Wir sind am letzten Basislager, einen Kilometer unterhalb der von Hexensagen umhüllten Hohe Salve angekommen. Es ist der härteste Teil der Tour de Tirol. Ein Berg der Wertung A, besonders steil und anspruchsvoll. Nun liegt er vor uns, der Gipfel. Jeder Schritt wird zur Qual. Jetzt nur nicht hängen lassen, wir kommen kaum voran. Aber auch andere Läufer werden von Krämpfen geplagt. Gemeinsam kämpfen wir uns Meter für Meter nach oben. Ganz anders erleben dies die Paraglider, die kurzfristig für Ablenkung sorgen.
Lautlos gleiten sie am Höhenrücken entlang. Selbst das rote Zaubergebräu des österreichischen Getränkeherstellers beflügelt Kay nicht mehr und es kann doch wohl nur mit dem Teufel zugehen, wenn wir diese letzten Kilometer nicht auch noch zu Ende bringen. Und nur mal so am Rande, wenn dieses hochdosierte koffeinhaltige 60 ml Nahrungsergänzungsmittel nicht mehr hilft, dann vielleicht nur noch ein Wunder. Ein letzter giftiger Schlussanstieg. Da, endlich das Ziel. Wie als Geste der Versöhnung liegt vor uns. Die göttliche Fügung dieser Gebirgsepisode wollte es wohl, dass auch wir den Gipfel irgendwann erreichen, mit einem 60 minütigen Zeitpuffer bis zum Zielschluss. Wie durch ein Wunder wird meine Zeit doch gewertet und ich bleibe im Rennen.
Der Gewinner des „virtuelle“ gepunkteten Trikots ist der Schweizer Patrick Wieser. Das gepunktete Trikot steht bei der Tour de France dem Führenden der Bergwertung zu. Patrick hat aber nicht nur die Führung übernommen, sondern auch einen neuen Streckenrekord aufgestellt. Nach unglaublichen 3:03:26 Stunden lief er ins Ziel. Damit hat er einen über fünf minütigen Vorsprung vor den ehemaligen Kaiser des Kaiser Marathons, Jonathan Wyatt und gar zehn Minuten vor dem gestrigen Erstplatzierten, Adam K. Wohlgemerkt, an einem Berg der ersten Kategorie!
Und bei den Damen? Da steht Jasmin Nunige kurz davor, die Tour de Tirol zu gewinnen. Den wichtigsten Meilenstein dafür hat sie heute gesetzt. Sie kam mit einer ebenso phantastischen Zeit von 3:39:47 Stunden ins Ziel.
brigens, die markante Gestaltung des Bergtrikots (bei der Tour de France) geht auf den französischen Schokoladenhersteller „Chocolat Poulain“ zurück, der seine Schokolade in weißem Papier mit roten Punkten verkaufte und das Trikot ursprünglich sponserte. Obwohl der Sponsor inzwischen gewechselt hat, wurde die Punkt-Optik bis heute beibehalten.
Aber jeder, der die Hohe Salve beim Kaiser Marathon erreicht, ist ein Gewinner und erhält ebenfalls ein Trikot. Zum Glück nicht rotweiß gepunktet aber in frischen Apfelgrün. Da sitzen sie nun, die Finisher in ihren apfelgrünen Trikots und um den Hals eine handgearbeitete Medaille aus Glas. Hergestellt von der 1626 gegründeten Tiroler Glashütte in Kramsach-Rattenberg. Die Tour de Tirol ist eben einzigartig - in allen Bereichen!
Kay‘s Erschöpfung weicht schnell dem Glück, denn diese Live Alpen-TV Panoramaaussicht, lässt einen die Strapazen des Laufes schnell vergessen. All das ist der Kaiser Marathon, mit einer Dramaturgie, die auch schon mal die Emotionen durcheinander rütteln kann. Den Kleiderbeutel erhalten wir direkt nach dem Zieleinlauf. Viele Beutel warten vergeblich auf ihre Besitzer.
Die einmalige Sicht auf die Bergketten mit mehr als 70 Berggipfeln über 3000 Meter haben wir uns heute wahrlich verdient.
Auf der Drehterrasse der Gipfelalm ist kaum ein Sitzplatz frei. Vor uns feierten schon um 1600 die Menschen ihre Sonnenfeste auf dem Gipfel - heuer die apfelgrüne Läuferscharr! Den wenigsten wird dabei auffallen, dass sie auf der Nasenspitze des drei Meter hohen Salvenriesen sitzen. Zwischen all dem bunten Treiben steht unscheinbar das 400 Jahre alte Salvenkirchl - die höchstgelegene Wallfahrtskirche Österreichs. Die tiefstehende Sonne scheint durch ein Kirchenfenster und ein einziger Lichtschein bestrahlt die Heiligenfigur an der Wand im inneren der Kirche. Bereits 1617 wurde der erste Betbruder erwähnt. Er war zuständig für Messdienste und Ausschank. Beim Herannahen eines Gewitters, schwang er eine weiße Fahne um die Talbewohner vor der drohenden Gefahr zu warnen.
