Von kaum einem Marathon gibt es mehr stimmungsvolle und motivierende Laufberichte und Bilder auf Marathon4you, als vom Jungfrau Marathon. „Da muss ich auch mal hin“, steht für mich daher schon lange fest. Also habe ich mir in diesem Jahr einen Startplatz gesichert, um zu überprüfen, was es mit dem „schönsten Marathon der Welt“, wie der Veranstalter den Jungfrau-Marathon anpreist, auf sich hat. Veranstaltungsort ist Interlaken („zwischen den Seen“, nämlich Thuner und Brienzer See), von dort geht es hoch in Richtung dem Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau mit dem Ziel Eigergletscher.
Das Startgeld von CHF 179 ist happig, aber gemessen am gewaltigen Aufwand eines Hochgebirgsmarathons nachvollziehbar. Insbesondere die Versorgung und Absicherung an der Strecke im alpinen Bereich, den Rücktransport mit Seilbahn und Zug zum Start sowie die kostenlose Fahrkarte in der Schweiz belasten das Veranstalterbudget. Ich nehme das Angebot einer kostenlosen Bahnfahrkarte gerne an, diese gilt für Schweizer vom Wohnort nach Interlaken und zurück sowie für Nichtschweizer ab der Schweizer Grenze. Die Anreise mit der Bahn ins Berner Oberland, wie die zum Kanton Bern gehörende Region bezeichnet wird, bedeutet aber auch, auf ein Hotel im fußläufigen Bereich vom Startgelände angewiesen zu sein, will man nicht morgens noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen. Und die Hotels in Interlaken sind nicht billig, Nachhaltigkeit hat manchmal auch ihren Preis.
Von meinem Hotel sind es nur 10 Minuten zu Fuß bis zum Kongresszentrum, in dessen Auditorium die Startnummernausgabe zu finden ist. Auf dem Weg dorthin komme ich an einer großen Wiese, der Höhematte vorbei. Von dieser ist sehr schön das Stadtpanorama mit dem beeindruckenden, mehr als 150 Jahre alten Victoria-Grandhotel zu beobachten. Vor diesem findet morgen der Start statt und auch heute sind hier schon diverse Jugend- und Staffelläufe zu beobachten.
Ich muss mich aber um meine Startnummer kümmern und passiere auf dem Weg zur Ausgabe das „Casino Kursaal“, ebenfalls mehr als 150 Jahre alt. Im Garten davor ist eine kleine Marathonmesse zu finden. Das Auditorium dagegen ist im Kontrast zum Kursaal ein funktionaler Betonbau, der aber auch ästhetischen Prinzipien folgt. In der großen Halle verliert sich fast die Startnummernausgabe. Auffällig sind die unterschiedlichen Farben der Effektensäcke (also Bekleidungsbeutel), die u.a. mit der Anzahl der Teilnahmen zusammenhängen und identisch mit der Farbe der Startnummer sind. Meine als Novize ist blau, bei der 10. Teilnahme bekäme ich eine grüne Nummer. Praktisch ist übrigens, dass die aus recyceltem Kunststoff hergestellten sehr festen Beutel mit einem stabilen Reißverschluss versehen sind, so kann nichts rausfallen. Auf der Empore des Auditoriums erwartet uns ein Pasta-Mahl, im Preis enthalten.
Auf dem Rückweg nimmt mich noch einmal das Stadtpanorama mit dem nun erleuchten Viktoria-Hotel gefangen, dann ist es Zeit fürs Bett.
Die ganze Nacht hat es geregnet, so dass am nächsten Morgen der Asphalt glänzt und die Wolken tief hängen. Die Wetterprognose verheißt nichts Gutes. Den ganzen Tag über Schauer und oben am Ziel am Eigergletscher Temperaturen um den Gefrierpunkt, so dass der Veranstalter empfiehlt, warme Kleidung mitzunehmen. Ich folge dem Ratschlag und packe Langarmshirt, Handschuhe und Mütze in einen kleinen Rucksack. Auf die Mitnahme von Trinkflaschen verzichte ich, denn zunächst alle 5 km und im hochalpinen Bereich noch dichter folgen die gut ausgerüsteten Verpflegungsstationen. Neben Wasser gibt es Energydrink, später auch Cola und Brühe zu trinken sowie u.a. Obst und Riegel zu beißen.
