Kurz nach 18 Uhr fällt der ersehnte Startschuss. Typisch für einen 10er geht es gleich flott zu Sache. Die Läufermeute jagt die lange, abgesperrte Gerade durch das Söller Zentrum hinunter, angefeuert von reichlich Publikum. Vorbei geht es am Messezelt neben dem späteren Zielgelände. Und schon sind wir draußen aus dem Ort. Schmale Asphaltwege führen uns westwärts und sodann in einem weiten Bogen durch die Natur um Söll herum. Ab km 1 spüren wir erstmals deutlich die Höhenmeter, das Tempo stockt, wenn auch nur für wenige Hundert Meter. Dann zweigen wir ostwärts auf einen Naturpfad ab, der durch Wiesen und Wälder oberhalb von Söll den Bogen um den Ort fortsetzt. Von fast jedem Punkt unseres Weges haben wir Blickkontakt zu Söll und in der Ferne hören wir die Stimmen und Musik aus den Lautsprecherboxen im Ziel. Für mich ist es das schönste Stück unserer Runde um Söll. Bei km 2 gibt es Gelegenheit zur Erfrischung, allerdings fühlen sich die meisten durch das Wetter erfrischt genug, dann stürzt sich unser Laufkurs - wieder auf Asphalt - in Serpentinen gen Söll hinunter. Ein paar Kurven noch, und schon sind die ersten 3 km geschafft und wir durchlaufen von reichlich Applaus begrüßt wieder die Hauptstraße. Das Erreichen des Messezelts am Ortsrand markiert das Ende der ersten Runde.
Auf der zweiten Runde hat sich das Läuferband schon beträchtlich auseinander gezogen. Die Wolken werden dichter und ab km 5 scheint Petrus das Stillhalteabkommen aufgekündigt zu haben und öffnet wieder einmal die Schleusen. Aber es stört mich wenig. Ich bin warmgelaufen. Man merkt die zunehmende Dämmerung, vor allem in den Waldpassagen. In dem Moment, in dem ich meine zweite Runde beende, saust ein Radler an mir vorbei und im Gefolge der führende Läufer. Er läuft direkt neben mir ins Ziel ein. Der Zielmoderator ist überrascht, denn es ist keiner der ganz bekannten Namen und so wird der Einläufer zunächst einmal nur als Startnummer 284 begrüßt. Es ist der Ungar Adam Kovacs.
Immer düsterer und immer feuchter wird es auf der dritten Runde. Ich bin völlig durchnässt, aber wenn der Laufmotor einmal läuft, stört selbst das nicht mehr. In den Waldstücken erhellen zum Teil grelle Scheinwerfer den Weg und schaffen eine fast schon gespenstische Szenerie. Es ist praktisch finster, als ich den erhöht auf einem Podest thronenden Zielbogen erreiche. Ein paar wackere Zuschauer harren noch aus, aber der Zieleinlauf über den langen roten Teppich geht wetterbedingt doch recht unspektakulär von statten. Jeder versucht so schnell wie möglich ins Trockene zu kommen. Zumindest einige lassen es sich jedoch nicht entgehen, bei einem alkoholfreien Erdinger Weißbier auf das Ende der ersten Etappe anzustoßen. So sehr auch ich dieses Bier nach einem Zieleinlauf schätze: heute verzichte ich freiwillig.
Der Kaisermarathon ist das Herzstück der Tour. Namenspate ist der Gebirgsstock des Wilden Kaiser, der zumindest optisch die Szenerie auf weiten Teilen der Strecke bestimmt, auch wenn diese stets in mehr oder minder respektvollem Abstand verläuft. Die auf der Tour zu bezwingenden Berge, der Hartkaiser (1,555 m üNN) und zum Schluss die Hohe Salve (1.829 m üNN), sind sehr viel softer gestaltet als die schroffen Kaisergipfel. So war es jedenfalls bisher.
