nur träumen. Leider spielte das Wetter nicht mit, der angekündigte Regen war da und alles mit Wolken zugezogen. So gab es keinen Blick auf Jungfrau, Eiger oder Mönch. Ein kleiner Spaziergang über den Gletscher offenbarte das Erwartete, die dünne Luft sorgte spürbar für schwere Atmung. Genau das, was mein Körper heute kennenlernen sollte. Immerhin wurde das Ziel des morgigen Marathons an den Eigergletscher verlegt, was eine Höhe auf 2320 m bedeutet. Hier kann der Abtransport der Athleten mit der neuen 3S Seilbahn Eiger-Express schneller stattfinden als beim traditionellen Ziel auf der Kleine Scheidegg, von wo aus es nur mit den Bergbahnen möglich ist.
4000 Startplätze für die Austragung 2020 waren innerhalb von nur 2 Tagen ausgebucht, viele wurden auf 2021 übertragen. Die freigewordenen wurden wieder ausgeschrieben, diesmal dauerte es nur 12 Minuten und das Kontingent war erschöpft. Die Einteilung der Starter/innen erfolgt in 8 Blöcke a 500 Läufer, entweder nach schon gefinishter Zeit, ansonsten nach persönlicher Einschätzung. Die Schweizer rechnen mit Bestzeit plus 2 Stunden, um die angekündigten 2025 Höhenmeter zu überwinden. Damit geht es fast 200 m mehr nach oben als sonst. Meine Bestzeit plus 2 Stunden bringt mich in den letzten Startblock. Der Gedanke flößt an das Bevorstehende flößt mir Respekt ein.
Raceday! Während die Elite um 7:15 auf die Strecke gelassen wird, sitze ich noch gemütlich beim Frühstück im Hotel. Erst um 10:45 darf ich los. Das Hotel hatte ich bewusst in der Nähe des Starts gewählt, allerdings wurde dieser vor die Tore der Stadt auf einen Flugplatz verlegt, um genügend Platz und Abstand zu haben. Aus der City sind Shuttle Busse organisiert, wir treffen uns hinter der Kirche und landen nach kurzer Fahrt unkompliziert in der großzügigen Starting Area. Beim Check-Inn heißt es Impfzertifikat, Personalausweis und Startkarte vorzeigen, jeder bekommt ein Bändchen und damit Zugang in Richtung Hangar. Ab hier ist Maskenpflicht, welche jeder zur Verfügung gestellt bekommt. Jeder Start hat seinen Zeit Slot, in dem die Startunterlagen abgeholt werden können, so wird Gedränge vermieden. Zur persönlichen Startnummer mit Namen und Nation gibt es noch einen Beutel zur Gepäckaufbewahrung.
Ich bin früh genug dran, um mir den 10:15 Start anzuschauen. Ein Speaker sorgt für Stimmung, The final Countdown klingt aus und die Schweizer Nationalhymne wird angestimmt. Ein Startschuss und die vorletzten 500 machen sich auf den Weg. Für mich gibt es noch einen Eiweißriegel, während ich über das Gelände schlendere und mir noch etwas zu trinken hole. Ein Bild vorab an Klaus im M4Y-Headquarter ist auch noch drin. Die Nervosität steigt an und ich genieße Sonnenschein und einen zu 80% blauen Himmel. Dies war anders zu erwarten, die Wettervorhersage machte uns keine Hoffnung, trocken zu bleiben. Jetzt sind „nur“ noch für 12 und 17 Uhr Gewitter angekündigt. Meine Zeit ist gekommen, der letzte Startblock wird an die Linie gebeten. Ich genieße es mal, mich in die erste Reihe zu stellen. So kann ich voran stürmen und noch einige Fotos schießen, bevor sich das Starterfeld auseinanderzieht. Unser Block scheint mir kleiner zu sein, das sind keine 500 mehr, die hier versammelt sind. Bevor wir aber loslaufen, werden informiert, dass die ersten Drei im Ziel sind. Ein komisches Gefühl, mit diesem Wissen noch hier zu stehen. Pünktlich fällt der Startschuss und zum ersten Mal erwarten mich respektvolle 2000 Höhenmeter in den wunderschönen Schweizer Bergen.
