Es war vor elf Jahren, als ich in Interlaken aufgeregt auf dem Höheweg stand, ungewiss, ob ich zu einem Höhenflug oder zu einer Bruchlandung ansetzen werde. Es war mein zweiter Marathon überhaupt und mein erster Jungfrau Marathon. Es war die zehnte Austragung und im Rahmen des Jubiläums wurde das doppelte Kontingent an Startplätzen zur Verfügung gestellt und damit auch die Möglichkeit gegeben, als Doppelstarter am Samstag und am Sonntag die Strecke in Angriff zu nehmen.
Heute will ich mich zum zweiten Mal ins Starterfeld des Jungfrau Marathons einreihen und marschiere frühmorgens zum Bahnhof, um den ersten Zug zu nehmen, mit welchem ich eine Stunde vor dem Start in Interlaken ankomme. Der Zug ist schon ab Bern gut ausgelastet und ist spätestens ab Spiez rappelvoll. Eine riesige Menschenmenge wälzt sich vom Bahnhof Interlaken Ost in Richtung Höhematte, wo die ganze Infrastruktur aufgebaut ist. Einen Begleiter höre ich sagen: „Die müssen doch alle noch die Startnummer abholen. Reicht das denen noch in der kurzen verbleibenden Zeit?“
Und ob, alles ist mustergültig organisiert. Und wenn ein paar Ungeduldige sich bei der Gepäckabgabe anstellen und ihre Taschen nicht über die Köpfe der anderen Anstehenden hinweg einfach in den LKW und an die Köpfe der Helfer werfen würden, dann ginge es noch schneller.
Das Wetter zeigt sich auf der höchsten Stufe der in der Vorhersage angekündigten Bandbreite. Die Sonne setzt sich langsam aber sicher gegen die Feuchtigkeit in der Luft durch und lässt die Stadt zwischen dem Thuner- und dem Brienzersee in spätsommerlichem Licht leuchten.
Im Startbereich schlendere ich auf und ab und treffe bereits einige Bekannte. Wenn ich jetzt nach meinen Gefühlen gefragt würde, hätte ich keine eindeutige Antwort bereit. Aufgeregt bin ich nicht, gegen dieses Rumoren im Bauch haben seit dem ersten Jungfrau Marathon 128 weitere Marathons und Ultras gesorgt. Diese Immunisierung kann jedoch auch ein leichtes Kribbeln nicht verhindern. Die Atmosphäre ist so freudig, festlich, voller Spannung und doch entspannt, dass ich ein Holzpflock wäre, wenn ich mich nicht davon anstecken ließe.
Es gibt aber noch einen anderen Grund für das Kribbeln. Es ist eine Mischung aus Freude, Dankbarkeit und Ahnungslosigkeit. Vor fünf Wochen wurde mein auf Elefantenformat angeschwollener Fuß als Thrombose diagnostiziert. Dass ich überhaupt das ärztliche Placet für meinen Start erhalten habe, ist für mich ein Riesengeschenk. Aber ich habe keine Ahnung, wie sich die erneute Trainingspause und der von Blutverdünnerspritzen gelochte Oberschenkelmuskel sich auf meinen Formstand auswirken werden. Da bin ich an einem der legendärsten Marathons der Welt am richtigen Ort. Es wird der volle Service geboten und ich könnte jederzeit aussteigen, ohne dabei im Niemandsland zu stranden.
Fahnenschwinger, Alphornbläser und kurz vor dem Start das Abspielen der Nationalhymne. Der Folklore und Swissness wird gebührend Platz eingeräumt und die mit Fahnen ausgestatten Zuschauer sind voll dabei. Wie bei einem großen Stadtmarathon geht es los.
Ist er es auf den ersten Kilometern auch, den erst geht es einmal auf eine Dreikilometer-Runde, wieder am edlen Grand Hotel Victoria-Jungfrau und auf der Startgeraden vorbei. Am Streckenrand, auf den Balkons, in den offenen Fenstern, überall beobachten unzählige Schaulustige das Geschehen und drücken ihre Begeisterung mit Applaus, Zurufen, Tröten und Rätschen aus. Vor einer Apotheke steht die ganze Belegschaft in weißen Schürzen. Der Apothekerschrank bleibt geschlossen, als Doping gibt es Beifall. Und wie viele Tabletten könnten gespart werden, wenn sich noch mehr Zeitgenossen dazu entscheiden können, sich regelmäßige Laufeinheiten zu verabreichen. Es muss nicht immer oder gerade Marathon sein. Mir fährt das jedoch besser ein als hektisches Kurzstreckengedöns.