Im Jahr sechs der Tour führt der unvorhergesehene Wettersturz mit kurzfristigem Schneefall bis hinunter auf 1.000 m dazu, dass neben den freiwilligen Neuerungen bei den Rahmenläufen auch eine unfreiwillige hinzu kommt: Denn die Veranstalter entschließen sich, auch dem Kaisermarathon ein neues Gesicht zu verpassen. Zwei Tage vor dem Lauf wird im Internet ein modifizierter Einrundenkurs vorgestellt, der auf der ersten Hälfte identisch mit dem bisherigen ist und auf der zweiten die genannten “Problemberge” umkurvt. Erst vor Ort erfahre ich: Alles Makulatur. Der neue Kurs ist ein Dreirundenkurs mit Start und Ziel in Söll, jede Runde bietet stattliche 700 Höhenmeter, die bis nach Hochsöll und zum sogenannten “Hexenwasser” auf 1.234 m üNN hinauf und wieder hinab führen. Insgesamt sind also in etwa so viele Höhenmeter wie auf der Normalstrecke zu bewältigen. Meine erste Reaktion ist nur ein wenig begeistertes “hm”. Ein Scherzbold auf der Messe fragt, wo er seine Startnummer zurück geben kann.
“Wetter: 2 - 6 Grad, den ganzen Tag Regenschauer “ - “Spruch des Tages: Marathon laufen bedeutet, den inneren Schweinhund an die Leine zu nehmen und ihn 42,195 km an der Leine zu führen.”
Mit diesen Worten begrüßt mich am Samstagmorgen die “Gute Morgen Post” am Frühstückstisch im heimeligen Hotel “Gänsleit” in Söll. Der Kaffee duftet, das leckere Frühstücksbüffet lockt, hier geht es mir richtig gut - und hier würde ich am liebsten den Tag verbringen und im wohligen Wellness-Bereich entspannen. Denn beim Blick aus dem Fenster sehe ich nur eines: Dicht über dem Talboden hängende Wolken, aus denen es ohne Unterlass regnet. Und da soll ich Marathon laufen? Der “innere Schweinehund” hat heute etwas von einem Bernhardiner.
Aber da ich nun einmal zum Laufen hier bin und auch noch darüber schreiben möchte, raffe ich mich um kurz nach neun Uhr doch auf, trete hinaus in den Regen und stapfe dem mir schon von gestern vertrauten Startpunkt entgegen. Hier blicke ich auf erstaunlich entspannte, lächelnde Gesichter, die mir zu sagen zu scheinen: Heute wird’s wohl ein bisschen weniger gemütlich. Aber was soll’s: packen wir es an. Mir geht es aber irgendwie genauso und Vorfreude stellt sich ein.
Lange ist nicht so ganz klar, wo konkret überhaupt die Startlinie verläuft. Der wartende Pulk nimmt es gelassen und lässt sich gerne umdirigieren. Keine drei Minuten vor dem Start wird dann die elektronische Messmatte verlegt und das Feld sammelt sich dahinter. Laut schallt die Musik durch den Ort und der launige Startmoderator offenbart ganz freiherzig: “Ihr alle habt meinen Respekt, dass ihr euch das heute antut.”
Dann der Startschuss und los geht es. Wie gestern geht es im Galopp die Hauptstraße von Söll hinunter, begleitet von den Anfeuerungsrufen der wetterfesten Zuschauer. Über die ersten 3,5 km muss ich nicht viele Worte verlieren, denn hier folgt die Strecke derjenigen, die wir schon vom gestrigen Zehner kennen, nur mit einem kleinen zusätzlichen Schlenker oberhalb des Dorfes. Dann sind wir zurück in Söll und werden beim erneuten Kreuzen des Startplatzes abermals lautstark empfangen. Nach dieser Einlaufschleife steht der Hauptteil der ersten Runde an: Der Weg hinauf nach Hochsöll.