„75 + 3500 ./. 3“ – das ist die Formel, nach der man im tirolerischen Söll seit nunmehr elf Jahren überaus erfolgreich den Spaß am Berglauf definiert und inszeniert. Das unter dem Slogan „Tour de Tirol“ praktizierte Konzept ist ein einmaliges in der Berglaufszene: An drei Tagen dürfen die Läufer insgesamt 75 km in der Horizontalen und 3500 Meter in der Vertikalen bewältigen – auf Asphalt, am Berg, im Gelände. Zwischen den Läufen ist jede Menge „more“ angesagt – gemeinsam feiern, gemeinsam relaxen. Selten passt die Charakterisierung als „Laufevent“ so wie hier.
Zwei Mal war ich schon dabei – und ausgerechnet diese beiden Male ist die Formel nicht aufgegangen. 2011 war es ein vorwinterlicher Wettereinbruch, der, erst- und bisher einmalig in der Historie der Tour, dazu führte, dass der Kurs des „Herzstücks“, des Kaisermarathon, verlegt und kurzfristig sogar verkürzt werden musste. 2013 kam ich auf dem Originalkurs immerhin bis km 38,5, ehe es hieß: Das war`s dann mal. Die berüchtigte finale Steilpassage zum Gipfel der Hohen Salve mit 700 Höhenmetern war infolge intensiver himmlischer Bewässerung derart verschlammt, dass ihre läuferische Bewältigung den Organisatoren als nicht mehr zumutbar erschien. Man könnte also sagen: Da hatte ich noch eine Rechnung offen.
Wie sagt man so schön? Aller guten Dinge sind drei. Bezogen auf den Rennverlauf will ich das nicht hoffen. Aber 2016 will ich im dritten Anlauf die Hohe Salve, aus eigener Kraft erklommen, endlich einmal von oben sehen. Ob es geklappt hat? Lest selbst ….
Mittlerweile richtig vertraut ist für mich das Ankommen in Söll. In der Pension Raffeiner, mitten im Ort und doch keine zweihundert Meter vom Start-Ziel-Bereich entfernt, werde ich bereits erwartet. Schon 2013 war diese Pension für mich das ideale Läuferquartier. Wohltuende Ruhe hier, emsige Betriebsamkeit dort, wo das Tour-Event zelebriert wird.
Vor drei Jahren noch schlug das Herz der Tour auf den Wiesen am südlichen Ortseingang. Mit seinen vielen kleinen Zelten und Pavillons, Fahnen und Bannern hatte das „Dorf im Dorf“seinen ganz eigenen Charme. Da sich just hier jedoch ein Supermarkt breit gemacht hat, haben die Veranstalter eine Herzverpflanzung vorgenommen: mitten ins Ortszentrum hinein. Auch nicht schlecht: Direkt vor dem postkartenreifen Lüftlmalerei-Blumenkasten-Idyll des Postwirts ist die Starttrasse angelegt, in den Seitengassen finde ich allerlei Messestände und das Festzelt. In einem malerischen alten Holzstadl ist die Startnummerausgabe untergebracht. Sehr entspannt läuft alles ab - „ois easy“.
Eine regionale Insiderveranstaltung ist die TdT schon lange nicht mehr. Bereits im Juni waren die 500 Startplätze der Gesamttour ausverkauft. Anmeldungen zu Einzelläufen waren noch möglich, aber der wahre TdT-Fan will natürlich das Komplettpaket erleben. Und von diesen Fans gibt es mittlerweile viele. Die kommen übrigens bevorzugt aus deutschen Landen: Satte 46 % beträgt der Teutonenanteil in diesem Jahr. Auch die Berglaufelite gibt regelmäßig ihr Stelldichein: Berglauflegenden wie Jonathan Wyatt oder Lizzy Hawker waren hier schon am Start. Und auch in diesem Jahr sind Topläufer wie Patrick Wieser, Jasmin Nunige und Henry Kemboi, alle nicht zum ersten Mal, dabei.