Hektisches Treiben herrscht im Startbereich, eine Gruppe von Läufern steckt sich beschwörend und sich gegenseitig Glück wünschend die Köpfe zusammen. Dies ist durchaus berechtigt, denn der Jungfrau-Marathon hat es mit 1953 Höhenmetern in sich. Fast 800 Läufer sind gar nicht erst angetreten und über 200 haben aufgegeben oder sind an den Cut-Offs aus dem Rennen genommen worden.
Diese Cut-Offs bereiten auch mir Sorgen, nach meinem Waden-Muskelfaserriss im Februar und einer Infektion im Juli bin ich alles andere als gut vorbereitet für das Abenteuer, erst recht nicht auf Höhenmeter. Ich verscheuche den Gedanken und nehme am Stand des Getränkesponsors noch einige Flüssigkeit zu mir, denn der Schweiß wird trotz der eher kühlen Temperatur heute in Strömen fließen. Dann heißt es die Effektensäcke abzugeben, diese werden für uns in Grindelwald deponiert.
Mittlerweile kommt die Sonne durch und vertreibt die Regenwolken. Langsam wird es Zeit, sich zur Startaufstellung zur begeben, doch bevor es losgeht, hören wir noch die tiefen Klänge der Alphörner und schauen einer Gruppe Fahnenschwinger dabei zu, wie sie Kantonal- und Landesfahnen in die Luft werfen (und wieder fangen).
Dann geht es endlich los und obwohl ich ziemlich weit hinten im selbst gewählten Startblock starte, bin ich schon 3 Minuten nach dem Startschuss auf der Strecke. Diese Zahl gilt es sich zu merken, denn die Cut-Offs richten sich nach der Nettozeit. Wir laufen zunächst eine kleine Runde um die Höhematte und durch den Ort, um dann nach etwas mehr als 3 Kilometern erneut den Start zu passieren. 24 Minuten zeigt die Uhr. Passt, Marschtabelle eingehalten. Dann geht durch Wohn- und Gewerbegebiete hinaus nach Bönigen, was direkt am Brienzer See liegt. Aber nur ganz kurz erhaschen wir einen Blick vom See.
Schon wenden wir um 180 Grad und laufen Richtung Wilderswil. Eine Trychler-Gruppe feuert uns an, in dem sie die schweren Glocken (Trychlen) schwenkt, ein kraftraubender Sport. Nach einer Weile queren wir mittels der Aenderbergbrücke, einer schönen Holzbrücke, die Lütschinne, und erreichen bald in Wilderswil nach 10 km den bereits zweiten Verpflegungspunkt. Bis hierher war es fast topfeben und auch ein wenig unspektakulär.
Schön dagegen ist die Gsteigbrücke von 1738, über die wir erneut die Lütschine überqueren. Von nun an geht es auf den nächsten 10 Kilometern zunächst leicht, dann etwas deutlicher bergan. Etwa 250 Höhenmeter sind bis Lauterbrunnen zu überwinden. Wir befinden uns im engen Tal der Lütschine und laufen noch immer über nassglänzenden Asphalt. Offensichtlich haben wir Glück, die angekündigten Regenschauer haben sich rechtzeitig vor unserem Eintreffen ergossen. Dies tut der guten Laune einer zweiten Trychler-Gruppe keinen Abbruch.
Endlich laufen wir ab KM 12 auch über Naturwege. Nun wird es auch idyllischer, die hohen Berge rechts und links, die Lütschine und Wiesen dazwischen eingezwängt, das wäre pure Schweizer Idylle, wenn da nicht die vor mehr als 100 Jahren erbaute Bahnlinie der Berner-Oberland-Bahn wäre. Aber ich will nicht klagen, wie kämen wir sonst zurück zum Start?
Bei Zweilütschinen, der nächsten Verpflegung, teilt sich die Bahnlinie Richtung Grindelwald und Lauterbrunnen. Von diesen beiden Orten kommend vereinigen sich hier schwarze und weiße Lütschine, was zur Ortbezeichnung „Zweilütschinen“ führt. Wir folgen der weißen Lütschine nach Lauterbrunnen.
Kurz vor Lauterbrunnen wird es ein wenig steiler. Und doch haben wir erst etwa 1/6 der Höhenmeter hinter uns, als wir nach 20 km den Ort (812 m ü.M) und die vierte Verpflegungsstelle erreichen.
Die nächsten 5 km dienen der aktiven Erholung auf fast topfebenen Wegen und Straßen. Wir laufen etwa 2-3 km entlang des Tales und kehren dann nach einer Überquerung der weißen Lütschine um. Nach Passieren des Hubschrauberlandeplatzes von Air Glaciers, vom dem grade ein „Heli“ startet, erreichen wir wieder Lauterbrunnen.
