In diesem können mich auch die kleinen Rempeleien nicht stören, die in einem dichten Läuferfeld vorkommen. Bei meinem zweiten Jungfrau Marathon bin ich sehr entspannt und habe auch Verständnis dafür, dass es anderen in meiner Leistungsstärke – andere würden das Leistungsschwäche nennen – immer noch um Sekunden geht. Die Marathons und Ultras zwischen meinem ersten und zweiten Jungfrau Marathon geben dem Faktor Zeit eine andere Bedeutung.
Die Bahnstation Zweilütschinen ist ein geeigneter Ort für die mitgereisten Fans. Ich habe keine dabei, schmarotze und picke die Applaus-Brosamen auf, die von ihrem Tisch des Enthusiasmus fallen. Links geht es ins Tal der Schwarzen Lütschine nach Grindelwald und ein Blick zum Hang hoch bringt gute Erinnerungen an der Eiger Ultra Trail zurück. Dort oben ging die Strecke über die Spätenalp nach Wengen, heute bleiben wir erst noch im Tal, und zwar in dem der anderen Lütschine.
Wenn es stimmt, dass der Name dieses Flusses aus dem Keltischen stammt, haben wir es im schlimmsten Fall mit einem amtlich besiegelten Pleonasmus zu tun, im besseren Fall um eine engelhafte Bezeichnung eines zu bösartigen Ausbrüchen neigenden Bergflusses: Weiße Lütschine, also weiße Weiße oder weiße Hellglänzende.
Fast fünf Kilometer geht es dem Fluss entlang, wo die nicht mehr so steil stehende Sonne zum Teil noch nicht hinreicht. Eingangs Lauterbrunnen lässt mich eine kurze Steigung erstmals ein paar Schritte gehen. Nicht für lange, denn es wird erstens gleich wieder flach und zweitens ist im Dorf Marathonstimmung par excellence.
Was nun folgt, ist eine fünf Kilometer lange flache Runde weiter ins Tal hinein, wo sich der Talgrund flach von einer senkrechten Felswand zur anderen erstreckt. Dies ist das Mekka der Base Jumper und Wing Suit Freaks und leider auch häufig der finale Aufschlagpunkt. Ich habe nichts dagegen, wenn mir keiner in die Quere fliegt und meinen Höhenflug stoppt.
Nach einem kurzen Halt für einen Akkuwechsel der Kamera versuche ich die verlorenen Meter wieder aufzuholen und laufe in einen regelrechten Rausch hinein. Egal, noch geht es gut und spätestens beim Aufstieg nach Wengen werde ich automatisch wieder heruntergebremst.
Wieder zurück im Dorf zu sein, heißt wieder von frenetisch applaudierenden Zuschauern umgeben zu sein, schon wieder verpflegt zu werden und den Eindruck zu bekommen, es gebe auf der Welt nur etwas von Bedeutung: das, was wir hier machen. Gut gefüttert, getränkt und bejubelt geht es nun „in den Stutz hinein“.
Stutz kann in der Schweiz für zwei Dinge stehen: Geld oder steiler Anstieg. Nein, es klimpert nichts in der Tasche, es rasselt auf der Lunge. Es geht einen Serpentinenweg hoch und trotzdem fliegen die Kilometerschilder an mir vorbei. Kein Wunder, denn ab hier steht alle 250m ein Schild und diese lassen auch anstrengendere Abschnitte nicht endlos werden.
Mit dem Zugläufer für sechs Stunden bin ich gestartet und nach zwei Dritteln der Strecke schließe ich zum nächstschnelleren Fahnenträger mit Zeitaufdruck auf. Ich kann es kaum fassen, wie gut es mir läuft. Innerlich und äußerlich stimmt alles. Die Sonne scheint, es ist nicht zu warm, eine weitere Verpflegungsstelle ist aufgebaut und die Steigung erscheint mir viel geringer als das erste Mal.
Die Streckenführung in Wengen ermöglicht so viele Eindrücke auf, neben und über der Strecke –eine Musikkapelle im Schwinger-Zwilch, Finisher-T-Shirts an der Leine über der Straße, um nur zwei zu nennen – dass die zwei Kilometer durch das Dorf ebenfalls im Nu um sind. Nun wird es wieder steiler und ich stelle mich darauf ein, dass dies so bleiben wird.
