750 gemeldete Starter sorgen für mächtig Trubel am frühen Samstag Morgen. Laute Musik und die markigen Worte des Startmoderators lassen auch den Letzten in Söll wissen, dass heute des Läufers Stunde schlägt. Kalt ist es und ein erster leichter Regenguss vom wolkenverhangenen Himmel erinnert uns daran, dass es heute ungemütlich werden kann. So ist es eine Erlösung, als ein lauter Knall um 8:30 Uhr das kollektive Frösteln beendet.
Noch ganz auf den Spuren der alten Tour sind wir auf den ersten knapp 8 Kilometern unterwegs – hinaus gen Westen und in einer Schleife zurück zum Startpunkt in Söll. Wie Matadore feiern die Zuschauer uns bei unserem Auszug aus Söll. Doch schnell wird es still. Den ersten Kilometer kennen wir schon von gestern: Es ist der lockere dritte im Rundkurs des 10er. Nur laufen wir jetzt in entgegen gesetzter Richtung und das bedeutet: Locker war gestern. Bis zur kleinen Pirkmoos-Kapelle geht es hinauf, dann zweigen wir nach links ab und tingeln in stetigem leichten Auf und Ab meist auf Asphaltsträßchen durch die beschauliche Wiesenlandschaft, vorbei an Obstbäumen und stoisch dreinblickenden Kühen. Die erste richtig knackige Steigung führt uns nach drei Kilometern hinauf zum sogenannten Alpenschlössl, einem großen Wellnesshotel mit „Schlössl“-Ambiente.
Besonders schön sind die folgenden Kilometer auf einem Höhenweg in Richtung Söll zurück. Zumeist auf Naturpfaden geht es durch viel Grün rauf und runter. Vom Waldessaum aus bietet sich uns immer wieder ein schöner Blick ins Tal hinein, zumindest soweit die Wolken etwas preisgeben. Die letzten beiden Kilometer sind die ersten beiden der 10er-Runde. In Gegenrichtung gelaufen sind sie deutlich relaxter. Vom Gefälle beschleunigt düsen wir nach Söll hinein. Trotz des kalten Regens wird uns beim Queren des Ortskerns ein wärmender Empfang bereitet.
Läuferisches Neuland erwartet mich nun. Die Streckenmarkierungen lotsen uns hinauf zum Schattseitweg. Dieser Wanderweg ist sozusagen der Antipode zum Sunnseitweg auf der anderen Talseite. Mal auf asphaltierten Wegen, mal auf schmalen Naturpfaden geht es durch die meist offene Almenlandschaft gen Osten. Ohne Zweifel abwechslungsreich ist die Laufstrecke, so manchem aufgrund der schnellen Wechsel zwischen rauf und runter und damit zwischen Walk und Jog zumindest läuferisch gar ein wenig zu abwechslungsreich. Allemal idyllisch ist der Blick über die Landschaft und hinab ins nicht allzu tiefe Tal. Nur jeglichem Fernblick schiebt die tief hängende Wolkendecke einen Riegel vor.
Erstmals richtig ins Schnaufen kommen wir zwischen km 12,5 und 13,5. Als Singletrail windet sich unser Weg steil durch den Wald hinauf. Schweigend zieht die Kette der Läufer dahin. Knapp schrammen wir die 1000 m-Höhengrenze. Plötzlich öffnet sich der Wald und wir blicken über weite Almwiesen, über die hoch droben die Seile einer Bergbahn ziehen. Das Scheffauer Skigebiet ist erreicht. Im Sauseschritt geht es durch die Wiese hinab, geradewegs einer Verpflegungsstation, der dritten von insgesamt zehn im Kursverlauf, entgegen. Noch beschränkt sich das Angebot auf Basics: Wasser und Iso. Aber je weiter wir kommen, desto üppiger wird die Verpflegung werden. Noch bin ich frisch und gönne mir nur einen flüchtigen Stopp.
Weiter geht es downhill, erst noch recht gemütlich, dann aber immer steiler. Jäh stürzt unser Pfad schließlich in engen Kurven ins Tal hinab. Und ehe wir uns versehen, sind wir kurz hinter km 15 eben dort wieder und blicken auf das gar nicht mehr ferne Scheffau. Höhenmeterbezogen passt mal wieder der Spruch: Wie gewonnen, so zerronnen.
Die nächsten 5 Kilometer zeichnen sich vor allem durch eines aus. Durch einen laaagen Anstieg, gar nicht mal steil, aber sehr beständig. Wald und Wiesen bestimmen die Landschaft, nett, aber auch nicht wirklich spannend. In langen Serpentinen zieht sich schließlich ein breiter Forstweg durch den Wald den Hang hinauf. Zumindest ich habe nicht so richtig Spaß daran. Je höher wir kommen, desto mehr tauchen wir ein in nassen Nebel. Das macht die Szenerie etwas gespenstischer, aber die Aussicht auf das, was uns weiter oben erwartet, trüber.
Exakt 20 km sind zurück gelegt, als ich aus dem Wald hinaus trete und die nahe der Rübezahlalm (1.172 m üNN) positionierte Labestation erreiche. Die weit über 200 Jahre alte Hütte ist eine Berühmtheit und erfüllt alle Klischees einer Bilderbuch-Berghütte. Gesegnet mit einem Traumblick auf den Wilden Kaiser ist sie als Treffpunkt der “Bussi”-Gesellschaft mit hohem Promi-Faktor und Kamerakulisse in der Volksmusikszene etabliert. So die blanke Sommer-Sonne-Theorie. Im feuchtkalten Hier und Jetzt reicht der Blick nur ein paar Meter weit durch das undurchdringliche kalte Wolkengebälk und es ist alles andere als kuschelig.