Hier beeindruckt die 1830 gebaute schneeweiße Kirche mit dem spitzen Spindeldach. Fast 26 km sind wir bis hierhin gelaufen, ich liege etwa 7 Minuten vor meiner geplanten Zeit, habe dabei bewusst mit meinen Kräften gehaushaltet.
Eine letzte Verpflegungsstelle in der Ebene und dann ist Schluss mit lustig. Auf den nächsten 2 km werden wir wohl etwa 400 Höhenmeter überwinden, überwiegend in steilen Serpentinen geht es durch dichten Wald hinauf. Auch wenn von nun an alle 250 Meter ausgeschildert sind, wollen die Serpentinen kein Ende nehmen, bis wir endlich aus dem Wald herauskommen und kurz an der Wengernalpbahn entlanglaufen. Diese Zahnradbahn führt schon seit 1893 von Lauterbrunnen hoch über Wengen zur kleinen Scheidegg und weiter hinunter nach Grindelwald.
Von nun an läuft es sich etwas leichter, Bergwiesen links und Chalets rechts säumen den fast ebenen Weg. An der nächsten Verpflegung Wengwald stoßen wir wieder auf eine Fahrstraße, der wir bis Wengen folgen.
In Wengen werden wir am Bellevue fahnenschwingend und musikalisch begrüßt, Zeit zum Verweilen aber bleibt nicht, denn in der Ortsmitte droht der erste Cut-Off nach 4 h 25 Minuten. Diesen erreiche ich mit 4 h 07 Minuten sogar noch 3 Minuten unter meiner geplanten Durchgangszeit.
Noch immer harren in Wengen Zuschauer aus und feuern uns an. Etwas über 30 km haben wir hinter uns, aber nicht einmal die Hälfte der Höhenmeter, denn vom Ziel trennen uns in Wengen (1.283 m ü.M.) vertikal noch über 1.000 Meter.
Trügerisch geht es nun erst flach weiter, aber am Ende des Ortes werden die Steigungsprozente wieder zweistellig. Mist, ich hatte mir nur gemerkt, dass auf den 8 km von Wengen bis zum zweiten Cut-Off in Wixi „nur“ 600 Höhenmeter zu überwinden sind, aber nicht, dass sich diese gefühlt auf die erste Hälfte dieses Abschnitts konzentrieren.
Ich beginne zu rechnen, schaffe ich die Cut-Off-Zeit von 5 h 50 Minuten in Wixi noch? Ein wenig Puffer ist noch übrig, aber wenn es so steil bleibt, dann wird es eng. Als das Schild „36 km“ auftaucht wird es flacher und ich schöpfe Zuversicht. Mit dem Passieren jedes 250m-Schildes glaube ich fester daran, mein Ziel zu erreichen und lasse mir jetzt sogar ein wenig Zeit, die atemberaubende Landschaft zu genießen.
Als ich nach 5 h 44 Minuten zwar 4 Minuten über meinen Plan, aber 6 Minuten vor Cut-Off den Kontrollpunkt Wixi (km 38,5 und 1855 m ü. M.) passiere, fühle ich mich wie im Ziel und es erfasst mich unbeschreibliche Erleichterung, aber auch Stolz, es bis hierhin geschafft zu haben. Gut 50 Läufer haben ist leider zeitlich nicht gelungen und werden hier aus der Wertung genommen. Das ist bitter, so kurz vor dem Ziel. Wobei „kurz“ relativ ist. Ich war während des ganzen Laufes so auf die Cut-Offs in Wengen und Wixi fixiert, dass ich keinen Gedanken an das, was danach kommt, verschwendet hatte. Mit fast 600 Höhenmetern auf 3,5 Kilometern, größtenteils auf der Eigermoräne in dünner Luft, steht uns der härteste Abschnitt, aber auch der Höhepunkt (im doppelten Sinn) der gesamten Strecke bevor.
Den Verlauf können wir vom Wixi aus gut einsehen, zunächst ein wenig hinunter zur Verpflegungsstelle (es folgen übrigens noch zwei – kennt jemand noch einen Marathon mit 3 Verpflegungsstellen auf den letzten 4 Kilometern…?), dann über einen bewaldeten breiten Grad und schließlich über die Eigermöräne weit nach oben. Kleine Farbtupfer am Berg zeigen mir, wie weit nach oben. Uff. Aber jetzt lasse ich mir den Triumph nicht mehr nehmen.