Wie alle Jahre wieder startet die Tour am Freitag mit einem relativ flachen 10 km-Lauf durch und um Söll herum, kurz und knapp „Söller Zehner“ genannt. Das „relativ“ ist dabei besonders zu betonen. Denn tatsächlich ist der drei Mal zu durchlaufende Kurs mit 106 Höhenmetern je Runde gewürzt.
Gleich der erste Kilometer, nordwärts aus Söll in Richtung Pölven führend, hat es besonders in sich. Vor allem der lange Anstieg vor dem 1 km-Schild ist herausfordernder als es mir lieb ist. Der schönste Streckenteil ist ohne Zweifel der zweite Kilometer, auf dem Naturpfad des sogenannten Sunnseitweg am Fuße des Pölven im leichten Auf und Ab durch Wald, Wiesen und Obstbaumkulturen führend. Ein kräftiger Anstieg schließt diesen Kilometer ab. Die finalen 1,3 km kann man es dann umso mehr laufen lassen. Auf dem sich gen Söll und unserm Ausgangspunkt schlängelnden Asphaltband, mit schönem Panoramablick auf das Dorf und die umliegenden Berge, kommt man in einen richtigen Flow.
Klingt nett, ist es auch. Aber das ist es nicht, was den Lauf bemerkenswert macht. Seinen speziellen Charme bezieht der 10er aus der Atmosphäre, in der er stattfindet. Da ist zum einen der Umstand, dass er just in der Stunde stattfindet, in der der Tag zur Nacht wird. Nach dem Massenstart um 18 Uhr kann man sehr plastisch erleben, wie sich von Runde zu Runde die Schatten der Nacht über die Landschaft legen. Farbige Strahler leuchten den Weg durch die Waldpassagen mystisch aus. Das hat was. Zum anderen ist es die Stimmung im Ort, die wir beim Einlauf zum Ende einer jeden Runde erleben dürfen. In dichtem Spalier erwarten uns die Zuschauer entlang der Straßen, begleiten uns applaudierend und bereiten uns ein rauschendes Finish. Über 600 sind es, die sichtlich euphorisiert heute den Zielbogen queren.
Der Sieger des 10ers ist schon im Ziel, da habe ich noch längst nicht die zweite Runde beendet. Wie nicht anders zu erwarten, rennt Henry Kemboi einmal mehr im „Flachen“ allen anderen davon. Ein vorausfahrender Radfahrer hält ihm den Weg frei. Die Leichtigkeit, in der er an mir vorbei zieht, ist schon faszinierend. Bloß nicht bei diesem „Warm Up“verausgaben: Das ist meine Devise. Und Ausrede. Dem relativ hohen Grundtempo des Kollektivs kann ich mich allerdings doch nicht so ganz entziehen. Das kühle Weißbier ist da die rechte Belohnung, als ich schwitzend endlich durch den Zielbogen ins rummelig-ausgelassene Dorfzentrum einlaufe.
Schon der Name verheißt Großes. Doch ist das Kaiserliche nicht werbliche Übertreibung, sondern schlicht der Umgebung geschuldet. Und die wird dominiert vom Kaisergebirge, konkret vom Gebirgszug des Wilden Kaiser mit seinen bis auf 2.344 m aufsteigenden schroffen Felstürmen. Der Wilde Kaiser ist zwar nicht gerade der Hausberg Sölls, bildet aber gen Osten eine imposante Hintergrundkulisse, der man sich im Verlaufe des Marathons zumindest optisch annähert. Wenn das Wetter mitspielt.
Fast auf den Meter genau so viele Höhenmeter – und zwar 2.345 – hält der der Marathonkurs für uns bereit. An die 200 Höhenmeter weniger waren es noch 2013. Seinerzeit führte der Kurs via Scheffau und Ellmau über reichlich Asphalt bis km 21 erst einmal ziemlich flach dahin, ehe er hinauf zum Hartkaiser und weiter zur Hohen Salve sein Gesicht als Berglauf offenbarte. Das hat sich seit einer Runderneuerung anlässlich des Jubiläumslaufs im letzten Jahr geändert. Weniger Asphalt, mehr Trail lautete die Devise, und das bedeutet auch ein paar Anstiege mehr. Ich bin schon gespannt. Sieben Stunden haben wir dafür Zeit. Bummeln ist da nicht angesagt.