Den Wecker stelle ich am Vortag auf 5 Uhr, diesmal fahre ich nicht direkt von Wien nach Kainach. Das Navi dirigiert mich in Richtung Semmering und Bruck/Mur, doch ich wähle bewusst die Route über die A2, die zwar nicht kürzer, aber viel weniger kurvenreich ist als die engen Zufahrten über die Hügellandschaft entlang der Stübingtalstraße, Gschnaidt, Geistthal und durch kleine Ortschaften bis zum Zielort. Für die 240 km benötige ich trotz geringem Verkehrsaufkommen am Sonntag in aller Früh 2 h 50 min.
In Kainach bin ich inzwischen schon viermal gelaufen und kenne somit die Strecke. Für den Marathonsammler sind sogenannte stressfreie Rennen eine willkommene Erholung – es fallen weite und mitunter kostenintensive Anreisen weg, man kommt ohne Übernachtung aus und kann am Vortag privat zu Hause so manchem Aufschub erledigen. Der Bergmarathon in Kainach ist aber nicht irgendein Lauf, sondern weist mit den angeführten 1800 Höhenmetern und etlichen Trailabschnitten auf schwierigem Terrain auch so manche Prüfung im Gelände auf, die erst zu bestehen ist.
Eine Stunde vor dem Marathon sind noch genügend Parkplätze entlang der tief in einem Flussbett dahinfließenden, wegen der Regenfälle in den letzten Tagen aber auf einem hohen Pegel angewachsenen Kainach zu bekommen. Ich habe mich vor dem Startgeldsprung von 45 auf 50,- Euro noch rasch registriert und den Zahlschein dabei, als ich die Turnhalle der nahen Hauptschule betrete, wo die Startsackerln ausgegeben werden. Für den Leihchip sind fünf Euro zu entrichten, drei erhält man nach Rückgabe zurück. In der Tüte ist auch ein Funktionsshirt im selben Design wie die Jahre zuvor, dem vertrauten Logo auf der Brust und den Aufdrucken der Sponsoren auf der Rückseite.
Im Turnsaal sind die Gegenstände für die Tombola nach dem Marathon aufgereiht, die begehrten bunten Liegestühle mit dem Logo des Veranstalters stehen auch hier – sie sind für die Sieger der jeweiligen Altersklassen bestimmt.
Die Gemeinde Kainach, die zum Bezirk Voitsberg in der Steiermark gehört und sich resp. das Umland als Lippizanerheimat bezeichnet, wirkt im Zentrum kleiner als es die Bevölkerungszahl von ca. 1600 Ansässigen vermuten lässt. Ihre Geschichte geht bis auf das keltische Königreich Noricum um 200 v. Chr. zurück. Neben den bequem mit dem Auto und zu Fuß erreichbaren Almen mit schönen Wanderwegen, wo man im Sommer die Lipizzaner auf ihrer Sommerweide erleben kann, sind für Tagestouristen die Sunfixlhöhle, die Kirche zum Heiligen Wasser mit dem Augustunibrunnen und die Ruine Hauenstein beliebte Sehenswürdigkeiten. Nicht extra zu erwähnen braucht man, dass die steirische Gastronomie Weltspitze ist.
Auf zwei Laufkollegen freue ich mich heute besonders: Hans Novinscak, Jg. 1959, der heuer bei fast allen Marathons zum Teil deutlich schneller als ich gefinisht hat und auf den Ultraläufer Josef Stöger, für den 44 km nicht erwähnenswert sind: bei den diesjährigen Staatsmeisterschaften über 100 km im Wiener Prater am 10. Juni schaffte Josef 90 km in 11:39:08 und wurde Sieger unter M-65. Weil auch ein Bergmarathon eine sportliche Herausforderung ist und die Laufzeiten gewertet werden, gebe ich mir gute Chancen, vielleicht am Ende des Laufes im Klassement vor den beiden zu liegen. Als ich den Hans im Startbereich mit Nummer 70 antreffe, sage ich zu ihm, dass die Reihung so bleiben könne – meine Nummer ist nämlich 69. Josef hat die Nummer 49 ausgefasst, ob er um gleich 20 Plätze im Endranking vor mir liegen wird?