Kaum einer verharrt, alle drängt es weiter. Als steiler Pfad setzt sich der Weg fort. Wenn schon der Panoramablick ausfällt, so bieten auf den folgenden drei Kilometern zumindest die 22 am Wegesrand in gebührlichem Abstand postieren Holzstelen eine nette Abwechslung. Sie sind ausdrucksstarke Werke der “Motorsägenschnitzkunst” Gerhard Salvenmosers, seines Zeichens im Hauptberuf Wirt der Rübezahlalm. Über den künstlerischen Wert der aus Holzstämmen geschnittenen Konterfeis von Kobolden, Hexen und sonstigen Waldfabelwesen lässt sich sicher streiten. Tatsache ist aber: So etwas mit so grobem Werkzeug wie einer Motorsäge zu schaffen, bedarf schon besonderer Fertigkeiten.
Eine kurze Passage durch dichten Wald haben die Wolken noch nicht ganz erobert. Umso dichter umwabern sie uns aber, als sich der Wald übergangslos und urplötzlich bei km 21 öffnet und wir auf luftigen vegetationsarmen Wanderwegen unseren Anstieg fortsetzen. Nur schemenhaft sehe ich hoch über mir Gondeln einer Seilbahn dahin ziehen. Kein Wunder: Wir sind mitten im Skigebiet, Teil der “Skiwelt Wilder Kaiser - Brixental”, dem größten Skizirkus der Alpenrepublik. Irgendwie frustrierend ist es schon: In den Bergen zu sein und rein gar nichts von diesen zu sehen.
Daran ändert sich auch nichts, als wir nach 22,5 km das Gipfelplateau des 1.555 m hohen Hartkaiser erreichen. Das große Panoramarestaurant muss heute ohne Panorama auskommen. Im Hintergrund sehe ich einen Waggon der Standseilbahn, die direttissima mit teilweise irrwitziger Steigung hinauf zum Gipfel führt.
Das folgende Wegstück durch die Höhenlandschaft ist läuferisch an sich ein Schmankerl für Liebhaber gepflegter Bergtrails. Wenn zur Erschöpfung mangels optischer Inspiration fehlende Laune hinzu kommt, ist der Genuss aber doch nur ein eingeschränkter. Fast schon geisterhaft taucht ein kleiner, exponiert im Berghang liegender See auf, dessen schilfigem Ufer wir ein Stück weit folgen. Viele dieser kleinen Seen gibt es hier. Ihr primärer Zweck ist allerdings ein ganz profaner: Sie dienen als Reservoir zur Beschneiung der zahllosen Pisten.
Wie aus dem Off höre ich in der Ferne lautes Gejohle, Kuhglockengebimmel und eine anfeuernde Lautsprecherstimme. Zu des Rätsels Lösung führt uns eine Schleife bei km 25. Es ist die Tanzbodenalm. Über einen roten Teppich geht es rein in die Hütte und über einen roten Teppich quer über die Terrasse auch wieder raus. Im warmen Vorraum wird jeder Ankömmling überschwänglich und lautstark von den Gästen empfangen und persönlich von einem Moderator begrüßt. Eine wirklich nette, herzerwärmende Idee. Aber schon Sekunden später ist der „Spuk“ vorbei und ich finde mich wieder im einsamen, stillen Nirwana feuchtkalter Wolken.
Noch immer führt der Kurs auf Naturwegen tendenziell nach oben, was ich auch daran merke, dass es immer kälter und zugiger wird. Ohne Handschuhe hätte ich hier ein Problem bekommen. Eine wahre Wohltat ist der heiße Tee, den es an der geschützten Verpflegungsstelle am Jochstub'n See (1.670 m üNN) gibt. Erst nach dem dritten Becher kann ich mich zum Weiterlaufen aufraffen. Vorbei am gleichnamigen, auch für badende und sonnenanbetende Sommerfrischler ausgebauten See wird zumindest das Laufen leichter. Denn es geht tendenziell immer mehr bergab, teils über breite Forstwege, aber auch über ausgesetzte schlammig-rutschige Pfade. Vorbei am Filzalmsee (1.320 m üNN) setzt sich der downhill run auf bequemen Untergrund in langgezogenen Kurven durch den Bergwald fort. Bis km 35.
Dort mache ich erst einmal große Augen. Und das nicht wegen der direkt vor dem Kilometerschild am Waldrand postierten, üppig bestückten Labestation. Sondern wegen dem, was ich sonst so sehe. Und das sind zur Abwechslung mal nicht nur Wolken. Vor meinen Augen breitet sich eine weite, saftig grüne Almlandschaft aus und mittendrin nicht zu übersehen das Hexenwasser. Hinter dem Namen verbirgt sich - weniger geheimnisvoll als er vermuten lässt - eine Art alpiner Freizeitpark mit großem Spielgelände und Themenpfaden für Groß und Klein, ergänzt durch diverse bewirtschaftete Hütten und Liftstationen. An der Liftstation feuern uns einmal mehr gutgelaunte Zuschauer lautstark an. Auch die Zwischenzeit wird genommen. Nach spätestens 5:15 Stunden müssen wir hier passieren, dann schlägt das Cut Off Limit zu. So richtig viel Spielraum habe ich da nicht mehr ….
Aber ich bin nun guten Mutes, heute endlich auch die noch ausstehenden 700 Höhenmeter hinauf zum Gipfel zu packen. Auch wenn das Wetter feuchtkalt und der Gipfel wolkenverhangen ist: Extreme sind wohl nicht mehr zu erwarten, hoffe ich zumindest. Wieder besser gelaunt mache ich mich an die finalen sieben Kilometer.