Wir laufen am Brienzer See entlang bis Böningen. Das Feld zieht sich schnell auseinander und einige beherzigen offenbar nicht die mahnenden Worte des Speakers, es auf der ersten Hälfte nicht zu schnell anzugehen, denn der zweite Teil hat es in sich. Vier Kilometer lang ist alles ganz entspannt und komplett flach am See entlang. Doch dann kommt am Wendepunkt ein kleiner Vorgeschmack, 60 Höhenmeter zieht die Strecke sich in Serpentinen nach oben. Gut platziert ist der erste VP direkt davor, in Erschwanden am See. So schnell wir die Steigung geschafft haben, so schnell geben wir diese im folgenden Gefälle auch schon wieder ab. Die Strecke führt uns bergseitig oberhalb von See und Straße zurück Richtung Flugplatz, welchen wir relativ flach bei Kilometer 9 erneut erreichen. Eine der schönen alten Schweizer Holzbrücken bringt etwas Schatten und Abwechslung. Wir haben Königswetter, die Sonne ist schon fast zu warm und viele nutzen jeden Meter Schatten. Ich laufe ein paar Kilometer mit Klaus und wir stellen fest, dass wir nächstes Jahr Pfingsten wieder gemeinsam auf der Strecke sind, dann allerdings flacher und länger.
Es geht weiter Richtung Wilderswil, zweiter VP bei km 10, schön durch den kleinen Ort, erneut eine Holzbrücke und der zweite kleine Anstieg erwartet uns. Ungefähr 80 Höhenmeter stehen an, während wir uns auf einer geteerten Straße gleichmäßig nach oben arbeiten. Ein Brunnen am Wegesrand kommt jetzt goldrichtig, einmal den Kopf unter das kühle Bergwasser und ich fühle mich wie neu geboren. Der Belag wechselt immer wieder mal von Teer auf Schotter, alles sehr gut zu laufen. Im Vorfeld überlegte ich, ob ich mit Straßenlaufschuhen starte, oder mich doch eher auf Trail einstelle. Gerade der angekündigte Regen rückte die Geländegängigen in den Fokus, vor allem in Hinblick auf den hochalpinen letzten Kilometern. Meine Entscheidung fiel auf Straße, was bisher gut passt. Wir laufen talaufwärts Richtung Lauterbrunnen, die Strecke ist abwechslungsreich und steigt zusammen mit parallellaufender Straße und Eisenbahnstrecke langsam an.
Wir passieren Zweilütschinen mit dem dritten VP, zwei Sorten Iso, verschieden Energieriegel und reichlich Wasser stehen bereit. Ich stelle fest, dass die Kilometer nur so dahinfliegen, aber leider die Zeit ebenso. Das hier ist kein Urlaubsspaziergang, sondern es gilt, ein Race zu schaffen, welches mir mit seinen Cut-offs doch Sorgen macht.
Das nächste Highlight nähert sich mit Lauterbrunnen bei Kilometer 20. Hier ist plötzlich Leben an der Strecke, es geht auf der zum Teil gesperrten Hauptstraße mitten durch den Ort. Am VP wird erstmals zusätzlich Boullion und Energygel gereicht. Rechts über uns fällt der Staubachfall 297 m senkrecht ins Tal. Der Wasserfall hat seinen Namen durch das von Wind und Thermik zerstäubte Wasser, welches ihn noch mächtiger erscheinen lässt. Jetzt geht es auf der Ebene von Lauterbrunnen die nächsten 6 km recht flach weiter, raus bis zum VP und Wendepunkt Trümmelbach, dann zurück nach Ey bevor es zur Sache geht. Sascha gab mir im Vorfeld den Tipp, auf dieser Runde Kräfte zu sparen, dies empfinde ich als goldrichtig und möchte es gerne so weitergeben.