Wie voriges Jahr sind auch heuer wieder Staffelläufer im Dreierformation dabei und eine kleiner Abordnung Walker, die ca. 18 km bewältigen müssen. In Summe sind vielleicht 200 Sportler im Start- und Zielbereich versammelt. Ein Geistlicher betet laut ein Vaterunser, so mancher bekreuzigt sich, ein erfolgreicher Verlauf möge allen Startern beschieden sein. Pünktlich um 9 Uhr geht es los.
Laut Wettervorschau soll es heute nicht allzu warm werden und bis in den Nachmittag niederschlagsfrei bleiben. Ich verzichte auf eine Laufkappe, der Himmel ist bedeckt. Ich stelle mich etwas seitwärts für ein paar Schnappschüsse. Im hinteren Feld liegend nehme ich dann das Rennen auf. Hans und Josef liegen nur 10 m zurück.
Die ersten 1 ½ bis 2 Kilometer führen an der Dorfkirche vorbei auf die asphaltierte Landstraße. Schon nach wenigen Minuten sind die LäuferInnen, geschätzt 120 mit ca. 30 Staffelläufern der Anfangsformation, weit auseinandergezogen. Hinter uns folgen über 20 Walker mit Stöcken. Beim Athen-Marathon habe ich erlebt, wie ein deutscher Geher drei Kilometer vor dem Ziel zum „Endspurt“ ansetzte und Dutzende überholte – mich allerdings nicht.
Der im Vergleich zum Vorjahr unveränderte Kurs zweigt bald darauf von der für den Verkehr kurzeitig gesperrten Landstraße nach rechts ab und führt vorbei an einigen Bauernhäusern auf eine Wiese. Einige Zuschauer sind bei der Abzweigung postiert und applaudieren. Nun folgt ein steiler Anstieg auf Wiesengrund und weiter durch ein Waldstück. Hinter mir kommen noch ein Dutzend langsamere LäuferInnen nach, darunter auch meine beiden Kollegen Hans und Josef. Unmittelbar vor mir bewegen sich einige im Gänsemarsch nach oben. Zu diesen schließe ich auf. Nach ca. 3 km mündet der Wald- und Wiesenweg in eine asphaltierte Straße.
Bei einem Bauernhaus stand in den letzten Jahren immer der von allen geschätzte Ziehharmonika-Spieler. Doch diesmal spielt der alte Herr nicht auf, er ist zwar anwesend, sein rechter Ellbogen ist bandagiert. Ich sage im Vorbeigehen zu ihm, dass ich mich auf seine „Stückln“ so gefreut habe und daher wohl nächstes Jahr wiederkommen muss. Die Nachhut rückt näher, ich orientiere mich an den vor mir Liegenden und versuche auf der nun folgenden nicht zu steilen Asphaltstraße auf sie aufzuschließen.
Nach ca. 5 km ist beim Bergbauernhof der Fam. vulgo Köchl in einer Kurve wie in den letzten Jahren die erste Labestation aufgebaut. Ich mische Cola und Wasser und bleibe nur ganz kurz stehen. Asphalt als Untergrund ist nun für die kommenden 35 km vorbei, nur zum Teil befestigte Wege auf Schotter folgen, es geht über feuchte Waldböden, Wiesen und Erdreich. Trailschuhe mit gutem Profil sind hier definitiv vorteilhaft. Ich liege immer noch knapp vor meinen beiden Kollegen, abschnittsweise reden wir so laut, dass 50 m überbrückt werden.
Nach einer kurzen schnellen Abwärtspassage auf einer Wiese und durch den Wald kommt der Kalksteinbruch der Fa. Omya in Sicht. Jedes Jahr wird die nun folgende Schotterstraße aus Sicherheitsgründen neu gewalzt, damit die schweren Transportfahrzeuge passable Straßenverhältnisse vorfinden und ein Unterspülen der Straße bei starken Regenfällen so unterbunden wird. Für uns Läufer sind die übergroßen Schottersteine auf der Straße ein Erschwernis.
Vor mir sind drei Läufer – die schnappe ich mir, das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Doch nur hundert Meter dahinter kommen schon die Verfolger, das sieht man dann gut, wenn man auf einer längeren Geraden unterwegs ist. Ich beeile mich, die Distanz zu Josef und Hans zu wahren.