Es geht aus Interlaken hinaus nach Bönigen am ersten Versorgungspunkt vorbei, dann kommt schon die sechste Kilometertafel. Ein breites Transparent über der Straße grüßt alle Läufer, ein weiteres macht auf den ältesten Langstreckenlauf der Schweiz aufmerksam, den Brienzerseelauf, der in einem Monat stattfindet und hier startet und endet. Trotz seiner Tradition fristet die Umrundung des Brienzersees in der internationalen Wahrnehmung noch ein Schattendasein. Eine Neuerung ist, dass er dieses Jahr erstmals an einem Samstag statt Sonntag stattfindet. Vielleicht würde eine Zusatzschlaufe von sieben Kilometer zusätzlich zu den Liebhabern von langen Läufen auch explizite Marathonfetischisten anziehen?
Mit dem Verlassen des Dorfs ist auch schon der achte Kilometer im Kasten. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs sind, doch es kommt mir nicht lange vor. Bis jetzt war es ein lockeres „Meet and Greet“ mit den echten Stars solcher Veranstaltungen, den Läufern wie du und ich, von denen ich mittlerweile so viele kenne. Erinnerungen kommen auf an gemeinsam zurückgelegte Kilometer bei anderen Läufen und das eine und andere Gespräch mit Tiefgang.
Parallel zur Lütschine geht es zwar immer noch auf Asphalt aber zwischen grünen Matten nach Wilderswil. Über eine gedeckte Holzbrücke geht es auf die linke Flussseite und weiter zur nächsten Verpflegungsstelle. Am Streckenrand höre ich eine junge Frau ungläubig rufen: „Schau, da läuft einer barfuß!“ Sie meint Martin und weiß nicht, dass er nach dem ersten Streckenviertel seine Trail Gloves anziehen wird, was aber nicht heißt, dass er es nicht könnte. In Zürich verzichtete er auf der ganzen Marathonstrecke auf Fußbekleidung.
Myriaden von Pappbechern auf dem Boden, ein Torbogen vom Sponsor, die Musikgesellschaft und Zuschauer dichtgedrängt am Streckenrand, Transparente, auf welchen Teilnehmer angefeuert werden; es gibt nichts, was zum Bild eines ganz großen Marathons fehlen würde. Und dann kommt gleich wieder eine gedeckte Holzbrücke, ein Bild, das der Jungfrau Marathon zusätzlich zu bieten hat.
Dahinter versteckt sich der Beginn der Steigung, welche erst in gut dreißig Kilometern den Gipfel erreichen wird. Während ich mein Lauftempo beibehalte, überhole ich andauernd. Bin ich zu schnell unterwegs, sollte ich etwas Geschwindigkeit rausnehmen? Auch wenn ich es wollte, die Zuschauer in Gsteigwiler würden es mir schwer machen. Keiner zu klein, ein Treichler zu sein, auch wenn die abgestellte Treichel fast zu schwer zum Halten ist und auf dem Boden stehend bis über die Knie reicht. Es ist einfach königlich, nicht nur wegen den drei kleinen Prinzessinnen am Streckenrand. Handorgeln, eine Steelband, Zurufe - Ohr, was willst du mehr?
Nach etwas mehr als zwölf Kilometern kommt ein Wechsel des Untergrunds von Asphalt auf Schotter und gleichzeitig geht es wieder ein bisschen abwärts. Wir laufen geografisch der Sonne entgegen und für mich ist es auch sonst ein Lauf ins Licht, heraus aus dem Alltag. Die nächste Tafel sagt mir, dass ein Drittel des Vergnügens schon vorbei ist. Mit der Kamera in der Hand habe ich vorgesorgt. Immer wenn ich die Bilder wieder betrachte, kann ich wieder abtauchen in diesen Augenblick des Hochgefühls.