Die Sonne brennt heute vom Himmel. Die hässliche Kröte fühlt sich bei mild-feuchtem Klima am wohlsten. Endlich erreicht auch sie nach Jahr und Tag, den Gipfel der Hohen Salve. Die frommen Kirchgänger jedoch wollten das grüne Getier nicht in ihre kleine Kirche lassen. Sie wird mit Fußtritten weggekickt. Sie kämpfte aber und gab nicht auf. Als sie es schaffte, dreimal um den Altar zu springen, verwandelte sich die Kröte in einen Mann. Die verblüfften Beter und Pilger staunten nicht schlecht. Ungläubig lauschten sie seinen Erzählungen vom Räuberleben und seines Freispruches, danach verschwand er und ward nicht mehr gesehen – bis heute.
Mit einer der letzten Gondeln schweben wir hoch über der Laufstrecke hinunter bis zur Mittelstation in Hochsöll. Nur noch einmal umsteigen in die Gondel mit dem Hexenbesen und vorbei an der Stampfanger Kapelle. Bereits nach wenigen Minuten sind wir zurück im Tal.
Wer jedoch das morgige Finale dieses modernen Heimatfilms erleben möchte, muss schnell regenerieren können und bis zum Ende durchhalten.
Der letzte Tag der Tour de Tirol wird noch mal spannend werden. Nach der gestrigen knackigen 42,2 Kilometer langen Etappe steht nun zum Abschluss der 21,095 kilometerlange und flache Halbmarathon im Programmheft. Auf uns warten sieben Runden à drei Kilometer jede Runde mit 6 Höhenmetern.
Der Tag empfängt uns mit Nieselregen und es hat deutlich abgekühlt. Heute treffen wir uns mit den anderen Läufern erst ab 13.00 Uhr am Start. Es ist Sonntag. Zeit zum Ausschlafen, regenerieren, Blasen versorgen und für ein ausgiebiges Frühstück.
Werden die gestrigen Sieger Jasmin und Patrick den Schweizer Gesamtsieg auch ins Ziel laufen? Es könnte knapp werden. Bei der Tour de France wird der Führende im Gesamtklassement auf der letzten Etappe ja nicht mehr attackiert, so ist es Tradition. Hier nimmt aber keiner der Athleten darauf Rücksicht und so wird die Schlussphase noch mal richtig spannend: Denn Jonathan Wyatt kann einen flachen Halbmarathon mal eben so in 1:03 Stunden (!) laufen und wird alles versuchen, seinen Thron zurückzuerobern. Die Präsentation der Spitzenathleten ist selten und erfolgt nach der Gunderson Methode. Dies ist ein Startmodus aus der Nordischen Kombination. Der Norweger Gunder Gundersen entwickelte den Startmodus.
Die Gesamtführenden (Damen/Herren) starten um 13:00 Uhr. Die Verfolger, die weniger als 30 Minuten Rückstand nach zwei Tagen haben, starten mit ihrem angesammelten Rückstand. Diese Methode ist zuschauerfreundlicher und spannender. Um 13:30 Uhr startet das restliche Läuferfeld per Massenstart und Nettozeitnahme. Trotz des Regens ist die Stimmung ausgelassen. Kaum einer lässt es sich entgehen, die Spitzenläufer zu erleben und anzufeuern.
Die Spannung steigt. Wie beim Einzelzeitfahren werden Eliteläufer aus der Startrampe auf die Strecke geschickt. Nach etwas mehr als einer kurzweiligen halben Stunde sind auch wir unterwegs. Trotz „dicker“ Oberschenkel läuft so mancher am dritten Tag auf der Halbmarathonstrecke sogar noch Bestzeit, habe ich gehört. Wir laufen gut behütet, sozusagen im Peloton auf dem sieben Runden langen Kurs. Wie immer wollen wir von hinten gemächlich starten und diese letzte Etappe für uns zu einer Jubel-Etappe mit einem kleinen Plausch, bereits an dieser Stelle feiern. So wie dies bei der Tour de France eben auch üblich ist.
