Das Dreigestirn ist jetzt komplett, die Landschaft, saftige Almwiesen, dunkle Wälder, weiße Berge vor strahlend blauem Himmel, paradiesisch. Trotz des Zeitdrucks mache ich viele Fotos. Ich weiß ja nicht, dass ich meisten wegen einer Fehleinstellung wegschmeißen muss. Und dauernd schaue ich zur Uhr. Reicht die Zeit bis zum Wixi? Eine junge Schweizerin macht mir Angst. Mit Riesenschritten zieht sie an mir vorbei. „Verdammt eng heute“, sagt sie vor sich hin und nimmt kaum einmal den Blick von ihrer Uhr. Zeit zum Trinken nimmt sie sich nicht. Jede Gelegenheit nutzt sie aus, um ein paar Meter zu laufen. Stress pur.
Einer hat die Schnauze voll. „Beim Wixi steig‘ ich aus. Mein 5. ist mein letzter“, schimpft Heinz. Bevor ich versuche, auf einen DNF-Kandidaten einzureden, schaue ich ihn mir genauer an. Ich möchte niemanden dazu verleiten, sich gesundheitlich zu schaden. Heinz schaut gut aus. Sein Problem ist wohl mehr die Motivation als die Kondition. Und da kann ich helfen. „Spinnst Du? Ab dem Wixi hast Du alle Zeit der Welt!“ Ich trete ihm verbal mit weiteren Argumenten so richtig in den Arsch. Gleichzeitig richten sich meine Worte auch an meinen eigenen inneren Schweinehund, der zuletzt etwas Oberwasser bekam.
Beim Wixi (1830 m – km 38) springt die digitale Zeitanzeige gerade auf 5:29 – 6 Minuten hätte ich noch Zeit gehabt. Glück gehabt. Ich bin nicht nur im Zeitlimit, sondern auch so gut beieinander, dass es mir vor der Moräne nicht graust. Im Gegenteil. „Ich laufe weiter“, ruft mir Heinz zu. Zuvor hat er sich noch von seiner Frau pampern lassen. Ein Stück geht es abwärts. Gut so, laufen, Beine lockern und sich an der Verpflegungsstelle stärken.
Spätestens jetzt muss mal was zur Verpflegung gesagt werden. Sie ist einfach nur vorbildlich. 12 Verpflegungsstellen sind eingerichtet. Es gibt alles: Wasser, Iso, Bouillon, Cola, Bananen, Riegel, Gel, Magnesium, Salz und mehrmals sogar Massagen. Und das auch an den unzugänglichsten Stellen. Der Aufwand ist gigantisch. Daran muss man denken, wenn man angesichts des Startgeldes die Stirn runzelt. Denken muss ich auch an die Helferinnen und Helfern. Kein Lauf kann so schwer sein, dass ich diesen Dienst einer aktiven Teilnahme vorziehen würde. Ich danke euch.
Um Staus zu verhindern, gibt es ab dem Wixi hinauf zur Moräne zwei Wege. Wir werden rechts geleitet, das ist die „Originalstrecke“. Links der Weg ist besser zu gehen, kann ich mich erinnern. Inge hat heute genau wie ich einen schweren Tag. Erstmals musste sie fürchten, aus dem Rennen genommen zu werden. Ihr müsst euch das vorstellen: Sie war bei allen Jungfrau-Marathons dabei! Heute also zum 19. Mal! Und den 20. will sie sausen lassen. „Ich schaffe das nicht mehr in der Zeit“, klagt sie.
Ich kann das nicht glauben. Die Veranstalter müssen doch zum Jubiläum auch an die vielen Läuferinnen und Läufer denken, die wie der Jungfrau Marathon 20 Jahre älter geworden sind! Sie haben den Lauf doch zu dem gemacht, was er ist. Ich bin sicher, man gibt Inge und den vielen anderen, topfiten aber langsamer gewordenen Jungfrau-Marathon-Veteranen zum Jubiläum eine Chance, noch einmal erfolgreich dabei zu sein. 60 Minuten mehr Zeit, das wär doch was. Mit einer solchen Maßnahme hat der Swissalpine im letzten Jahr sehr viele Sympathien gewonnen.
Ich habe keine Lust mehr, mich abzuhetzen. Langsam, Schritt für Schritt, bewege ich mich nach oben. Bald liegt die Baumgrenze hinter uns. Wo die zwei Strecken sich wieder treffen, ist eine weitere Getränkestelle eingerichtet. Die Fahnenschwenker und Alphornbläser erweisen sich als absolut marathontauglich und sind noch voll aktiv. Die Läuferschlange hinauf zum Eigergletscher hat deutliche Lücken und fast könnte man non-stop durchmarschieren. Man könnte ….
Auf halbem Weg wird noch einmal Wasser ausgeschenkt. Endlich erreichen wir den höchsten Punkt (Loucherflue 2205 m - km 40,8). Eine Gedenktafel erinnert an die Jungfrau-, NY- und Frankfurt-Marathon-Siegerin Franziska Rochat-Moser. Sie kam 2002 bei einem Lawinenunglück ums Leben. Man sollte eine weitere Gedenktafel anbringen. Für Roman Käslin nämlich. 2009 war er als Mountain-Piper zum letzten Mal im Einsatz, letztes Jahr im Mai starb er. Er war so etwas wie das Wahrzeichen des Jungfrau-Marathons. Seine Stelle nimmt jetzt Seppli Rast ein. „Willkommen, Seppli“. „Willkommen, Klaus.“
Es geht jetzt fast eben hinüber zu einem engen Übergang. Es noch ungefähr 1 ½ Kilometer. Eine junge Frau will nicht mehr. Ziemlich kraftlos fällt sie mir in die Arme. „Ich schaffe es nicht mehr“. „Doch, Du schaffst es, wir schaffen es alle.“ „Aber die Zeit.“ „Die ist doch egal.“ „Krieg ich auch die Medaille?“ „Ich verspreche es Dir.“ Sie läuft weiter.
Am schmalen Übergang zur Kleinen Scheidegg liegt wie jedes Jahr Schokolade bereit. Warum verläuft die nicht in der prallen Sonne? Wer solche Sorgen hat, dem geht es gut. Trotzdem lasse ich mir von den zahlreichen Händen über die Felsen helfen. Unten sieht man den türkisfarbenen See und das Ziel. Ich sehe Tränen in den Augen einer Läuferin. Sie kann’s nicht glauben. Sie wird es schaffen.
Der Weg ist breit und bequem. Malerisch liegen der See und die Kapelle in der Sonne. Die mächtigen Bergriesen Eiger, Mönch und Jungfrau bilden eine traumhafte Kulisse. Km 42 – noch 195 Meter. Ich will noch ein paar Fotos schießen – keine Chance. Rolf packt mich an der Hand und zusammen rennen wir ins Ziel. Ich hab‘s geschafft. Mit Hängen zwar, aber ohne Würgen.
Männer
1. Hohenwarter Markus,AT-Gundersheim, Gailtal 3:01.52,0
2. Lobb Huw,GB-London 3:02.29,1
3. Krupicka Robert,CZ-Usti nad Orlici 3:02.43,9
Frauen
1. Camboulives Aline,FR-St Jorioz 3:29.55,8
2. Gassmann Bahr Daniela,Siebnen 3:34.48,8
3. Nunige Jasmin,Davos Platz 3:35.50,3
4205 Finisher