Jetzt geht’s los, die berüchtigte Steilwand bis Wengen liegt vor uns. Am VP in Ey nochmal reichlich Flüssigkeit aufgefüllt, denn die versprochene natürliche Erfrischung von oben hat uns versetzt, die Sonne brennt erbarmungslos auf uns hernieder. Ich begegne immer wieder Hans-Jörg und Markus aus Schaffhausen, sie haben die Höhenmeter ab hier trainiert, empfinden diese mit 26 km Anlauf doch ganz anders. Hier gibt es jetzt alle 250 m ein Schild zur Kilometerangabe. Vor kurzem freute ich mich darüber, wie die Kilometer verfliegen, jetzt erfahre ich, wie weit 250m sein können, wenn es gefüllt senkrecht die Wand hoch geht. Mir kommt Saschas Tipp zu Gute, ich kann durchgängig bergauf wandern und mache viele Plätze gut. Meine Reisegeschwindigkeit hat sich auf 15 – 17 Minuten pro Kilometer verlangsamt. Ein flacher Kilometer ermöglicht es wieder, ein bisschen zu traben, aber gefühlt kommen die Beine gerade gar nicht mehr in den Trott. Erneuter VP, und weiter geht’s bergauf Richtung Wengen.
Ortseingangs begrüßt uns ein Fahnenschwenker am Hotel Bellevue und feuert uns lautstark an, die Chefin ruft „Hop-Hop-Hop“ und ich antworte: „Bloß kein Stress“. Schlagfertig entgegnet sie: „Wird gleich dunkel!“ Nachdenklich laufe ich weiter.
In Wengen angekommen, gibt es neben Verpflegung den ersten Cut-Off. Wer die 30,5 km nicht in 4:25 h schafft, ist raus. Um diesen machte ich mir keine Sorgen, gut 20 Minuten sind ein sicheres Polster. Mein Albtraum bleibt Wixi! Wir laufen durch den Ort, hoch, runter, flach, alles ist dabei und entspannt etwas die Beine. Bevor es, ihr könnt es euch sicher schon denken, wieder bergauf geht. Die Teerstraßen enden mit Wengen und es geht auf gut zu laufenden Wirtschaftswegen weiter. Wobei, laufen geht meistens gar nicht mehr, wir wandern keuchend die steilen Steigungen empor. Jede noch so kleine flache Passage nutze ich zum Traben, gedanklich male ich mir aus, dass ich so wenigstens einen Kilometer von vier gelaufen bekomme und es zeitlich passen könnte. Bei Kilometer 36 beginnt es leicht zu regnen, eine wohltuende Erfrischung.
Und dann kommt sie, die Abzweigung Wixi. Mein Albtraum auf den letzten Kilometern. Bei km 38,4 schaue ich auf die Uhr, ich bin 18 Minuten vor der Zeit und glücklich. Hier wird hinter mir leider für einige das Rennen zu Ende sein. Es geht einige Meter steil bergab bis zu einem Lift und hier beginnt der Einstieg in den Bergpfad. Ich spüre, dass mich der Wettlauf bis Wixi viel Kraft gekostet hat. Ich bekomme kaum noch die Beine hoch. Meine Uhr meint, dass noch 500 Höhenmeter ausstehen und ich frage mich, wie das noch gelingen soll. Der Regen wird stärker und es wird kühl. Beim Start waren es 19 Grad, für das Ziel am Eigergletscher werden 8-9 Grad erwartet.
Kurze Pause und Regenjacke drüber, ich verliere einen Platz nach dem anderen. Auch die Cola am nächsten VP hält mich nur am Leben, wirklich Kraft kommt keine mehr. Ein Blick auf die Kleine Scheidegg lenkt etwas ab. Ein „normaler“ Jungfrau Marathon würde dort enden. Ich sehe vor mir die Karawane mit Läufern in bunten Trikots, welche sich weitere 200 Höhenmeter Richtung Eigergletscher arbeitet.