Aber wir haben von gestern noch was gut zu machen und starten daher motiviert. Viel zu schnell setzen sich kleine Ausreißergruppen vom Feld ab. Erst später erkenne ich, dass dies Läufer einer Tagesetappe sind und nicht Gesamt-Tour-Läufer. Das Tempo ist hoch, als wir auf der „Hauptstraße“ von Söll in Richtung Dorfkirche laufen. Die Ruhe am angrenzenden Friedhof ist heute gestört, denn trotz strömenden Regens lassen es sich die Söller nicht nehmen, uns gellend anzufeuern. Die Hohe Salve ist nicht zu sehen, sie liegt versteckt im Nebel. Heute herrschen dort oben 3 Grad Celsius und 60 km/h Windgeschwindigkeit und es hat wieder stärker angefangen zu regnen. Routen, die bei Sonne leicht zu begehen sind, können bei Schnee und Nebel ernste Probleme aufwerfen. Unerwarteter Schneefall zum Beispiel kann schnell die eigenen Fähigkeiten überfordern. Nicht auszudenken was gewesen wäre wenn… Für einen schnellen kurzen Lauf ist es heute jedoch bestmögliches Läuferwetter.
Die vielen immer größer werdenden Pfützen und die immer schwerer werdenden Schuhe, machen auch diese Strecke spannend.
Wir passieren die drei Meter große Glassonne am Kreisverkehr der verkehrsgesperrten Bundesstraße. Nach einigen Metern laufen wir wieder in den Ort. Dort stehen Kilometerschilder 1,4,7,10,13,16,19 - für jede Runde eines. Vereinzelt überholen uns Spitzenläufer. Eine scharfe Linkskurve, vorbei an einer Söller Schule auf einem, Runde um Runde, matschiger werdenden Weg. Verdutzte Blicke der Kühe als plötzlich ein lautstarker Schrei durch die Ortschaft halt, dann noch einer, noch lauter. Die Kühe kauen gelangweilt weiter. Ein weißbesockter amerikanischer Läufer kann nicht mehr folgen. So triefend Nass wie er ist, läuft er an einen elektrischen Weidezaun. Der Schock lässt ihn nun Adrenalin auf Hochtouren produzieren. 2,5,8,11,14,17,20 auf jeder Runde wird uns Wasser und flüssiges Leistungskonzentrat gereicht. Unüberhörbar hallen die Musik und die Namen derer, die das Ziel erreicht haben, zu uns herüber.
Alle Kräfte mobilisieren auf der letzten halben Runde in Richtung Tour de Tirol Dorf. Mit den letzten verfügbaren Körnern geht es über den roten Teppich und die Rampe mitten durchs Ziel. Längst herrschen dort pure Emotionen. Manchen treibt es Freudentränen in die Augen. Zwischen zwei glücklichen Läuferinnen berlinert unablässig ein Finisher: "Dett is janz großet Kino hier, janz groß!". Ob Kay lächelt, kann ich nicht erkennen, da sein Mund nach drei Tagen ohne Rasur von einem wilden Bart überwachsen ist. Wir freuen uns über einen weiteren gemeinsamen Zieleinlauf nach 73 Kilometern bei der Tour de Tirol, gerade deshalb, weil es manchmal anders kommt als man vorher denkt.
Noch völlig benebelt von all der Gefühlsduselei bekommen wir ein leuchtorangefarbenes JOL Stirnband (passend zu unseren m4you Shirts) und eine große JOL Tasche in die Hand gedrückt und die Sieger einen Glaspokal. Den zweiten Glaspokal erhält tatsächlich auch in diesem Jahr Jasmin Nunige. Sie bleibt konkurrenzlos, gewinnt souverän alle drei Etappen und ist damit auch die Gesamtsiegerin bei den Damen.
Jonathan hat seinen Kaiserthron nicht zurückerobern können. Mit einem Vorsprung von über acht Minuten und einer Gesamtzeit von 4:45:54 Stunden gewinnt der Schweizer Patrick Wieser die Tour de Tirol. Jonathan belegte den 2. Platz mit einer Zeit von 4:54:19 Stunden und Adam in 4:55:10 Stunden. Bester deutscher ist Hans Mühlbauer mit einer Zeit von 5:41:03 Stunden und erreicht damit den 9. Gesamtplatz. Beste deutsche Läuferin ist Catherine Bayer-Klier. Sie belegt Platz 6 mit einer Zeit von 6:59:08 Stunden.
Rekorde, Rekorde, Rekorde! Ein Rekordläufer am Start, Rekord-Teilnehmerzahlen und ein Strecken-Rekord beim Kaiser Marathon. Das Konzept muss stimmen. Die Tour de Tirol ist ein modernes und trendiges Reality-TV-Angebot, welches der Läufer nicht nur passiv konsumieren, sondern selbst, interaktiv, beeinflussen kann und die Läufe sind, wie auch im Film, Jahr für Jahr beliebig wiederholbar. Die Tour hat den „Oskar“ verdient.