Nach einer weiteren Verpflegungsstelle gibt es bald wieder Schotter unter die Füße und als Leitplanken Wiesen, Weiden und Wald. Nach gut 35 Kilometern ist man den Bergen so nah, dass sie einen förmlich zu sich heranziehen. Mindestens mir geht es so und es fällt mir leicht, dieser Anziehungskraft nachzugeben. Dass der Schlussaufstieg happig wird, das weiß ich. Bisher kommt mir aber alles flacher vor als in meiner Erinnerung gespeichert, womit es mir leicht fällt dem Ruf zu folgen. Während ich bei anderen, kleinen Veranstaltungen häufig in Gespräche vertieft unterwegs bin, habe ich mich spätestens seit Wengen abgekapselt. Der Blick ist ganz auf den Weg und das Dreigestirn der Berner Alpen gerichtet.
Bei Wixi, keine vier Kilometer vor dem Ziel, dort, wo es in den Schlussaufstieg geht, gibt es eine Verzweigung. Links geht es gut sichtbar auf einem Wirtschaftsweg weiter, rechts geht es um eine Kuppe herum auf einen Weg, dessen Beschaffenheit mir unbekannt ist. Anscheinend besteht kein Bedarf, den Läufern die eine oder andere Richtung aus Kapazitätsgründen vorzugeben. „Rechts ist es schöner“, höre ich eine Helferin sagen und bin ihr später dankbar für diesen Hinweis. Bald geht es auf einen schönen Trail, bis zur Baumgrenze in einem lichten Nadelwald, und auch nachher so richtig nach meinem Gusto.
Zweieinhalb Kilometer vor dem Ziel vereinen sich die beiden Pfade wieder an einer Verpflegungsstation, wo auch Fahnenschwinger und Alphornbläser für stimmiges Ambiente sorgen. Bald danach habe ich die Wahl, ob ich mich in einen Stau einreihen möchte oder parallel zum Weg über die Alp ackern will. Den Schwung, den ich noch habe, nehme ich mit auf die rustikale Ausweichroute.
Das Fahrgestell hat ein paar Erinnerungen an die vielen alpinen Trailkilometer dieser Saison, ruft diese ab und spuckt mich dort wieder auf den offiziellen Wanderweg aus, wo ich mich, ohne zu stark gebremst zu werden, ins Feld einreihen kann, später sogar Platz zum Überholen habe. Ich bin in einem Gipfelsturm-Rausch, aber auch froh, muss ich nicht zu den Gipfeln der Bergriesen hoch. Die hochalpinen Gefahren werden durch ein paar Eisabbrüche deutlich, welche donnernd und stäubend über die Felswand herabstürzen.
Mich nimmt es Wunder, ob ich wirklich so flott unterwegs bin wie ich den Eindruck habe. Auch ohne Stoppuhr, Pulsmesser und satellitengestützter Navigation wird mir klar, dass ich gar nicht viel langsamer unterwegs bin als vor elf Jahren. Einen Unterschied gibt es jedoch. Im Gegensatz zu damals fühle ich mich noch frisch und spüre, dass ich auf den letzten eineinhalb Kilometer noch auf die Tube drücken kann. Das tue ich auch, lasse mir von den freundlichen Helfern über eine kritische Stelle (nichts Besonderes für einen Trailläufer, doch mit dieser Läuferdichte und der Laufgeschwindigkeit unmittelbar vor- und nachher ein potentieller Gefahrenherd) helfen und lasse es auf dem fast nur noch abfallenden Schlusskilometer so richtig laufen. Nicht ohne mir den Blick für die ganze Szenerie deswegen nehmen zu lassen.
Im Ziel angekommen konstatiere ich, dass für jedes Jahr seit meiner ersten Teilnahme eine gute Minute Laufzeit dazugekommen ist. Der entscheidende Unterschied ist der, dass ich heute viel lockerer und entspannter unterwegs war, ohne Beschwerden angekommen bin und mit einem runden Gang zur Medaillenausgabe, zum alkoholfreien Zielbier und zum Tauschplatz gehe, wo der Zeitmesschip gegen ein Langarm- Finisher-Shirt getauscht wird. Dass mittlerweile die Sonne mit Dunst und Nebelschwaden kräftig aufgeräumt hat und sich mit blauem Himmel präsentiert Ist das Tüpfelchen auf dem I.
Nach der heißen Dusche auf 2000m.ü.M. bin ich mir sicher, dass ich morgen keinen Muskelkater haben werde und hoffe, dass es sonst auch keinen gibt. Das ist nicht sicher, wenn man so im Rausch unterwegs war.
1. Ndungu Geoffrey Gikuni, AT-Fürstenfeld 2:50.28,4
2. Mamo Petro, Eritrea 2:52.49,9
3. Röthlin Viktor, Ennetmoos 2:53.21,5
1. Mayr Andrea, AT-Gmunden 3:20.20,7
2. Camboulives Aline, FR-St Jorioz 3:25.08,4
3. Strähl Martina, Oekingen 3:25.23,4
4120 Finisher