Definitiv ist das hier der härteste Teil der Strecke. Wieder senkrecht die Wand hoch, diesmal jedoch auf einem schmalen Bergpfad. Jemanden vorbeizulassen, bedeutet neben dem Weg stehenzubleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Regen den Boden aufweicht und meine Straßenschuhe jetzt doch am Limit sind. 20 Minuten brauche ich, um mich einen Kilometer emporzustemmen. Es wird nebelig, als es auf die berüchtigte Moräne geht. Jeder Schritt ist ein Kampf, die Gesichter um mich herum scheinen es ebenso zu empfinden. Am Ende der Moräne noch einmal ein laufbares Stück, die Pace allerdings ist unterirdisch. An einem felsigen Übergang stehen Helfer bereit, um helfenden Händen die abgekämpften Athleten so kurz vor dem Ziel heile über die schwierige Passage zu bringen. An der Stelle vielen Dank an die 1700 Helfer/innen die uns dieses Erlebnis überhaupt ermöglichen.
Jetzt geht es, wie könnte es anders sein, wieder steil bergauf. Wir passieren die letzten Kilometerschilder. Ich kann es gar nicht glauben, wie lang ein Kilometer im Gebirge sein kann. Peter sitzt 600m vor dem Ziel auf einer Stufe, ich muntere ihn auf. Aber die 600 m sind jetzt hier oben schier unendlich. Schritt für Schritt kommt die Bergstation Eigergletscher näher, Schritt für Schritt verinnerliche ich, dass ich Wixi besiegt habe, dass in wenigen Minuten der Traum vom Jungfrau Marathon Realität ist und dass mir das die letzten paar Meter nicht mehr nehmen werden. Das Zielbanner rückt näher. Der Gedanke, durch das Ziel laufen zu wollen, ist reine Utopie. Ich schleppe mich mit schweren Beinen die letzten Meter hinauf. Unter dem Zielbanner leuchtet mein Name und die Ziel-Zeit, ein unbeschreibliches Gefühl von Glück überkommt mich. Die Schmerzen sind da, aber die Freude ist stärker. Ich sehe die leuchtende Jacke von Tanja mit dem Handy in der Hand, reiße die Arme empor für mein persönliches Finisher Foto und bin froh, dass es geschafft ist.
Hier oben geht jetzt alles ziemlich schnell, schließlich sind die fleißigen Helfer seit Stunden damit beschäftigt, glückliche Finisher bei kalten Temperaturen zu empfangen. Von der Sprecherin höre ich, das noch 70 Läufer/innen auf der Strecke sind, welche den Cut-Off geschafft haben. Es gibt die wohlverdiente Medaille, das Finisher Shirt, eine Jungfrau-Marathon Trinkflasche gefüllt mit Iso, das Linzer Törtli, Verpflegung und das Finisher Bier. Aludecken werden angeboten und wer den Zielbereich Richtung Gebäude verlässt, bekommt eine Maske gereicht. Alles ist perfekt organisiert. Die Seilbahn „Eiger Express“ bringt uns in nur 15 Minuten um rund 1400 Meter runter nach Grindelwald, ab hier ist es noch eine halbe Stunde Fahrt mit der „Berner Oberland Bahn“ zurück nach Interlaken. Eines meiner größten Abenteuer ist geschafft.
Von 4284 gemeldeten sind nur 3195 gestartet, davon haben 2909 das Ziel erreicht. Eine perfekt organisierte Veranstaltung, bei der auf zwei Läufer ein Helfer kommt. Das muss man sich mal verinnerlichen! Vielen Dank dafür!
Im Moment brennen meine Beine und ich habe die Nase voll von Bergläufen. Erfahrungsgemäß sieht das in ein paar Tagen anders aus. Ich sage mal: "Auf bald, Eiger, Mönch und Jungfrau."