Verschwunden sind auf diesem Teil der Strecke durch den Wald die einst riesigen Ameisenhaufen. Dies mag damit zu tun haben, dass infolge des Baumwuchses die warmen Sonnenstrahlen nicht mehr auf die Bauten treffen und die fleißigen Insekten sich eine neue Lichtung suchen. Oder aber durch mutwillige Zerstörung von Menschenhand – wenn ein Geländefahrzeug über den Ameisenhaufen fährt oder Wanderer einfach draufsteigen.
Mitten im Wald wird der 10 km-Punkt erreicht. Meine Uhr zeigt 1:32 Stunden an, bald müsste die zweite Versorgungsstelle kommen. Abschnittsweise sind einige steilere Anstiege auf dem schmalen Wanderweg zu bewältigen. Laufen kann man nicht so richtig, wir marschieren hintereinander. Bei einem Bergmarathon sollte man sich auf die äußeren Bedingungen konzentrieren, sich entsprechend einstellen und mit seinen Kräften haushalten. Der höchsten Punkt der Strecke wird erst bei Kilometer 18 erreicht sein.
Bei der zweiten Labe auf 1450 m Seehöhe nahe der Eiblhütte angekommen, zeigt meine Garmin 1:44 Stunden an, wesentlich schneller war ich auch bei meinen bisherigen vier Antritten in Kainach nie. Eine Zeit unter 7 Stunden ist auch diesmal mein Ziel, voriges Jahr beendete ich den Lauf in 6:55 Stunden.
Es geht weiter hinauf zur auf 1573 m Seehöhe gelegenen Zeißmannhütte. Ich setze mich an die Spitze des Trios. Der leicht ansteigende Waldweg führt weiter auf Almboden vorbei an einer Tränke für das Rindvieh, dessen Bestand im Vergleich zum letzten Jahr sich heuer verkleinert hat. Infolge einiger tödlicher Attacken von Kühen auf Wanderer auf österreichischen Almen wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt und die Tiere z.T. in eingezäunte Weidegebiete verfrachtet. Die Wanderer werden mit Tafeln darauf aufmerksam gemacht, die markierten Wege nicht zu verlassen.
Sobald es flacher wird, überlaufe ich das Trio und habe bald 100 m Vorsprung. Nun geht es über einen abfallenden Schotterweg mit 5:50 min/km gut einen Kilometer talwärts, bevor der eigentliche Anstieg in einer Serpentine auf die Zeißmannhütte erfolgt. Ganz wider Erwarten holt mich der Staffelläufer in Gelb mit weißem Stirnband in leichtem Laufschritt 100 m vor der Hütte noch ein und passiert vor mir mit erkennbarem Grinsen die Zeitnehmung. Ich habe ihn natürlich ziehen lassen, es hat keinen Sinn, sich mit einem Staffelläufer zu duellieren, der nach 14 km „fertig“ ist. Wer ihn abgelöst hat, entgeht mir allerdings. Wäre ja schön, den zweiten Mann vor dem Wechsel noch einzuholen.
Während wir zur Hütte hinauf gekeucht sind, kamen uns noch einige Läufer entgegen, die sozusagen in Reichweite sind. Oben auf der Alm ist viel los – Wanderer, Angehörige der Läufer und zahlreiche Helfer beim Marathon säumen den mit Bändern abgegrenzten Zugang zur Labe. Ein Pfeifton ertönt, als ich die Zeitnehmung bei Kilometer 14 passiere. Nun geht es einige Hundert Meter abwärts, bevor der lange und kräfteraubende Anstieg auf die Roßbachalm zum höchsten Punkt des Marathonkurses auf 1790 m Seehöhe beginnt.
Der steile Anstieg zum höchsten Punkte des Kainacher Bergmarathons ist wohl ein Kriterium, wo man Zeit liegen lässt. Eigentlich sind es ja nur ca. 200 Höhenmeter, die man überwinden muss – ein Klacks im Vergleich zu den klassischen Mountain-Trails bis hinauf auf 3000 Seehöhe.
