Alles ist nass. Klatschnass. Meine Kleidung, meine Schuhe, die Wiesen, die Bäume, die Hänge, alles bedeckt, alles durchdrungen von sich unablässig aus düsterem Himmelsgrau ergießenden, eisig tobenden Schneeflocken.
Berge? Soll es hier angeblich geben, nur sind die im Wolkendach gefangen. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, die Wege sind schneematschdurchtränkt. Es ist so ein Wetter, bei dem man, wie man so schön sagt, keinen Hund vor die Tür jagen würde. Klassisches Kaminofenwetter. Kann da das Laufen überhaupt Spaß machen? Ja - und ob!
Aber der Reihe nach.
Nomen est omen - schon der Name “Tour de Tirol” lässt erahnen: hier handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Lauf, sondern um einen, bei dem erst mehrere Teile das Ganze bilden. Ein richtiger Etappenlauf, wie man es vielleicht vermuten könnte, ist die “Tour” zwar nicht, aber mit dem Konzept 10 + 42 + 21 km, zu bewältigen in drei Tagen und gewürzt mit summa summarum 2200 Höhenmetern - zumindest normalerweise -, hat die Tour de Tirol ihr ganz eigenes und bislang einmaliges Profil im Zirkus der Laufveranstaltungen geschaffen.
2011 werden die Läufer zum sechsten Mal ins tirolerische Söll zu Füßen des Kaisergebirges gerufen. Trotz ihrer Jugend kann die Veranstaltung bereits auf eine erstaunliche Karriere blicken: 2009 war sie mit ihrem Kernstück, dem Kaisermarathon, Austragungsort der Berglauf-Langdistanz-WM, 2010 wurde der Kaisermarathon als Wertungslauf in den erlesenen Zirkel des “Mountain Marathon Cups” aufgenommen, und da tummeln sich mit Jungfrau-, Zermatt und LGT-Alpin-Marathon die creme de la creme der Bergmarathons. Vier Mal gelang es, mit Jonathan Wyatt den weltbesten Bergläufer an den Start zu holen. Drei Mal hintereinander hat er auch die Tour gewonnen, gerade bei der WM 2009 reichte es aber “nur” zu Platz 2 hinter Marc Lauenstein. In Abwesenheit der beiden überrollte 2010 erstmals eine kenianische Laufarmada die Podestplätze. 2011 ist dies nicht zu befürchten: Der ostafrikanische Rennstall glänzt mit Abwesenheit. Dafür haben sich einige Heroen der europäischen Berglaufszene angesagt, etwa Patrick Wieser (CH), Gerd Frick (I), Martin Cox (GB), Helmut Schießl (D) sowie Jasmin Nunige (CH). 638 Teilnehmer sind gemeldet, davon 260 für die Gesamttour.
Ohne Zweifel ist es der Tour de Tirol gelungen, sich in kürzester Zeit zu etablieren und im Berglauf auf der Langdistanz zu Österreichs “Top Act” aufzusteigen.
Das hindert den Veranstalter jedoch nicht, 2011 umfassende Neuerungen einzuführen: So wird die gesamte Veranstaltung noch stärker an den Startort des Marathons in Söll gebunden. Praktisch bedeutet das, dass auch die beiden Rahmenläufe, der 10er und der 21er, in Söll starten und enden und nicht mehr, wie bei den ersten fünf Ausgaben, in Reith und am Walchsee. Die logistischen Vorteile liegen auf der Hand: Man spart sich die zusätzliche läuferische Infrastruktur an diesen Orten, die Läufer müssen nicht mehr hin und her gekarrt werden, auch für die Laufbegleiter wird manches einfacher. Und das hübsche Söll lohnt allemal, es noch stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Nur beim Kaisermarathon hat man alles so belassen wie bisher - zumindest bis kurz vor dem Start. Aber dazu später.
Mit gut 3.500 Einwohnern ist Söll, eingekesselt zwischen den beiden Hausbergen Hohe Salve und Großer Polven, das größte Dorf im Tal. Auch die weiteren sich talaufwärts aneinander reihenden Orte Ellmau, Scheffau und Going haben gerade in der Welt des alpinen Skisports sehr klangvolle Namen. Allen gemeinsam ist die Zugehörigkeit zur “Skiwelt Wilder Kaiser - Brixental”, die sich mit 91 Liften und 279 Pistenkilometern als größtes zusammen hängendes Skigebiet Österreichs rühmt. Nicht zu vergessen und für manche das wichtigste: die 70 bewirtschafteten Hütten. Wobei man im Wilden Kaiser selbst so gut wie gar nicht skifahren kann. Die bis zu 2.344 m üNN aufragenden schroffen Felstürme des unnahbar wirkenden Gebirgsstocks bilden nur die allpräsente Hintergrundkulisse.
Söll erwartet den Ankömmling mit viel rustikalem Tiroler Charme. Ausladende Holzbalkone mit überbordender Blütenpracht zieren einen Großteil der Häuser. Die Barockkirche St. Peter und Paul mittendrin vervollkommnet die Dorfidylle. Doch auch die Zeichen der Tour sind unübersehbar: Absperrgitter, Werbebanner, Fahnen, aufgeblasene Streckenbögen, Plakate. Am südlichen Ortsrand ist ein kleines Zeltdorf aufgebaut, das größte Zelt für die Laufmesse. Darin integriert sind die Startnummernausgabe. Alles ist perfekt organisiert.
Nur mit einem scheint man sich in diesem Jahr nicht richtig abgesprochen zu haben: mit Wetterhüter Petrus. Drei Wochen lang hatte uns ein traumhafter Altweibersommer mit Sonnenschein pur verwöhnt. Ausgerechnet heute, zum Tourstart: Dicke Wolken, Regen, Temperatursturz - tja ..... Da hilft nur ein gewisser Fatalismus. Und als Bergläufer sollte man ohnehin nicht so zimperlich und auf alles gefasst sein.
Bis 2010 hieß das Lauf-“Entre” der Tour noch “Alpbachtaler Zehner” und führte in 4 Runden durch das Dörflein Reith unweit des Schicki-Micki-Dorados Kitzbühel. Aus 4 flachen sind nun 3 nicht mehr ganz so flache Runden mit je 70 Höhenmetern geworden, nur in der Summe bleibt es bei 10 km und auch der Startzeitpunkt am Freitag um 18 Uhr wurde beibehalten.
Gestartet wird mitten im Dorfzentrum, dort, wo sich die beiden Söll durchschneidenden Hauptgeschäftsstraßen kreuzen. Immer mehr Läufer sammeln sich hier am frühen Abend, fast schon winterlich gekleidet. Petrus hat zwar kurzfristig ein Einsehen und gebietet den Regenwolken Einhalt, aber die fünf Plusgrade fühlen sich auch so frostig an. Der Stimmung tut dies freilich keinen Abbruch. Rockige Musik und der Startmoderator heizen die Laune an, durch die umliegenden Gassen wuseln die Läufer, um nicht auszukühlen.