An einer Bank hole ich Langarmshirt und Handschuhe aus dem Rucksack, denn es ist wie vorhergesagt sehr kühl hier oben, wenn auch weiterhin trocken. Der nächste Kilometer durch den Wald ist sehr unwegsam, ein felsiger, rustikaler Pfad, Stein um Stein geht es hoch. Manchmal fällt es mir schwer, Stufen von 30cm und mehr zu überwinden, das muss merkwürdig aussehen …
Bei Km 40 erreichen wir die nächste Verpflegung. Alphornbläser geben ihr Bestes, um uns zu motivieren. Wie sind die mit ihrem schweren Equipment eigentlich hier hochgekommen? Weiter geht es über eine steile Bergflanke. Wer ist auf die Idee gekommen, den Weg fast geradewegs steil nach oben zu führe, statt flacher in Serpentinen?
An einigen Stellen greifen uns Leute von der Bergwacht unter die Arme, um größere Felsstufen zu überwinden. Ist das erlaubt, oder unerlaubte Hilfeleistung mit drohender Disqualifikation? Blöder Gedanke. Apropos Bergwacht - die zahlreichen Sanitätsstellen und Bergwachtposten, teilweise in Abständen von wenigen hundert Metern, geben uns ein gutes Gefühl der Sicherheit. Weiter nach oben. Diese Kuppe da vorne, dass müsste es doch gewesen sein. Denkste, kaum blicke ich über die Kuppe, sehe ich die nächste Steigung vor mir, die wir auf einem etwas schmaleren Grad zu meistern haben.
Erst als ich den Mountainpiper höre und dann auch sehe, weiß ich, dass ich oben bin. Einige hundert Meter geht es leicht abfallend. Ich kann linker Hand die Läufer wie auf einer Perlenkette auf dem gerade passierten Grat erkennen. Dann kommt bei km 41,5 die legendäre letzte Verpflegung mit Schokolade. Es geht einige Stufen abwärts. Mangels Geländer werden die „geschwächten“ Läufer von Helfern unterstützt.
Von hier aus ging es früher runter zur kleinen Scheidegg ins Ziel.
Aber im letztem Jahr ist die Strecke verändert worden. Wir laufen weiter zum Eigengletscher. Nur noch 700 Meter, aber wohl noch einmal 100 Höhenmeter aufwärts, versteht sich. Nimmt das denn gar kein Ende? Wenn wenigstens schönes Wetter wär, dann könnte man sich durch Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau (alle über 4.000 m hoch) ablenken lassen. Leider hängen die Wolken heute auf 2.000 Metern und wir laufen durch eine schmutzig weiße Suppe. Aber irgendwann ist auch das geschafft und das Ziel liegt vor mir, dankenswerterweise haben auch die letzten Meter zweistellige Steigungsprozente.
Alle, die mit mir die Ziellinie überqueren, haben auch schon mal dynamischer ausgesehen. Dann bekommen wir Medaille, Wärmeschutzfolien, T-Shirt und Getränke gereicht. Auf einer Plattform sind Bänke aufgestellt, die bei klarer Sicht zum Verweilen einladen würden. Ich bin aber trotz der Anstrengung durchgefroren und betrete lieber die Bergstation Eigergletscher auf 2.320 m Meereshöhe, um mit dem Eiger-Express, einer 2020 erbauten Seilbahn (und Grund für die Verlegung des Ziels) hinunter nach Grindelwald zu fahren, wo unsere Effektensäcke auf uns warten.
Trotz der hohen Kapazität der Bahn muss ich 20 Minuten warten, bis ich eine der großen Gondeln betreten darf. Endlich kann ich mich setzen und die atemberaubende Aussicht genießen, sobald wir unter die Wolkendecke kommen. Unten im Grindelwald Terminal erwartet uns noch eine kleine Marathonmesse. Das Parkhaus, in dem wir auch unsere Kleiderbeutel erhalten. hat man zu Duschen (das Wasser ist noch warm!) und Umkleiden umfunktioniert. Dann geht es mit der Bahn an der schwarzen Lütschine entlang zurück nach Interlaken.
Ist denn nun der Jungfrau-Marathon der schönste Marathon der Welt, als den ihn in den Anfangsjahren einmal ein Journalist bezeichnete und der Veranstalter noch heute preist? Das ist sicher Geschmacksache, beeindruckend ist die Strecke allemal, insbesondere auf der zweiten Hälfte. Die finale Beurteilung der Schönheit blieb mir heute aufgrund der Wolken verwehrt. Da hilft nur eins: Wiederkommen.
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