Ich blicke mich um, nicht zu glauben, der Hans Novinscak holt Meter um Meter auf. Wo nimmt der heute die Kraft her? Ich quäle mich langsam den Berg hoch, der Hans holt mich auf der steilsten Stelle ein. Fehlt nur, dass der Josef auch so locker nachkommt – doch der bleibt bis auf Weiteres zurück. Wir marschieren nun gemeinsam auf z.T. steinigen Gelände am langgezogenen Kamm der Roßbachalm entlang. Es trübt ein, Nebel zieht auf, Wanderer sind keine in Sicht. Wir befinden uns hier auf dem 1970 eröffneten 260 km langen Nord-Süd Weitwanderweg 05, der vom oberen Waldviertel ins Steirische Weinland nach Eibiswald verläuft. Die Roßbachalm fällt in die achte Tagesetappe von insgesamt elf Abschnitten. Hier in unmittelbarer Nähe befinden sich die Sommerweiden der Lipizzaner. Einige der edlen weißen Pferde, die mit einem dunklen Fell auf die Welt kommen und erst mit sieben oder acht Jahren zum Milch-Schimmel werden, habe ich 2015 knipsen können. Touristen bewundern die Tiere in der Spanischen Hofreitschule in Wien beim Dressurreiten.
Die Fernsicht auf die sanften grünen Bergkuppen ist heute wegen Eintrübung leider schlecht. Dennoch sieht man in der Ferne auf den vom Weidevieh ausgetretenen Almpfaden sich vereinzelt voran bewegende LäuferInnen. Bei Kilometer 18 ist der höchste Punkt des Bergmarathons erreicht. Zwei Helfer in rot-schwarzen Anoraks stehen dort, die sich die Startnummern notieren und wohl auch als Einsatzkräfte für den Fall einer Verletzung eines Läufers postiert sind.
Es geht nun zügig abwärts, wobei die Geländestufen ziemlich steil sind und die Übergänge Tiefen von einem Meter und mehr aufweisen. Ich bewege mich vorsichtig nach unten. Nur zu leicht kann man stürzen und sich verletzen. Ich bleibe voran – und rutsche im nächsten Moment auf einem nassen Stein aus. Den Plumpser auf den Hintern federe ich mit seitlich ausgestreckten Händen ab, nichts ist passiert. Wir kommen heil zur 4. Labestation hinunter direkt neben der Wallfahrtskirche Maria Schnee am Gleinalmschutzhaus in 1550m Seehöhe. Seit dem 25. Juli 2012 ist die Gleinalm offiziell in den Jakobsweg Steiermark eingebunden, allerdings sind bis nach Santiago de Compostela noch 2842 Kilometer zu überwinden.
Die Kirche Maria Schnee wurde im Oktober 2004 von einem Blitz getroffen und brannte bis auf die Grundmauern ab, nur der Altar blieb vom Feuer verschont. Im darauffolgenden Jahr wurde sie restauriert und wiederaufgebaut. In der Kirche werden regelmäßig Bergmessen gefeiert. Der 24. August ist ein fixer Termin für die St. Bartholomäus Haltermesse, um sich für einen guten Sommer zu bedanken. Der Almabtrieb erfolgt dann einige Wochen später – wie schnell so ein Sommer vorbeigeht, wird einem mit den Jahren immer deutlicher bewusst.
Hans hält sich wie üblich wieder länger bei der Labe auf. Die Strecke führt nun bildlich gesprochen über Stock und Stein durch den Wald. Bald darauf komme ich alleine zur 20 km-Anzeige – die Streckenmarkierungen und Distanzanzeigen sind gut sichtbar in Gelb gehalten. Ich blicke zurück, niemand folgt mir nach. Vor mir bewegt sich eine Läuferin langsam und vorsichtig über den mit vielen großen Steinen übersäten Waldweg. Einige Wanderer mit Rucksäcken kommen uns entgegen. Ich schließe zur Kollegin vom lokalen Laufclub „Dahoamrunners“ auf. Wir kommen ins Gespräch, sie heißt Sabine und teilt meinen Eindruck, dass dieser Abschnitt voller Tücken ist und man wirklich aufpassen muss, nicht beim Laufen zu stürzen.
Dreieinhalb Stunden bin ich nun schon unterwegs, bald wird die halbe Distanz, die ja wegen der Überlänge des Marathons bei über 22 Km liegt, erreicht sein. Letztes Jahr war die frische Kühle im Wald um die Mittagszeit richtig angenehm, heute ist die Temperatur am Berg und im freien Gelände weitaus niedriger, von Hitze ist nichts zu spüren. Das Streckenprofil des Kainacher Bergmarathons ist nach der Halbdistanz keineswegs nur abfallend – auf schnelle Abwärtspassagen folgen immer wieder kurze, „giftige“ Anstiege, die bremsen.
Auf einer langgezogenen Abwärtspassage überlaufe ich Sabine. Als ich zurückblicke, befindet sich Hans, der Tausendsassa, dicht hinter uns. Wie schafft er das bloß? Ich hatte mehrere Hundert Meter Vorsprung. So bewegen wir drei uns auf einem, wohl seit Generationen bestehenden Almweg mit vielen größeren Steinen und Unebenheiten, der auch für Traktoren breit genug ist, voran. Es folgt ein kurzer Anstieg, auf dem sich das Feld wieder schließt. Es geht auf einem Waldweg weiter, der hinunter zur nächsten Labestation am Tiefsattel bei Kilometer 23 führt. Eine Läuferin im Trail-Outfit, die ich ganz am Anfang des Marathons überholt habe, hat zu uns aufgeschlossen.
Wenn man schon mehrere Male den Kainach-Bergmarathon gefinisht hat, bleiben gewisse Abschnitte gut im Gedächtnis verhaftet. Die nun folgende Strecke führt auf einem breiten Schotterweg leicht aufwärts, bis dann endlich mein Fixpunkt – eine uralte Lärche – erreicht ist. Auf dieser Passage mit viel Gefälle nach unten fühle ich mich stets sehr wohl, es geht richtig schnell dahin. Während ich Sabine und Hans abhängen kann, läuft Tündi aus Ungarn allen davon – es scheint, als hätte sie ihre Kräfte am Anfang des Marathons beim Anstieg geschont.
Die 25 km-Anzeige ist längst vorbei, das nächste Ziel ist die Labestation Krautwasch in 1140 m Seehöhe bei Kilometer 28. Meine Uhr zeigt 4:29 h an. Es macht „klick“, die Laufzeit wurde soeben elektronisch gespeichert. Tündi, die flotte und hübsche Ungarin, ist längst davongeeilt, Sabine und Hans scheine ich vorerst abgehängt zu haben. Ich verweile nur kurz bei der Labe und mische Wasser mit Cola.
Auf einer Schotterstraße geht es nun weiter talwärts. Ich blicke mich um, als ich Applaus bei der Labe vernehme – meine Verfolger, nämlich Hans und Sabine – dürften angekommen sein. Ein Grund mehr, Tempo zuzulegen. Doch hinter mir hat es jemand sehr eilig – es ist ein Staffelläufer, der nach dem zweiten vollzogenen Wechsel ins Rennen geht. Er holt mich ein, ich lasse ihn ziehen.
Es geht durch einen steilen, schmalen Pfad im Gelände abwärts. Ein kleiner Bach ist zu überqueren – vorher gönne ich mir einen Schluck Wasser, das geht auch ohne Trinkbecher. Ein weiterer Läufer nähert sich von hinten, auch ihn habe ich am Anfang des Marathons überholt. Nun zieht er an mir vorbei.
Ich nähere mich der 30 km-Anzeige, laut meiner GPS-Uhr bin ich allerdings schon 31,2 km und 4:53 Stunden unterwegs. Ist die Tafel falsch platziert oder ist ein weiterer Kilometer bei einem überlangen Marathon wie diesen einfach eine sportliche Zugabe? Nach den Abschnitten auf einer Schotterstraße und engen Pfaden im Wald folgt nun eine asphaltierte Landstraße auf dem Wege zur nächsten Labestation Heiliges Wasser auf 910 m Seehöhe. Als ich dort eintreffe, applaudieren die wenigen Zuschauer, doch zu trinken gibt es nichts (mehr). 32 Kilometer sind nun geschafft – und Sabine, die die Zuschauer kennen, kommt immer näher. Dahinter ist Hans und etwas weiter hinten liegend scheint auch Josef heranzukommen. Mein Vorsprung schmilzt.
Es geht steil auf einem rutschigen Waldweg hinunter zur nächsten Labestation beim Jagdhaus, 36,2 km sind erreicht. Man applaudiert und notiert sich meine Startnummer 69. Ein steiler Anstieg auf Asphalt folgt, die grüne Landschaft ist traumhaft. Es geht wieder durch den Wald, die Strecke zieht sich in die Länge. Ich näher mich dem Gedenkstein der Pfarre Geistthal mit der Aufschrift „Alles, was atmet, lobe den Herrn“.
In einer ansteigenden Serpentine geht es durch eine kleine Ortschaft, Hans erhöht die Schrittfrequenz, er liegt nur eine Kurve hinter mir, 100 m hinter ihm folgt Josef nach. Dann drehen sie den Spieß um: sie eilen davon, als ich mir endlich die Zeit nehme, die lästigen und drückenden kleinen Steine und den Spließ aus meinen beiden Schuhen zu entfernen – das kostet Zeit.
Endlich kommt meine Lieblingspassage am Wege nach unten, links des Weges das Marterl, in der Wiese die Werbetafel von Raiffeisen. Es geht steil die Bergwiese hinunter, nahe einem Bauernhaus stehen zwei Helfer, die auf eine rutschige Stelle aufmerksam machen. Ich bleibe beim Brunnen stehen, aus dem ich jedes Jahr trinke.
Wieder erblicke ich eine Hinweistafel, auf der gewarnt wird, den Kühen aus dem Weg zu gehen. Nach dem Abschnitt über einen ausgetretenen Wiesenpfad neben der Weide folgt nun endlich die asphaltierte Straße, die hinunter ins das 2 km entfernte Kainach führt. Bei der Pienegger-Labestation nach 39,5 offiziell gemessenen Kilometern schnappe ich mir zwei Becher Mineralwasser. Das erfrischt und gibt Zuversicht, denn Hans und Josef sind wieder in Sichtweite. Ich laufe phasenweise mit 5:30 min/km, doch statt die beiden einzuholen, nähert sich von hinten ein Staffelläufer.
Wir kommen zur Ortstafel, dahinter die letzte Labe. Ein Schluck Wasser genügt, der nun 30 m vor mir liegende Staffelläufer blickt immer wieder zurück. Soll ich versuchen, ihn einzuholen? Der folgende, fast einen Kilometer lange Anstieg hat es in sich. Ich schone mich für den letzten Kilometer abwärts und dann entlang der Dorfstraße vorbei am Friedhof. Hans und Josef erblicke ich in der Kurve, sie liegen ca. 250 m vor mir. Den Staffelläufer hätte ich fast noch geschnappt – beim Zieleinlauf wäre ich ihm beinahe auf die Schuhe getreten. Mit 6:45:01 bin ich um 10 Minuten schneller als 2016. Hans und Josef haben knapp unter 6:43 gefinisht.
Eine Duschgelegenheit wird in der Schule geboten, nachher treffen sich viele wieder zur Siegerehrung am Dorfplatz, wo für Essen und Trinken bestens gesorgt ist. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, das mit breiten Schirmen überdachte Areal mit den vielen Bänken und Tischen ist aber gut vor der Nässe geschützt. Ich gönne mir ein Grillwürstl und einen weißen Spritzer. Als Zweitplazierter M-60 überreicht man mir einen Korb mit Käseprodukten. Josef wird Erster in der Altersgruppe M-65 und erhält den begehrten Liegestuhl, den man nirgendwo kaufen kann und der nur für den Kainacher Bergmarathon erzeugt wird. Wie jedes Jahr erfreuen sich viele noch Anwesende ihres Tombolagewinns, wir drei gehen da leer aus.
Ich nehme mir fest vor, im nächsten Jahr wieder in Kainach dabei zu sein – i kumm wieda.
Was alles spricht für einen Start beim Kainacher Bergmarathon?
Das niedrige Startgelt bei früher Anmeldung, das Funktionsshirt mit dem Logo des Kurses, die gute Versorgung an den Labestationen, die landschaftlich schöne, tlw. auch schwierige Strecke mit ca. 1800 Höhenmetern und echten Trailabschnitten, die Toleranz der Veranstalter, auf den letzten Läufer auf der Strecke, der nicht aufgibt, auch länger als 7 Stunden, zu warten.
Wer im Ziel mit einer Medaille rechnet, wird enttäuscht. Warum die Organisatoren, die eine einzigartige Tombola mit vielen Sachpreisen zustande bringen, den Läufern die Erinnerungsmedaille hartnäckig vorenthalten, ist schade.
Sieger bei den Männern:
Stefan Schriebl ( AUT) – 03:33:09
Andreas Pfandlbauer ( AUT) – 03:55:36
Oldrich Janecek (CZE) – 04:05:45.21
Reihung bei den Frauen:
Anja Neumann (AUT) – 04:41:43
Gabi Wiesberger (AUT) – 05:02:31
Michaela Six (AUT) – 05:12:36
93 Finisher beim Marathon